| # taz.de -- Debatte über Silvesternacht: 38 Spätpubertierende | |
| > Seit Silvester wird über Integration diskutiert. Wo bleibt die Debatte | |
| > über Nazis, die zeitgleich Polizisten und Rathäuser angegriffen haben? | |
| Bild: Seit Silvester unter anderem im Fokus: High-Deck-Siedlung in Berlin-Neuk�… | |
| Alles, was im nachfolgenden Meinungsbeitrag steht, wurde schon gesagt, | |
| geschrieben, gemeint – mal plump wie eine Arschbombe, mal elegant wie Roger | |
| Federers einhändige Rückhand. | |
| Texte, die damit beginnen, dass zum Thema X alles schon x-mal gesagt worden | |
| ist, sind ebenfalls x-mal geschrieben worden. Mal präziser, mal bissiger, | |
| mal treffender, mal schöner, mal ausholender, mal von prominenterer Seite. | |
| Texte, die so beginnen, handeln in den allermeisten Fällen von Rassismus. | |
| Oder davon, dass man sich in Deutschland ein drittes Auge zu wünschen | |
| scheint, dass man zudrücken kann, wenn Nazis eine Stadt kurz und klein | |
| kloppen, eine Synagoge angreifen, Menschen erschlagen, erschießen, | |
| attackieren, in einen Hinterhalt locken. | |
| Aus Energiespargründen heizen seit Jahresbeginn Medien und Politiker statt | |
| ihrer Heizung die Stimmung gegen Jugendliche mit Migrationshintergrund an. | |
| Beide Sportgruppen zeichnen sich durch zwei Wettkampfziele aus: bloß nicht | |
| zu viel Energie darauf verschwenden, erst mal zu recherchieren, was Sache | |
| ist. | |
| Und um jeden Preis den Verdacht loswerden, dass man sich ein drittes Auge | |
| wünsche, um es zuzudrücken, wenn Jugendliche mit Migrationshintergrund | |
| Frauen attackieren, mit Messern hantieren, sich dem IS anschließen. | |
| Tagelang wurde von SPD bis CDU, von taz bis Bild ein [1][Gewaltproblem | |
| unter Jugendlichen in Berlin-Neukölln und Hamburg-Wilhelmsburg | |
| thematisiert], von Experten seziert, und die üblichen Forderungen wurden | |
| gestellt: „Aufklärung, und zwar schonungslos!“, „Es ist nicht rassistisc… | |
| die Täter zu benennen“, „Verurteilung der Straftäter! Und zwar schnell und | |
| konsequent!“. | |
| Als stünde es Spitz auf Knopf, dass in Deutschland Straftäter nicht | |
| verurteilt werden, als diskutierten wir nicht seit Jahren darüber, dass | |
| auch Einwanderer kriminell sein können. Als hätte nicht jeder mediale | |
| Beitrag über das Berliner Silvester jemanden mit orientalischem Haar und | |
| Namen interviewt, der sagt: „Ja, ist sehr schlimm hier mit der Gewalt. Aber | |
| ich hab das mit Mehmet schon besprochen. Dagegen müssen wir echt was tun.“ | |
| Eine Woche lang hatte man das Gefühl, das Land stehe kurz davor, den | |
| Notstand auszurufen. Aber irgendwer merkte dann doch noch, dass nicht der | |
| Bundestag von einem enthemmten Mob aus Neuköllner Jugendlichen gestürmt | |
| worden war, sondern das brasilianische Regierungsviertel von rechten | |
| Anhängern des abgewählten Präsidenten. | |
| Allerspätestens nach der Mitteilung der Polizei am Montag hätte es für | |
| hysterisierte Kommentare und Anschuldigungen vor allem Entschuldigungen | |
| hageln müssen. Gerade mal 38 Leute waren an Silvester in Berlin wegen | |
| Böllerattacken auf Polizisten und Feuerwehrleute festgenommenen worden. Die | |
| Mehrheit unter 21 Jahre. Zwei Drittel davon Deutsche. | |
| Aber nichts dergleichen. Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) | |
| sprach bei seinem Neujahrsempfang von einem „enthemmten Mob“ und davon, | |
| dass Feuerwehr, Sanitäter und Polizei „die Prügelknaben für Frustrierte“ | |
| seien, die Berliner CDU will weiter die Vornamen der Festgenommenen wissen | |
| und der Chef der Bundes-CDU sprach im Fernsehen von „kleinen Paschas“, | |
| „Leute, die in Deutschland nichts zu suchen haben“ und „mangelnder | |
| Integration“. | |
| ## Die Arschbombe unter den Silvesterdebatten | |
| Die [2][SPD-Bürgermeisterin der Hauptstadt nutzte die Debatte als | |
| Wahlkampfauftakt] und organisierte innerhalb weniger Tage einen | |
| „Jugendgipfel“, der am Mittwoch die Erkenntnis brachte, dass man mehr in | |
| pädagogisches Personal investieren müsse. | |
| Auch wenn es die SPD-Vertreter*innen geschickter hinkriegen. Hinter | |
| „Jugendliche“ und „enthemmter Mob“ kann sich schließlich jeder selbst | |
| überlegen, wer damit gemeint ist. An Nazis denken nur die, die überhaupt | |
| mitbekommen haben, dass an Silvester im sächsischen Borna 200 Nazis | |
| Polizisten beschossen und das Rathaus zerdeppert haben. | |
| Wegen 38 böllernder Spätpubertierender ängstigen sich deutsche Medien und | |
| Politik vor der Zertrümmerung unserer stabilen Demokratie. 200 böllernde | |
| Nazis, die ihren Sturm aufs Kapitol im Kleinen üben, sind dagegen noch | |
| heute eine Randnotiz. | |
| Denn: „Waren es wirklich Nazis, die in Borna Polizisten beschossen? Was wir | |
| wissen und was nicht.“ „Wie groß waren die Schäden am Rathaus in Borna | |
| wirklich?“ Lass erst mal sorgfältig prüfen, bevor wir das größer fahren. | |
| Es spricht alles dafür, dass Medien und Politik immer wieder prüfen, ob und | |
| wo mit zweierlei Maß gemessen wird, wo es Lücken gibt, Nachbesserungen und | |
| Recherchen braucht. Solange es aber keine genauso aufgeregte Debatte über | |
| die Vorfälle in Borna oder einen Nazigipfel gibt wie über Neukölln, stimmt | |
| was mit der Überprüfung nicht. | |
| Dass am Tag des „Jugendgipfels“ die Antirassismusbeauftragte der | |
| Bundesregierung ihren Bericht vorstellt, in dem sie sich dem anschließt, | |
| was viele Einwanderer fordern würden: mehr unabhängige Beschwerdestellen | |
| einrichten; es klingt wie eine nicht mehr ganz so taufrische Nummer linker | |
| Fernsehkabarettisten: Die Bundesregierung bietet Einwanderern mehr | |
| Möglichkeiten, an Rathaustüren zu klopfen, um sich zu beschweren, während | |
| Nazis die Rathäuser abfackeln. | |
| Die Silvesterdebatte wird als Arschbombe in die Geschichte der | |
| Silvesterdebatten eingehen. Respekt vor denen, die es dagegen mit Roger | |
| Federers einhändiger Rückhand hielten. | |
| 12 Jan 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Doris Akrap | |
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