| # taz.de -- Stellenwert von psychischer Gesundheit: Therapie darf kein Privileg… | |
| > In Deutschland ist es schwer, an einen Platz für Psychotherapie zu | |
| > kommen. Darf man sich trotzdem freuen, wenn mal eine Sitzung ausfällt? | |
| Bild: Ausgefallene Therapiestunde? Kein schöneres Gefühl, als wenn unverhofft… | |
| Als ich neulich um 8.15 Uhr bei meinem Therapeuten vor der Tür stand und | |
| mir dessen Frau sagte, ich hätte mich im Datum geirrt, fühlte sich das kurz | |
| an wie damals in der Schule, wenn unverhofft die erste Stunde ausfiel. Ein | |
| grenzenloses Gefühl der Freiheit. | |
| Abgelöst wurde es aber sogleich vom schlechten Gewissen: Darf ich mich | |
| darüber freuen, dass etwas ausfällt, was anderen verwehrt bleibt? Stellte | |
| ich früher den Nutzen infrage, zur Schule gehen zu müssen, wurde sogleich | |
| an mein Gewissen appelliert: „Kinder anderswo wären froh, wenn sie zur | |
| Schule gehen könnten.“ War mir damals die Dimension des Privilegs Schule | |
| noch nicht bewusst, [1][ist es mir die des Therapieplatzes heute durchaus]. | |
| Denn bei Weitem nicht jede*r, der*die einen Therapieplatz benötigt, | |
| bekommt auch einen. Jedenfalls nicht sofort. Wartezeiten können inzwischen | |
| bei sechs Monaten oder mehr liegen. Für Menschen in psychischer Notlage ein | |
| Albtraum. Man stelle sich vor, mit gebrochenen Knochen oder einer | |
| Entzündung monatelang auf eine Behandlung warten zu müssen. Warum wird der | |
| psychischen Gesundheit also nicht derselbe Stellenwert eingeräumt? | |
| Zwar erhält das Thema mittlerweile mehr Aufmerksamkeit, verbessert hat sich | |
| die Behandlungslage aber nicht. [2][2012 berichtete Spiegel]von Wartezeiten | |
| bis zu 80 Tagen, heute sind wir schon bei über einem halben Jahr. Dabei | |
| wächst der Bedarf stetig: Seit der Pandemie stieg die Zahl der Anfragen für | |
| eine psychotherapeutische Behandlung um rund 40 Prozent. | |
| ## Falsche Planung | |
| Das Problem sei nicht der Mangel an Therapeut*innen, betonte der Präsident | |
| der Bundespsychotherapeutenkammer, Dietrich Munz, unlängst im „ZDF Magazin | |
| Royal“. Doch nicht ausreichend viele von ihnen seien im kassenärztlichen | |
| System zugelassen. Denn damit die Kosten für eine Therapie von der | |
| Krankenkasse übernommen werden, braucht es einen sogenannten Kassensitz, | |
| und die sind rares Gut. Die Schwester eines Freundes zahlte satte 80.000 | |
| Euro für einen solchen. Viele junge Therapeut*innen müssen sich hierfür | |
| erst mal verschulden, wenn denn überhaupt einer frei wird. | |
| Wie viele Sitze es geben darf, besagt die sogenannte Bedarfsplanung. Vor | |
| über 20 Jahren festgelegt, orientierte sie sich nach der | |
| Einwohner*innenzahl einer bestimmten Region, nicht aber nach der in | |
| ihr lebenden Anzahl erkrankter Menschen. „Die Bedarfsplanung plant am | |
| Bedarf vorbei“, [3][schreibt Krautreporter] und bringt das Problem auf den | |
| Punkt. Zwar gab es mittlerweile kleinere Reformen, aus denen heraus neue | |
| Kassensitze entstanden sind, der tatsächliche Bedarf konnte aber eben | |
| bislang nicht gedeckt werden. | |
| Um meine Frage vom Anfang zu beantworten; natürlich sollte ich mich freuen | |
| dürfen, wenn sich unverhofft mal eine freie Stunde auftut, und sei es durch | |
| eine ausgefallene Therapiestunde. „Genießen“ kann ich das aber erst, wenn | |
| ein Therapieplatz kein Privileg mehr ist. | |
| 26 Feb 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Nutzen-einer-Therapie/!5825164 | |
| [2] https://www.deutschepsychotherapeutenvereinigung.de/index.php?eID=dumpFile&… | |
| [3] https://krautreporter.de/3782-es-gibt-genug-psychotherapieplatze-warum-ist-… | |
| ## AUTOREN | |
| Sophia Zessnik | |
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