# taz.de -- Tiktok-Krawalle beim Film „Creed III“: Im Kino Döner essen ist… | |
> Nun werden Kinosäle verwüstet anlässlich eines Boxerfilms. Bei der „Rocky | |
> Horror Picture Show“ dagegen ist Verwüsten Kult. Dabei gibt es | |
> Schlimmeres. | |
Bild: Ein Kinoabend ist ein zerbrechlicheres Sozialkonstrukt als ein Weihnachts… | |
Die Jugendlichen sprangen über die Sitze, warfen mit Nachos und Popcorn und | |
randalierten. Die Vorführung in einem Essener Kino musste gestoppt, der | |
Saal geräumt werden. Auch in Bremen, Hamm, Berlin, in Frankreich und an | |
weiteren Orten passierte es. Immer lief dabei der Boxerfilm „Creed III“. | |
Die Polizei meint, ein neuer Tiktok-Trend sei die Ursache. Gezielt würden | |
sich Jugendliche über [1][die Kurzvideo-Plattform] verabreden, um Krawall | |
in Kinos zu machen, das Ganze filmen und es dann teilen. | |
Wer jetzt möchtegernelitär denkt – ist doch klar: Tiktok statt | |
[2][Mastodon], Multiplex statt Szenekino, Knallofilm statt Kunstkacke, | |
kein Wunder, selbst schuld, wer da hingeht –, täte Beteiligten wie | |
Leidtragenden unrecht. Denn es ist immerhin vorstellbar, dass die | |
Randalierer wissen, dass sie Scheiße bauen. Sie tun es trotzdem (oder sogar | |
deswegen), dabei in Kauf nehmend, dass sie die Konsequenzen tragen müssen: | |
Filmabbruch, Saubermachen, Strafanzeige, Schadensersatz, Hausverbot. | |
Im Vergleich weit unverbesserlicher wirken da doch jene adretten jungen | |
Peers mutmaßlich bildungsbürgerlicher Herkunft, die sich zu dritt mit je | |
[3][einem Döner in der Hand] in der vollbesetzten Reihe eines Off-Kinos | |
lümmeln. Der olfaktorische Offenbarungseid übertrifft noch die nach | |
Stinkefüßen riechende Käsesoße, die gern zu Nachos gereicht, gespritzt oder | |
geworfen wird. Vor Beginn des Arthouse-Films pulen sie seelenruhig die | |
Alufolie, diesen Atommüll unter den Verpackungsmaterialien, von ihrem | |
Schnellgericht und setzen ein grässliches Aroma frei: rohe Zwiebeln, schon | |
vor Langem gestorbenes Nutztier und diverse Soßen aus dem Fertigkochbuch | |
des Teufels. | |
Das katastrophale Antiodeur, das innerhalb von Sekunden wie eine Giftwolke | |
durch den gesamten Kinosaal wabert, macht einzig ihnen nichts aus. Als | |
Quelle des Übels sind sie immun, ein Phänomen wie bei Rauchern, die | |
einander problemlos über den Aschenbechergeschmack hinweg zu knutschen | |
vermögen. | |
Das Schlimmste daran: dass sie besten Gewissens handeln. Sie kommen | |
überhaupt nicht auf die Idee, ihr Tun oder dessen Wirkung auf ihr Umfeld zu | |
hinterfragen. Ich und die anderen – das sind keine Kategorien, in denen sie | |
denken. Die selbstverständliche Ausblendung aller zivilisatorischen | |
Standards bei gleichzeitigem Fehlen eines auch nur rudimentären | |
Unrechtsbewusstseins ist in der Psychologie als sogenannte Psychopathie | |
bekannt. Ursachen können Störungen im Neurotransmitterhaushalt sein, | |
schwere Defizite im Upbringing, ein durch Drogen, Unfall, Krankheit oder | |
Social-Media-Missbrauch zerschossenes Schamzentrum sowie die besondere | |
Fähigkeit, sich jederzeit wie auf Kommando komplett vom Rest der Welt | |
abzukoppeln. | |
Döner ist eine Frischluftmahlzeit: Dieser Satz sollte im Grundgesetz | |
verankert werden. Doch unabhängig von meinen starken Gefühlen bezüglich der | |
Döner- oder auch Falafel-Problematik ist natürlich jegliche Störung des | |
Kinobesuchs als äußerst heikel anzusehen – auch die Tiktok-Heinis tragen | |
zweifelsohne schwere Schuld. Das liegt in der Natur der Sache, denn ein | |
Kinoabend ist im Grunde ein zerbrechlicheres Sozialkonstrukt als ein | |
Niedersachsen-Derby oder ein Weihnachtsabend mit der Familie. | |
Bei aller Kritik kann etwas Rückbesinnung auf die eigene Jugendzeit jedoch | |
nicht schaden. Waren wir besser, passierte damals nichts dergleichen? | |
Tiktok oder andere soziale Netzwerke gab es nicht. Man verabredete sich | |
nicht und fand sich trotzdem, um andere Leute zu nerven und sinnlos Sachen | |
kaputt zu machen, zu beschmutzen und zu entweihen. So sieht es aus. Wenn es | |
dabei zu keiner Gewalt kam, konnte man von Glück reden. Es war nicht | |
wirklich alles besser. | |
Übrigens auch nicht im Kino. Schon seit den 1970er Jahren wurden Kinos bei | |
der „Rocky Horror Picture Show“ von den Fans regelmäßig mit Mehl, Reis, | |
Wasser, Toilettenpapier verwüstet. Schnell pflegte man die Ausschreitungen | |
„Kult“ zu nennen, was immer schon eine beliebte Methode war, um sozial | |
fragwürdiges Gebaren in ein Weltkulturerbe für besonders Arme | |
umzuetikettieren. Hierin liegt mittelfristig sicher auch die Chance für | |
weitere gelungene Vorführungen von „Creed III“. | |
10 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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