| # taz.de -- Psychotherapie in Deutschland: Was kostet die Couch? | |
| > Wenn Therapeutinnen nicht nur Privatpatientinnen und Selbstzahlerinnen | |
| > behandeln wollen, brauchen sie einen Kassensitz. Nur: Dieser kostet viel | |
| > Geld. | |
| Bild: Therapieplätze gelten in Deutschland als Luxusgut: Ob das bei Sigmund Fr… | |
| Eine lustige Kolumne könnte sich damit beschäftigen, was man in Deutschland | |
| alles kaufen kann. Platz eins diese Woche: Das Recht sich um das seelische | |
| Wohl anderer zu kümmern. Fast 50 Prozent der Patientinnen mit psychischen | |
| Erkrankungen mussten während der Coronapandemie über einen Monat auf ein | |
| Erstgespräch warten. | |
| Ein solches Gespräch bedeutet aber noch lange nicht, dass sie einen | |
| Therapieplatz bekommen. Das Problem dabei ist nicht, dass es zu wenige | |
| Therapeutinnen gibt, sondern dass zu wenige das Recht haben, | |
| Kassenpatientinnen zu behandeln. Und wie das so ist mit knappen Gütern, | |
| wird dieses Recht auch noch privat versteigert. 40.000 Euro. So viel muss | |
| die Psychoanalytikerin Nicole Spitzer zahlen, wenn sie in Göttingen | |
| Patientinnen von gesetzlichen Krankenkassen behandeln will. Moderne | |
| Wegelagerei nennt sie es wütend. Rechtlich ist es eine Grauzone. | |
| Kassensitze sind Lizenzen, die die Halterin dazu berechtigen, in einem | |
| bestimmten, von der örtlichen Kassenärztlichen Vereinigung (KV) | |
| abgegrenzten Gebiet Kassenpatientinnen abzukassieren. Der gemeinsame | |
| Bundesausschuss der Ärztinnen entscheidet für ganz Deutschland, in welchen | |
| Bezirken wie viele Ärztinnen aus welchen Fachgebieten notwendig sind, um | |
| die Versorgung zu gewährleisten. Gemäß dieser Planung vergibt die KV dann | |
| Kassensitze, ursprünglich umsonst. | |
| Nur: Sind die Kassensitze einmal vergeben, werden sie nur im Falle einer | |
| Überversorgung wieder einkassiert. So eine Überversorgung liegt bei | |
| Psychotherapeutinnen selbst in Großstädten fast nie vor. Das bedeutet, dass | |
| die Kassensitzhalterinnen, wenn sie aufhören zu arbeiten, ihren Sitz | |
| weitergeben. Offiziell geht der Kassensitz zurück an die KV und der | |
| Zulassungsausschuss – bestehend aus ungefähr 12 Ärztinnen und | |
| Krankenkassenvertreterinnen – teilt ihn neu zu. Faktisch kriegen die | |
| Halterinnen aber eine Liste mit Namen von möglichen Nachfolgerinnen, denen | |
| darauf spezialisierte Anwälte dann Angebote unterbreiten. Ein Kassensitz | |
| kostet in Berlin ungefähr 80.000, in Köln 60.000 Euro. | |
| ## Der Verkauf ist illegal | |
| Im Sozialgesetzbuch ist die Weitergabe von Kassensitzen geregelt. Unter | |
| anderen Ärztinnen ist es üblich, eine Ablöse zu zahlen, weil mit dem Sitz | |
| auch Praxis, Stammpatientinnen, Equipment und Personal weitergegeben | |
| werden. Bei Therapeutinnen sieht die Sache anders aus. Die wenigsten geben | |
| eigene Praxisräumlichkeiten weiter und Stammpatientinnen oder Personal | |
| schon mal sowieso nicht. Das heißt, die 80.000 Euro Ablöse sind einzig und | |
| allein für die Lizenz, Kassenpatientinnen abzurechnen. Diese Lizenz ist | |
| aber ein öffentliches Gut und ihr Verkauf ist illegal, wenn dabei nicht | |
| auch ein materieller Wert weitergegeben wird. | |
| Auf [1][change.org läuft im Moment eine Petition] gegen die hohen Preise | |
