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# taz.de -- Elendsbilder aus der Hochhaussiedlung: Deutschland braucht Neukölln
> Nach den Silvesterkrawallen in Berlin dominieren Getto-Bilder die
> Berichterstattung. Kaum einer beachtet den Drogenhotspot im
> Kleingartenidyll.
Bild: Blick in den Schulenburg Park mit Märchenbrunnen
Berlin taz | Nach Silvester war das Geschrei groß – junge Männer hatten die
Polizei und Rettungskräfte in Berlin beschossen, es kam zu größeren
Gewaltausbrüchen. In Berlin-Schöneberg gab es bereits zwei Tage vor dem
Jahreswechsel eine „Böller-Randale“ (RBB), diese wiederholte sich am
Folgetag.
Und auch in der Umgebung der Neuköllner Sonnenallee kam es wiederholt zu
unkontrollierten Feuerwerksexplosionen. An den Abenden vor und auch nach
Silvester klirrten oft die Scheiben, wenn giggelnde Jugendliche Knallkörper
zündeten, deren Handel in Deutschland eigentlich verboten ist.
Vandalismus wurde allerdings ebenso aus Charlottenburg oder Mitte gemeldet.
Die Polizei und die Feuerwehr berichteten, dass sie in der Silvesternacht
in ganz Berlin beschossen worden sei, ja teilweise sogar in Hinterhalte
gelockt, es wurden mehr als 40 verletzte Polizisten nach Angriffen und 159
Festnahmen gemeldet.
Doch als die vielen, oft dramatischen Vorfälle aus dieser Nacht gerade erst
bekannt wurden, wussten nicht nur jene Fanatiker, die alle schlechten
Ereignisse jenen anhängen wollen, die sie rassifizieren, sogleich, wo die
Krawalle vor allem stattfanden und wer sie anzettelte.
## Schnelle Analysen
[1][Auch die Bundesinnenministerin Nancy Faeser] hatte alles sofort
analysiert und twitterte am 4. Januar: „Wir müssen gewaltbereiten
Integrationsverweigerern in unseren Städten die Grenzen aufzeigen: mit
harter Hand und klarer Sprache.“ Zwar schränkte sie danach ein: „Aber ohne
rassistische Ressentiments zu schüren. Wer die notwendige Debatte ausnutzt,
um auszugrenzen, löst das Problem nicht, sondern verstärkt es.“ Das Wort
von den „gewaltbereiten Integrationsverweigerern“ war da allerdings schon
in der Welt.
Woher Faeser wusste, wer vornehmlich gewalttätig war, ist weitgehend ihr
Geheimnis geblieben –, denn die Orte, an denen böse geböllert wurde, waren
über die Stadt verteilt, die Berliner Innensenatorin Iris Spranger stellte
bereits am 2. Januar fest: „Brennpunkte bildeten sich in Schöneberg,
Kreuzberg, Mitte, Neukölln und Charlottenburg.“ Und der Tagesspiegel
meldete am 11. Januar unter der Überschrift [2][„Es war nicht nur
Neukölln“], dass es eben nicht nur Faesers „Integrationsverweigerer“ war…
die randalierten.
Doch da war es bereits zu spät, waren die Bilder verfestigt: Am 6. Januar
etwa besuchte die Sozialdemokratin Faeser Rettungskräfte.
Selbstverständlich in Neukölln. Begleitet wurde sie von der Regierenden
Bürgermeisterin, Franziska Giffey, ihrer Parteifreundin. Faeser nutzte die
Gelegenheit, um vor großem Medienauftrieb noch mal den
„Migrationshintergrund“ der Randalierer herauszustellen.
[3][Die CDU erkannte auch sogleich den Schreckensort Neukölln als Ursache
des Übels.] Noch am 16. Januar veranstaltete die Boulevard-Postille B.Z.
einen [4][„Brennpunkt-Spaziergang mit Jens Spahn durch Neukölln“]. Mit
jenem Spahn also, der zuvor in den Silvesterkrawallen „ungeregelte
Migration, gescheiterte Integration und fehlenden Respekt vor dem Staat“
miteinander kombiniert sah, als ergäbe das irgendeinen Sinn.
## Ohne Hochhäuser geht's nicht
Die Bilder waren gesetzt. Viele Artikel hatten als Bild für die Gewalt ein
ausgebranntes Fahrzeug an der Sonnenallee gezeigt, im Hintergrund, hinter
einer Bahnbrücke, sind noch Hochhäuser zu erahnen. Es sind Bauten der
Weißen Siedlung, diese wird von Sonnenallee, Dammweg, Aronsstraße und
Dieselstraße eingerahmt und ist „im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus in den
1970er Jahren als Großsiedlung“ entstanden, wie die Senatsverwaltung für
Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen auf ihrer Website mitteilt. Sozialer
Wohnungsbau, alle wissen, was das heißt: Elend und Probleme.
Und Drogen? Natürlich Drogen. Im August 2016 fragte die B.Z. alarmiert:
[5][„Wird die Weiße Siedlung zu Berlins neuem Drogen-Hotspot?“] Im Artikel
heißt es: „Warum gerade hier? Zirka 90 Prozent der Jugendlichen in den
weißen 70er-Jahre-Hochhäusern hat einen Migrationshintergrund, viele haben
keine Berufsausbildung, keine Perspektive.“ Gegenüber der Weißen Siedlung
befindet sich die Agentur für Arbeit Berlin Süd. Es ist wirklich nicht
hübsch hier.
Entsprechend fragte der Abgeordnete [6][Joschka Langenbrinck (SPD)] im
April 2016 in einer „Kleinen Anfrage“ nach dem Drogenhandel rund um die
Weiße Siedlung.
