# taz.de -- Social-App Letterboxd: Filmtagebuch und Datenhändler | |
> Auf Letterboxd kann man Filme bewerten und kommentieren. Doch das | |
> Unternehmen verkauft seine Nutzerdaten auch an die Filmindustrie. | |
Bild: Nach dem Kinobesuch wird der Film auf Letterboxd „geloggt“ | |
Einen Netflix- oder Prime-Stream kann man sich nicht wie eine DVD ins Regal | |
stellen – man kann ihn aber „loggen“. Oft ist es auch das erste, was | |
Menschen tun, nachdem sie aus dem Kino kommen: Das Handy zücken, das | |
Gesehene auf einer Skala von eins bis fünf Sternen bewerten und die | |
Sichtung verzeichnen. | |
Die App Letterboxd kann ein persönliches oder öffentliches Filmtagebuch | |
sein, sie fungiert in letzterem Fall gleichzeitig als digitale Version | |
eines Sammlerregals und ist nicht zuletzt ein soziales Netzwerk mit allem, | |
was dazu gehört: Likes, Kommentarspalten und einem Feed, der anzeigt, was | |
andere gesehen und kommentiert haben. | |
Deshalb stieg die Zahl der Nutzer*innen vor allem in der Zeit der | |
Lockdowns stark an. Während die Kinos geschlossen waren, haben Filmfans den | |
Austausch über die Kunstform vermisst. Inzwischen haben über zehn Millionen | |
Menschen ein Letterboxd-Profil. Anfang 2020 waren es noch weniger als zwei | |
Millionen. | |
## Digitale Version eines Sammlerregals | |
Nun ist das Unternehmen verkauft worden. 60 Prozent gehören seit September | |
einer kanadischen Holdinggesellschaft namens Tiny. Die Führung wird mit den | |
neuseeländischen Entwicklern [1][Matthew Buchanan und Karl von Randow] die | |
selbe bleiben. | |
Andrew Wilkinson, einer der Gründer von Tiny, versicherte gegenüber der New | |
York Times, es seien keine Veränderungen am Geschäftsmodell geplant, das | |
allein auf Werbeplatzierungen und den kostenpflichtigen Pro-Accounts mit | |
einigen Sonderfunktionen basiere. Damit verschweigt er eins: Das | |
Unternehmen verfügt über große Mengen an Daten über das Sehverhalten seiner | |
Nutzer*innen, die für die Filmindustrie nützlich sein können, und bereits | |
verkauft werden. | |
Letterboxd ist etwa nach Filmpremieren bei Festivals der erste Ort, wo in | |
Echtzeit, schneller als in der Presse, Reaktionen erscheinen. Durch die | |
„Watchlist“-Funktion der App kann man einschätzen, wie hoch die Vorfreude | |
auf einen Film ist. | |
## Individuelle Empfehlungen in Arbeit | |
Es gebe ein Backend-Tool, das diese Informationen der Filmindustrie | |
ausspielen kann, wenn sie dafür bezahlt, so der bei Letterboxd beschäftigte | |
Business-Stratege David Larkin gegenüber dem Online-Magazin TheWrap. Das | |
Tool würde etwa vom Criterion Channel und von Searchlight Pictures bereits | |
in Anspruch genommen. Dabei sei es noch nicht ganz fertig entwickelt. | |
Es ist also zu vermuten, dass sich die Verträge mit Filmvertrieben und die | |
Einnahmen aus verkauften Daten vermehren werden. Auch Letterboxd selbst | |
will seine gesammelten Daten verstärkt nutzen: Ein Algorithmus, der | |
individuell zugeschnittene Empfehlungen macht, so wie man es [2][von | |
Spotify] oder Youtube kennt, ist in Arbeit. Da sich die Benutzeroberfläche | |
seit 2011 kaum gewandelt hat, wäre das eine deutliche Veränderung. | |
Was es zu bewahren gilt: Das Diskussionsklima auf Letterboxd ist im | |
Gegensatz zu anderen Social-Media-Plattformen trotz wachsender Community | |
weitestgehend gesund geblieben. Zwar kann man auf die Kommentare anderer | |
antworten und Dinge ausführlich ausdiskutieren, aber es vergreift sich | |
selten jemand im Tonfall. | |
## Nicht nur für Kinoliebhaber | |
Die Letterboxd-Community setzt sich längst nicht mehr nur aus Cinephilen | |
zusammen. Dafür ist ausgerechnet Popstar [3][Taylor Swift] zum Symbol | |
geworden. Ihr aktueller Konzertfilm „The Eras Tour“ hat eine höhere | |
Durchschnittsbewertung als der Filmklassiker „Citizen Kane“. Swifts | |
Musikvideo zum Song „All Too Well“ war letztes Jahr gar eine Zeit lang der | |
bestbewertete Film der Plattform. Aktuell führt das 1962er Samurai-Drama | |
„Harakiri“ – ein deutlich weniger gemeinverständlicher Film. | |
In der Letterboxd-Community koexistieren Cinephilie und Mainstream bereits. | |
Sie ist bereit, mit alten Helden zu brechen und neue zu feiern. Wer sich | |
anmeldet, um den Swift-Film zu bewerten, kann „Citizen Kane“ oder | |
„Harakiri“ entdecken. Die Filmkultur wird davon profitieren – sofern das | |
Unternehmen seiner nutzer*innenfreundlichen Linie treu bleibt. | |
2 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.nytimes.com/2023/09/29/business/media/letterboxd-new-owner.html | |
[2] /Gegen-das-System-Spotify/!5802229 | |
[3] /Remake-von-Taylor-Swifts-Album-1989/!5966575 | |
## AUTOREN | |
Mathis Raabe | |
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