| von therapeutischen Kassensitzen von jungen Therapeutinnen aus Köln. Die | |
| Preise führten zu einer sozialen Selektion unter den Therapeutinnen, von | |
| denen viele [2][nach der teuren Ausbildung] keine 60.000 Euro mehr [3][auf | |
| der Tasche haben]. Die zweite Forderung der Petition ist es den Besitz an | |
| Kassensitzen pro Therapeutin auf einen einzigen zu begrenzen. Bisher ist es | |
| möglich mehrere Kassensitze zu besitzen, um Angestellte auf ihnen arbeiten | |
| zu lassen. | |
| In medizinischen Versorgungszentren werde jungen Therapeutinnen dann | |
| vorgeschrieben, die Patientinnen möglichst gewinnbringend zu behandeln, so | |
| die Petitionsführer. Nicole Spitzer geht noch weiter. Sie verlangt, den | |
| Verkauf von Kassensitzen endlich faktisch zu verbieten. Sie selbst lehnte | |
| schon mehrmals einen ab, weil sie nicht bereit ist, bei dem Geschacher | |
| mitzumachen. Wer sich gegen die Praxis zur Wehr setzt, muss aber mit | |
| Konsequenzen rechnen. | |
| „Ich wurde auch schon von einer Verkäuferin angerufen, die mich angeschrien | |
| hat, ich würde sie um ihre Rente bringen“, erzählt Nicole Spitzer empört. | |
| „Schon als wir dazu aufriefen, einen fairen Preis zu beachten, gab es einen | |
| Shitstorm von Kollegen und deren Rechtsanwälten gegen die Kammer“, | |
| berichtet auch Pilar Isaac-Candeias aus dem Vorstand der | |
| Psychotherapeutenkammer Berlin. | |
| ## Eine hohe Selektion | |
| Wie alle ohne Kassensitz, kann Spitzer nur Privatpatientinnen und | |
| Selbstzahlerinnen behandeln: „In der Regel ist es wenig problematisch, die | |
| Praxis vollzukriegen. Man hat dann aber eine hohe Selektion: Andere soziale | |
| Schichten als Ärzte und Lehrer, die das aber auch dringend brauchen, sehe | |
| ich dann nicht mehr.“ Auch in die andere Richtung wird natürlich | |
| selektiert: „Es ist zu befürchten, dass auch aufseiten der Therapeuten | |
| viele Teile der Bevölkerung in ihrer Lebenswirklichkeit gar nicht mehr | |
| repräsentiert sind.“ | |
| Die generelle Unterversorgung treibt auch die Kassensitz-Preise für die | |
| Therapeutinnen in die Höhe. Es gibt weniger Sitze als Therapeutinnen. Aber | |
| auch weniger Sitze als Patientinnen. Das zeigte zuletzt [4][ein Gutachten | |
| der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München von 2018]. 1.157 neue | |
| Kassensitze waren darin mindestens empfohlen. Im Mai 2019 kamen, nach | |
| Verhandlungen zwischen Vertreterinnen der Krankenkassen und der Ärztinnen, | |
| dann 776 neue Sitze dazu. Dabei sind keineswegs alle Ärztinnen überzeugt, | |
| dass es zu wenige Therapieplätze gebe. „Nein, zu wenige gibt es nicht. Die | |
| Gruppe der Psychotherapeuten ist die am stärksten gewachsene Fachgruppe | |
| überhaupt“, meint Roland Stahl, Pressesprecher der Kassenärztlichen | |
| Bundesvereinigung (KBV). Die langen Wartezeiten lägen vor allem an | |
| ineffizienter Allokation. | |
| Das Problem ist, dass die KBV nur die Ärztinnen vertritt, die schon einen | |
| Kassensitz haben. Das heißt, durch die Praxis des Verkaufs hat eben jener | |
| Interessensverein, der im gemeinsamen Bundesausschuss die Ärztinnen und | |
| Patientinnen gegen die Krankenkassen vertreten soll, einen ökonomischen | |
