| # taz.de -- App für Trauernde nach Todesfall: Helferlein im überlasteten Syst… | |
| > Nach dem Tod einer Angehörigen fühlen sich viele Trauernde | |
| > alleingelassen. Die App „Grievy“ soll helfen. Eine App ersetzt allerdings | |
| > keine Therapie. | |
| Bild: Hilfe in der Einsamkeit? Eine App ist den Trauernden jederzeit zugänglich | |
| Eine kleine winkende Hand ist das Erste, was die Nutzer*innen in der App | |
| „Grievy“ sehen. Erwidert man den Gruß, stellt die Trauer-App Fragen: Wen | |
| hast du verloren? Was beschäftigt dich gerade am meisten: die Reaktion | |
| anderer auf deinen Verlust oder die Herausforderung, nach dieser Erfahrung | |
| den Alltag zu meistern? Oder quält dich innere Leere? | |
| Dieses Jahr sind schon Zehntausende Menschen in Deutschland gestorben, sie | |
| werden vom Statistischen Bundesamt erhoben, doch [1][die Angehörigen | |
| bleiben unsichtbar]. So ging es auch Nele Stadtbäumer, als ihr Vater starb. | |
| Die 28-Jährige stieß bei ihrer Suche 2019 auf Trauergruppen, doch für junge | |
| Leute gab es kaum ein Angebot. Die Gruppen waren zudem meist für verwitwete | |
| Menschen. „Das ist eine andere Verlusterfahrung. Viele Trauergruppen | |
| starten auch zu einem bestimmten Zeitpunkt geschlossen, damit eine | |
| Vertrauensatmosphäre entsteht. Wenn das gerade der Fall war, muss man | |
| warten“, sagt sie. | |
| Das Thema Trauer beschäftigt Stadtbäumer nicht nur als Betroffene, sondern | |
| auch [2][aus wissenschaftlicher Sicht]. Im siebenköpfigen Team der | |
| Grievy-App, die sie gemeinsam mit zwei Kollegen gegründet hat, bringt sie | |
| als studierte Psychologin Fachwissen mit. | |
| Noch befindet sich die App in der Testphase, in den kommenden Tagen soll | |
| sie in den App-Stores verfügbar sein. Sie soll je nach Abomodell zwischen 9 | |
| und 15 Euro im Monat kosten. Im Gegensatz zu einer Therapie, [3][die oft | |
| mit langen Wartezeiten verbunden ist], soll die App Trauernden jederzeit | |
| zugänglich sein. „Wir haben viele junge Mütter unter unseren Testenden, die | |
| ihren Partner verloren haben. Sie nutzen die App, wenn die Kinder im Bett | |
| sind. Dann ist zwar endlich mal Ruhe, aber auf einmal bricht auch gerade | |
| deshalb die Welt zusammen“, sagt Stadtbäumer. Doch können Apps wie Grievy | |
| wirklich eine Alternative zur Psychotherapie sein? | |
| ## Nicht alleinige Lösung | |
| Die Inhalte sind tatsächlich wissenschaftlich fundiert: Die App basiert auf | |
| der kognitiven Verhaltenstherapie, der Akzeptanz- und Commitment-Therapie | |
| sowie der Traumatherapie. Neben Kursen bietet die App die Möglichkeit, | |
| Tagebuch zu schreiben, außerdem einen SOS-Bereich mit Audios zu Atemübungen | |
| und Meditationen. Zusätzlich werden Notfallkontakte der Telefonseelsorge, | |
| der Krisenchat sowie die Notrufnummer eingeblendet. „Dieser Bereich ist | |
| wichtig, wenn die Trauer wieder akut hochkommt oder der Verlust noch nicht | |
| lange her ist. Dann geht es ja nicht darum, an der Trauer zu arbeiten, | |
| sondern um die Stabilisierung der Person in diesem Moment“, so Stadtbäumer. | |
| Sie sieht in der App auch eine Chance, das strapazierte Therapiesystem | |
| präventiv zu entlasten, indem häufigen Folgeerkrankungen wie Depressionen | |
| oder Angststörungen vorgebeugt wird. | |
| Für Psychotherapieforscher Lasse Sander kann eine App allein aber nicht die | |
| Lösung sein. Er sagt: „Wir brauchen eine bessere und klügere Finanzierung | |
| für psychische Gesundheit.“ Sander arbeitet schwerpunktmäßig zum Thema | |
| E-Mental-Health, genauer gesagt zu digitalen Gesundheitsanwendungen (DIGA) | |
| für psychische Gesundheit. Bekommen diese ein Zertifikat vom Bundesinstitut | |
| für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArm), können sie verschrieben und | |
