# taz.de -- Friedlich leben in Charlottenburg: Keine Spritzen auf dem Boden | |
> Intakte Fahrradwege, wenig Geschimpfe und entspannte Menschen, die | |
> Zeitung lesen. In Charlottenburg entdeckt unsere Kolumnistin das bessere | |
> Neukölln. | |
Bild: Alles sauber im Bezirk Berlin-Charlottenburg | |
Normalerweise, wenn ich aus dem Haus gehe, muss ich darauf achten, nicht | |
angerempelt zu werden oder selbst jemand anzurempeln. Es ist laut, ein | |
Autofahrer beschimpft einen Radfahrer oder andersrum. Die Polizei steht | |
vermutlich vor einer [1][Shishabar] oder das Ordnungsamt fährt bedrohlich | |
Patrouille. | |
Doch seit einigen Wochen starte ich entspannt in Charlottenburg statt in | |
Neukölln in den Tag. Charlottenburg ist ein mondäner Stadtteil der | |
Hauptstadt, vielleicht vergleichbar mit Hamburg-Winterhude. Nein, doch | |
nicht. Winterhude ist ein wannabe mondäner Stadtteil, in Wirklichkeit aber | |
bourgeois-dörflich in einer langweiligen Großstadt. Charlottenburg ist | |
weltmännisch und nicht so prätentiös wie Prenzlauer Berg. | |
Vergleiche mit anderen Orten in Deutschland lassen die anderen nur klein | |
und blass aussehen. In Charlottenburg sind die Wege breit genug, als dass | |
man sich anrempeln würde, es gibt [2][intakte Fahrradwege], keinen Grund zu | |
schimpfen. | |
Morgens beobachte ich, wie der Stadtteil ganz langsam aufwacht, | |
mehrheitlich weiße Menschen. Nicht weiter schlimm, die Sonne lacht mich an, | |
als hätte ich sie selbst in die Ecke eines DIN-A4-Blattes gemalt. | |
Charlottenburg ist [3][wie Neukölln] auch international, aber | |
weiß-bonjour-madame-international. | |
Neukölln ist | |
zeig-mir-deinen-Ausweis-oder-du-wirst-abgeschoben-international. In | |
Charlottenburg lesen die Menschen eine gedruckte Zeitung im Café. Oder sie | |
laufen entspannt ins Büro oder zur Bahn. An den Haltestellen raucht niemand | |
Crack und es liegen keine Spritzen rum. | |
Wenn hier geraucht wird, dann genussvoll, nicht gestresst. Bourgeois liegt | |
die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger, vielleicht ist Catherine | |
Deneuve-mäßig der Arm angewinkelt. Hier raucht man nicht proletarisch, die | |
Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger. | |
## Keine Angst, Briefkästen zu öffnen | |
Wer nicht konventionell aussieht oder gekleidet ist, riskiert angestarrt zu | |
werden. Ich bin hier nicht dauerhaft, nur zu Besuch und frage mich, warum | |
man mit so wenig Spätis leben möchte? Haben die Menschen in Charlottenburg | |
auch Angst, ihre Briefkästen zu öffnen? Briefkastenangst is a thing, aber | |
nicht in Charlottenburg. | |
Haben Menschen hier Angst, wenn sie abends nach Hause laufen oder sind ihre | |
Straßen alle beleuchtet? Haben sie Angst, Nazis zu begegnen oder verüben | |
Nazis in Charlottenburg keine Anschläge und Morde? | |
Die Armut der Menschen in Neukölln ist der Politik egal, wie sie durch die | |
noch immer drohenden Kürzungen zeigt. Doch Neukölln lässt das nicht auf | |
sich sitzen und Betroffene protestieren gegen die Kürzungspolitik. | |
In den Stadtteil müsste sowieso viel mehr investiert werden, als die | |
Politik das will. Die Menschen in Neukölln haben es auch verdient, | |
friedlich in den Tag starten zu können. Neukölln würde ein kleines bisschen | |
wie Charlottenburg, aber zum Glück nicht Charlottenburg. | |
25 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Amina Aziz | |
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