| Anreiz, die Anzahl der Kassensitze gering zu halten. Denn je weniger | |
| Kassensitze es gibt, desto mehr wert sind die bereits vergebenen | |
| Kassensitze der Mitglieder der KBV. Nicole Spitzer fordert deshalb, die | |
| Deckelung der Kassensitze aufzuheben. Damit würde die Unterversorgung und | |
| ganz nebenbei auch der Verkauf von Kassensitzen endlich ein Ende finden. | |
| Ärztinnen und Patientinnen würden sich dann auf dem freien Markt finden. | |
| Ließe man die Kassensitze unbegrenzt, würden sich die psychischen | |
| Erkrankungen schließlich nicht vermehren. Das genau scheint aber die Sorge | |
| des Verbands der Krankenkassen zu sein, dessen Pressereferent, Helge | |
| Dickau, betont: „In einer Marktwirtschaft generiert ein Angebot auch eine | |
| Nachfrage. Solche Marktmechanismen wollen wir im Gesundheitswesen nicht.“ | |
| Sowohl der Zusammenschluss der KVs als auch der der Krankenkassen weisen | |
| darauf hin, dass ohne Deckelung die Unterversorgung in den | |
| strukturschwachen Gebieten noch zunehmen würde. Wer wirklich an den | |
| Marktmechanismus glaubt, kann dieses Argument freilich nicht gelten lassen. | |
| Denn das Angebot würde die Therapeutinnen schließlich doch in die | |
| strukturschwachen Gebiete ziehen, wenn in den Großstädten die Nachfrage | |
| gedeckt wäre. | |
| ## Es gibt Möglichkeiten | |
| Isaac-Candeias von der Therapeutenkammer fürchtet, [5][die Krankenkassen | |
| würden als Reaktion auf die plötzlich] ungedeckelte Nachfrage die | |
| Therapiezeiten verkürzen und die Versorgung wäre dann für die, die es am | |
| nötigsten brauchen, nicht mehr umfangreich genug. „Die haben ja eine | |
| schwere Angst davor, dass ‚der Psycho-Kram‘ ihnen aus dem Ruder läuft.“ | |
| Um den Verkauf zu stoppen, gibt es aber noch andere Möglichkeiten. Zum | |
| Beispiel könnte man das Rückzugsrecht einschränken. Einmal ausgeschrieben, | |
| wird der Kassensitz auch vergeben. Das würde den Hebel der Halterinnen | |
| gegenüber den potenziellen Käuferinnen verkürzen. Auch denkbar ist eine | |
| „weiche“ Lösung, meint Isaac-Candeias. Das heißt zum Beispiel, eine | |
| kollegiale Absprache zu fairen Preisen. | |
| Auf jeden Fall muss jetzt gehandelt werden. „Eigentlich schon vor vier | |
| Jahren“ sagt Spitzer, denn je mehr Kolleginnen für ihre Kassensitze schon | |
| gezahlt haben, desto schwieriger würde es diese Praxis abzuschaffen. Die | |
| stellvertretende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, Kirsten | |
| Kappert-Gonther von den Grünen, erklärt zu mindestens die bereits | |
| festgestellte Unterversorgung solle möglichst bald beseitigt werden. Ein | |
| solcher Schritt würde auch die Preislage am Kassensitzmarkt wieder | |
| entspannen. Aber ein Markt wird es bleiben. „Es ist ungerecht, aber wir | |
| leben im Kapitalismus …“, kommentiert Isaac-Candeias trocken. | |
| 22 May 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.change.org/p/chancengleichheit-f%C3%BCr-junge-psychotherapeut-i… | |
| [2] /Studiengang-Psychotherapie/!5577174 | |
| [3] /Studiengang-Psychotherapie/!5575352 | |
| [4] https://www.g-ba.de/downloads/39-261-3493/2018-09-20_Endbericht-Gutachten-W… | |
| [5] /Kritik-an-Kassenplaenen/!5062323 | |
| ## AUTOREN | |
| Hanno Rehlinger | |
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