| # taz.de -- Umgang mit negativen Gefühlen: Bitte kein Zwangsoptimismus | |
| > Ich jammere gerne und oft auch mit guten Gründen. Bitte stört mich nicht | |
| > mit der Idee, jeden Scheiß als Chance zu feiern. | |
| Bild: Es gibt ihn wirklich: Den Club der Optimisten – samt Smiley als Logo | |
| Es ist vielleicht eine negative Eigenschaft, aber ich jammere bei guten | |
| Freunden (m/w/d) gerne ein bisschen herum. Ich will dann nicht, dass jemand | |
| meine Probleme löst oder mich tröstet. Ich will einfach nur ein bisschen | |
| quengeln – über Postshops oder Hautärzte oder so. Mich nervt es sogar, wenn | |
| andere mich mit unerwünschten Ratschlägen drangsalieren, obwohl ich selber | |
| dazu neige, diese zu geben. | |
| Man soll mich beim lustvollen Lamentieren auch bitte nicht mit | |
| Zwangsoptimismus stören. Für Galgenhumor dagegen bin ich immer offen – aber | |
| jeden Scheiß ernsthaft als Chance zu feiern, um mich dadurch selbst zu | |
| optimieren? Nö! | |
| Ich habe eine Freundin, die kann das kaum ertragen. Als unsere Tochter | |
| Olivia letztes Jahr schwer krank war, mochte ich nicht mehr mit ihr | |
| sprechen, weil sie mich jedes Mal aufforderte, auch noch etwas Schönes zu | |
| erzählen: Optimismus ist doch so wichtig für die Gesundheit. Sie selber hat | |
| immer etwas Schönes zu erzählen, nämlich, dass es ihr wegen diesem oder | |
| jenem bis gestern sehr schlecht ging, aber seit heute sieht sie alles | |
| positiv, macht alles ganz anders, und es geht ihr richtig toll damit. | |
| Ich habe neulich einen schönen Anglizismus dafür gelesen: [1][Toxic | |
| Positivity]. Weil man in den (a)sozialen Medien durchgängig vermittelt | |
| bekommt, dass man mit der richtigen Einstellung (und den richtigen | |
| Produkten) dauerhaft glücklich sein müsste, verdrängt man negative Gefühle | |
| und findet am Ende sogar Beleidigungen anderer Leute oder den untreuen | |
| Partner noch richtig super, weil einen das ach so sehr weitergebracht hat. | |
| Ich jammere lieber. Eine andere Freundin von mir lächelt übrigens zu meinem | |
| Mimimi und bezeichnet es als Psychohygiene. DAS nenne ich Optimismus! | |
| Als es mir mal wirklich schlecht ging, bin ich ein Jahr lang zu einer sehr | |
| netten Psychotherapeutin gegangen, die mir beim Klagen lauschte, ohne mich | |
| mit „Hausaufgaben“ zu nerven wie: „Bis nächste Woche nehmen sie sich ein… | |
| Abend nur für sich.“ Ich habe trotzdem mein Leben ein bisschen verändert – | |
| aber nicht alles und schon gar nicht sofort. | |
| Im vergangenen Jahr habe ich im Zusammenhang mit der | |
| [2][Long-Covid-Erkrankung unserer Tochter] dann mit ein paar mehr | |
| Psychologinnen und Psychologen gesprochen, als mir lieb war. Ausweinen | |
| durfte ich mich da leider nicht, obwohl ich – selbst von außen betrachtet – | |
| gute Gründe dafür gehabt hätte. | |
| Vielmehr fühlte ich mich, als würde ich vor einem Standgericht den Beweis | |
| für die seelische Gesundheit meiner Tochter antreten müssen. Die | |
| Inquisitoren führten sowohl meine Therapie, als auch die Besuche mit | |
| unserer Tochter fünf Jahre zuvor bei einer Kinder- und Jugendpsychologin | |
| ([3][wegen einer Leserechtschreibschwäche]) als Beweisstücke für eine | |
| psychische Störung meines Kindes an. Dabei sollte man sich doch viel mehr | |
| Sorgen machen um die Familien, die sich keine Hilfe holen. Ich habe gar | |
| keine Berührungsängste mit psychiatrischen Diagnosen – nur, wenn sie falsch | |
| sind, wird falsch behandelt – das ist doch das Problem. | |
| Einmal hat ein Therapeut uns übrigens geraten, Komplettausraster unserer | |
| Kinder als „Exklusive emotionale Beziehungsangebote“ zu werten. Das finde | |
| ich sehr schön! Der Mann hat echt Humor, das hilft selbst bei Hausaufgaben | |
| – oder wenigstens bei den dazugehörigen Amokläufen. | |
| Sogar über die Psychologin, die meinte, meine Tochter sei nur mir zuliebe | |
| krank geworden, um mir den unbewussten Wunsch zu erfüllen, sie zu pflegen, | |
| kann ich heute manchmal lächeln. (Auch für diese Theorie gibt es übrigens | |
| einen Anglizismus, er lautet: „[4][Bullshit].“) Aber manchmal jammere ich | |
| auch noch darüber. Und apropos: Mein Jammern darf ebenfalls als exklusives, | |
| emotionales Beziehungsangebot verstanden werden. | |
| 18 Feb 2023 | |
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| [1] https://www.barmer.de/gesundheit-verstehen/psyche/psychische-gesundheit/tox… | |
| [2] /Long-Covid-bei-Kindern/!5891848 | |
| [3] /Erfolgreich-aufgeschobene-Arbeit/!5906291 | |
| [4] /Die-kleine-Wortkunde-Bullshit/!5080805 | |
| ## AUTOREN | |
| Birte Müller | |
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