| von der Krankenkasse bezahlt werden. Sie gelten als begleitete | |
| Interventionen. | |
| ## Persönliche Betreuung angestrebt | |
| Wenn App-basierte Angebote für psychische Störungen unbegleitet sind, | |
| ordnet Sander sie kritisch ein: „Wir wissen aus der Forschung, dass | |
| digitale Interventionen als reine Selbsthilfe deutlich weniger wirksam | |
| sind. Es braucht zumindest eine kleine menschliche Komponente.“ Für ihn | |
| liegt die Chance von DIGA darin, dass ein*e Psychotherapeut*in in | |
| Zukunft mithilfe digitaler Zusätze in der gleichen Zeit mehr Menschen | |
| behandelt, nicht in reiner Selbsttherapie. „In einer App klärt niemand | |
| etwaig bestehende ernsthafte psychische Probleme ab. Wäre die Person besser | |
| irgendwo anders aufgehoben oder braucht es zusätzliche Maßnahmen?“, sagt | |
| Sander. | |
| Und das stimmt. Wer unbegleitet Apps für die psychische Gesundheit nutzt, | |
| ist selbst dafür verantwortlich, wann und ob die durch die Konfrontation | |
| mit der Trauer ausgelösten Gefühle zu viel werden. Doch auch in einem | |
| System mit durchschnittlich 40 Tagen Wartezeit auf ein Erstgespräch und 142 | |
| Tagen bis zum Therapieplatz werden Leute alleingelassen. Stadtbäumer ist | |
| sich der Leerstelle bewusst. Sie sagt, man strebe künftig auch eine | |
| persönliche Betreuung der Trauernden in der App an. Bislang gibt es diese | |
| noch nicht. | |
| ## „Zu wenig Geld“ | |
| Potenzial sieht Sander beim Einsatz digitaler Angebote in jedem Fall. In | |
| Workshops bildet er Psychotherapeut*innen und Ärzt*innen aus, um | |
| digitale Interventionen in die Behandlung zu integrieren. „Die | |
| Kolleg*innen haben einen erheblichen Aufwand damit, sich mit DIGA | |
| vertraut zu machen. Dafür gibt es viel zu wenig Geld“, sagt er. Ohne | |
| adäquaten finanziellen Ausgleich für Behandler*innen sieht der | |
| Psychotherapeut kein allzu schnelles Vorankommen in der Digitalisierung der | |
| psychotherapeutischen Versorgung. | |
| Auch [4][datenschutzrechtliche Bedenken] bremsen laut Sander aus. | |
| „Datenschutz ist wichtig, aber sollte 100-prozentige Datensicherheit immer | |
| das oberste Kriterium sein? Da geht es dann doch eher um die kriminelle | |
| Aneignung der Daten. Wenn man sich ansieht, was die Menschen über Social | |
| Media und Smartphones häufig unwissend alltäglich für kommerzielle Zwecke | |
| preisgeben, dann kann das nicht das letzte Argument sein, die Möglichkeit | |
| der Innovation zurückzuhalten.“ Registerdaten, wie sie in anderen Ländern | |
| zur Verfügung stünden, böten enormes Potenzial für die aktuelle Forschung. | |
| Stadtbäumer sieht das ähnlich. Daher erhebe Grievy diagnostische Daten von | |
| Trauernden, beispielsweise, wen sie verloren haben und wann, um die Kurse | |
| zu personalisieren: „Wir erheben keine personenbezogenen Daten. Wenn man | |
| eine Antwort eintippt oder einen Eintrag ins Tagebuch macht, sehen wir das | |
| nicht. Das ist privat und bleibt lokal auf dem Telefon der Nutzenden.“ Auch | |
| Apps mit DIGA-Zertifikat müssen Datenschutzstandards erfüllen. | |
| Letztlich geht es um moderne Wege für psychische Gesundheit. Laut Sander | |
| habe ein großer Teil der Bevölkerung irgendwann Bedarf an einer | |
| Psychotherapie, nachgefragt würde sie nur von einem Bruchteil. Apps wie | |
| Grievy ersetzen zwar nicht die klassische Psychotherapie. Sie können aber | |
| niederschwellig dafür sorgen, dass man sich mehr Gedanken um die eigene | |
| psychische Gesundheit macht. Und führt der Weg zunächst über eine App und | |
| nicht über einen Antrag auf Therapie, spricht das dafür, dass sich an den | |
| langen Wartezeiten und dem Papierkram des Systems endlich etwas ändern | |
| muss. | |
| 16 Mar 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Stefanie Schweizer | |
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