Die Senatsverwaltung für Inneres und Sport antwortete ihm, dass dem Senat
bekannt sei, dass im Wohnquartier Köllnische Heide, das „die Wohngebiete
Weiße Siedlung und High-Deck-Siedlung, den Von-der-Schulenburg-Park, die
Kleingartenkolonie Volksgärten den S-Bahnhof Köllnische Heide sowie einige
kleine Plätze und Grünflächen“ umfasst, „an verschiedenen Örtlichkeiten…
Handel mit und dem Konsum von Betäubungsmitteln (BtM) nachgegangen wird,
verstärkt im Nahbereich des S-Bahnhofs Köllnische Heide, am Venusplatz, im
Von-der-Schulenburg-Park und im Bereich der Kleingartenkolonie
Volksgärten“.
Hoppla, im Park mit „Märchenbrunnen“ und in den „Volksgärten“? Nicht …
im Getto, das wir „4-Blocks“-Gucker alle sofort in den Wohnblöcken sehen?
## Lage, Lage, Lage
Die Senatsverwaltung erklärt, warum: „Im Bereich der Kleingartenkolonie
(KGA) Volksgärten wurden 2015 unter anderem Pflanzen und Büsche im Bereich
des Venusplatzes zurückgeschnitten, um im Sinne einer städtebaulichen
Kriminalprävention bessere Sichtachsen zu schaffen.
Diese Reduzierung von Abschirmungen führte, verbunden mit den verstärkten
polizeilichen Einsätzen, zu einer Verlagerung der Handelstätigkeiten in den
Bereich der KGA. Diese stellt aufgrund ihrer ruhigen Lage und Struktur mit
vielen Zugängen/Fluchtwegen, gutem Sichtschutz und vielen
Bunker-/Versteckmöglichkeiten einen attraktiven Handelsort für
BtM-Händlerinnen und Händler dar.“
Horror-Dealer-Bunker im Kleingarten! Weiß Faeser das? Erschaudert Spahn? Wo
ist die B.Z.? Sie kommen nicht. Denn das Bild passt, haha, nicht ins Bild.
Das Stückchen Neukölln an der Sonnenallee, in dem der Senat den
Drogenhandel wahrnimmt, ist nicht so beliebt bei den sensationslüsternen
Kameras, nicht so leicht beschreibbar für klischeebesoffene Reporter.
## „Zu viele Beispiele für gescheiterte Integration“
Das Bild muss schließlich stimmen, muss jenes sein, das man sich vorab
gemacht hat. Die B.Z.-Kollegen Thomas Block und Roman Eichinger starten
ihren „Brennpunkt-Spaziergang“ mit Jens Spahn daher am Hermannplatz: „Wir
biegen rechts ab auf die Sonnenallee. Eine 4,9 km lange Straße, auf der
sich Berlin ein bisschen anfühlt wie Beirut. Die meisten Werbeschilder
haben arabische Schriftzeichen.“
Und Jens Spahn weiß, obschon er – „ist aber schon ein paar Jahre her“ �…
nur selten hier war, unmittelbar: „Es gibt hier viele Beispiele für
gelungene Integration.“ Und weiß ebenso sofort: „Es gibt hier aber eben
auch zu viele Beispiele für gescheiterte Integration, junge Männer etwa,
die hier an Silvester alles kurz und klein schlagen wollten, auch das, was
ihre Mitmenschen aufgebaut haben.“
Könnte er das vor dem süßen Von-der-Schulenburg-Park sagen, fiele ihm
dergleichen vor den idyllischen Volksgärten ein? Das ausgebrannte Fahrzeug
an der Sonnenallee, das man nach Silvester oft auf Fotos sah, stand
übrigens genau vor dem „Venusplatz“, einer kleinen Grünfläche, daran eher
bürgerlich wirkende Häuser. Warum muss die Kamera so angestrengt noch einen
Zipfel Weiße Siedlung einfangen, wenn doch der Platz so nahe liegt? Warum
lässt sich Spahn im „Beirut“ der Sonnenallee fotografieren, und nicht dort,
wo’s gebrannt hat?
## Die Erklärungen sind einfach. Einfach rassistisch.
Der Blickwinkel entscheidet hier. [7][Das Bild stand vorher fest], es muss
dann im Falle des Fahrzeugwracks nur noch nachinszeniert werden. Denn ist
das Problem in Neukölln, bleiben die Brennpunkte Schöneberg und
Charlottenburg aus dem Fokus, und die dortigen Probleme für Menschen in
Dahlem oder Bonn unsichtbar.
Liegt das Problem im „Beirut“ der Sonnenallee, sind die „Erklärungen“
einfach und einfach rassistisch. Das Bild bleibt, egal, wie wahr es ist.
Deutschland braucht das Klischee von Neukölln, Berlin braucht das Klischee
von der Sonnenallee, damit niemand etwas tun muss. Damit alles so scheiße
bleibt, wie’s ist.
12 Feb 2023
## LINKS
[1] /Als-Konsequenz-aus-Silvesterkrawallen/!5906266
[2] https://www.tagesspiegel.de/berlin/es-war-nicht-nur-neukolln-hier-gab-es-di…
[3] /Debatte-um-Berliner-Silvesterkrawalle/!5903400
[4] https://www.bz-berlin.de/berlin/neukoelln/brennpunkt-spaziergang-mit-jens-s…
[5] https://www.bz-berlin.de/archiv-artikel/wird-die-weisse-siedlung-zu-berlins…
[6] https://spd-neukoelln.de/personen/joschka-langenbrinck/
[7] /Debatte-ueber-Silvesternacht/!5905139
## AUTOREN
Jörg Sundermeier
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