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# taz.de -- Ukraine-Krieg spaltet Ostdeutschland: Sicherheit geht vor Freiheit
> Der Ukrainekrieg spaltet die ostdeutsche Gesellschaft. Warum so viele
> „Ossis“ am Bild von der Sowjetunion als Friedensgarant festhalten.
Bild: Irgendwie gegen alles: Tausende protestieren auf dem Theaterplatz in Dres…
DRESDEN taz | Es sind nicht nur die Bundesbürger westlich von Harz und
Thüringer Wald, die mal wieder irritiert auf den unberechenbaren Osten
schauen. Auch [1][die „Ossis“] selbst kennen einander nicht mehr. Grund
sind die Einstellungen zum russischen [2][Krieg gegen die Ukraine].
Es geht ein Riss durch Freundes- und Kollegenkreise, durch Familien und
Institutionen. Es ist die dritte Spaltungswelle in den vergangenen zehn
Jahren. Erst war da das Einsickern [3][neurechter Ideologien] in die Mitte
der Gesellschaft, dann kam der Corona- und Impfkrieg. Und nun ist es der
richtige Krieg.
Meine Friseurin, die seinerzeit im Salon der SED-Bezirksleitung führenden
Genossen den Kopf wusch, beruft sich auf Kunden als Quellen, wenn sie über
angebliche ukrainische Luxusflüchtlinge auf vierteljährlichem Heimaturlaub
herzieht. Der Friseurin gilt der ukrainische Präsident Selenski als „der
größte Verbrecher – ein Schauspieler“.
Ein Dresdner Theaterkritiker bezeichnet Putin als „sich einst durch Dresden
saufenden KGB-Tölpel und heutigen Möchtegern-Zar“. In seiner
Münchhausen-Adaption am Dresdner Staatsschauspiel lässt Rainald Grebe eine
Schauspielerin von einer seit zehn Jahren getroffenen Familienvereinbarung
berichten: „Über das und das wird nicht gesprochen – sonst kracht’s!“
„Unser Freundeskreis ist an der Russlandfrage völlig zerbrochen“, bedauern
Günter Kern und Frau Eva in Kamenz. Günter Kern ist der Bruder des
weltbekannten Malers Georg Baselitz und durch Lukas Rietzschels
„Raumfahrer“ zu einer Romanfigur geworden.
Man braucht sich nicht vorzumachen, da stünde [4][eine rebellische kleine
Minderheit] gegen eine vermeintlich tragende große Mehrheit. In ganz
Deutschland und Europa stehen sich Kräfte gegenüber, die entweder die
Ukraine massiv unterstützen – oder aber einen Diktatfrieden um jeden Preis
wünschen, wenn dadurch nur wieder Gas in die Kammer käme und die Brötchen
billiger würden.
## Der Hälfte gehen Sanktionen gegen das Kremlregime zu weit
Und doch bestehen nach wie vor signifikante Unterschiede im Verhalten des
ost- und westdeutschen Bevölkerungsdurchschnitts. Ein Drittel der
Ostdeutschen sieht in Putin bis heute keine Gefahr, im Westen empfindet nur
ein Fünftel so.
Aufschluss bringt die Rubrik „MDR fragt“ des Mitteldeutschen Rundfunks mit
jeweils um die 30.000 Teilnehmern. Der Hälfte von ihnen gehen Sanktionen
und Maßnahmen gegen das Kremlregime zu weit. Sieben von zehn Ostdeutschen
fühlen sich in der Einschätzung russischer Politik kompetenter als die
„Wessis“. Folglich konstatieren fast zwei Drittel aktuell eine Vertiefung
der Ost-West-Spaltung.
Aber warum – 32 Jahre nach der formalen Vereinigung? Verlässliche
Ursachenforschung zu diesem anhaltenden Teilungsphänomen gibt es nach wie
vor nicht. Es lässt sich nur mit der fortwirkenden Prägung durch die Jahre
bis 1989 erklären, einer Prägung, die das wiedervereinigte Deutschland auch
in drei Jahrzehnten nicht aufzuheben vermocht hat.
Für diese Annahme spricht die Generationenspaltung der Ostdeutschen selbst.
Hartnäckige Putin-Versteher, die trotz eines offenkundigen Eroberungs- und
Vernichtungskriegs immer noch russische Sicherheitsinteressen „ins Feld
führen“, haben in aller Regel mindestens die 40, meist die 50
überschritten. Das DDR-Fähnchen eines Demonstranten auf dem Dresdner
Theaterplatz liefert den Schlüssel für Erklärungen.
Solche Demos richten sich nur vordergründig gegen die Preisexplosion. Wer
hier steht, sucht in manischem Eifer nach allem, was das Moskauer
Verbrecherregime irgendwie entlasten könnte. Und grundsätzlich sind immer
die zweifellos auch nicht gerade harmlosen US-Amerikaner an jeder
Eskalation der Gewalt in der Welt schuld.
Man darf es sich aber nicht zu einfach machen: Hier stehen nicht unbedingt
dieselben, die seit Jahren gegen alles, was irgendwie von oben kommt, auf
die Straße gehen. Es gibt sehr wohl militante Impfgegner aus dem Vorjahr,
die gar keine Lust haben, gemeinsam mit Schwenkern von Russlandflaggen
gesehen zu werden.
## Kalter Krieg als Zeichen der Stabilität
Und doch: Wer ostzulande nicht gegen alles ist, wird verdächtigt, für etwas
zu sein, mithin mit „denen da oben“ zu kollaborieren – eine subtile
Kontinuität aus Zeiten des SED-Regimes.
Im Rückblick erscheint vielen sogar der Kalte Krieg, das Gleichgewicht des
Schreckens, als Zeit der Stabilität. Als der eine Pol dieser Abschreckung
garantierte die Sowjetunion den Frieden und damit den bescheidenen
Fortschritt in der DDR.
Posthum erst wird klar, dass es nicht nur Propaganda war, wenn der FDJ-Chef
Egon Krenz 1974 rief: „Alles, was wir sind, sind wir durch sie (die
Sowjetunion)!“ Die heute noch lebende DDR-Generation hat die Rote Armee
nicht mehr als brutale Besatzungsmacht wie bei dem Aufstand von 1953
kennengelernt. Ausgewählte, wie die ehemalige Bundeskanzlerin Angela
Merkel, studierten in der Sowjetunion, Kinder- und Jugendorganisationen
veranstalteten Freundschaftstreffen.
Halb ironisch, halb schulterklopfend sprach man vom „Großen Bruder“. In der
ARD-Filmproduktion über Russland und die Ostdeutschen bestätigt ein
damaliger hoher NVA-Offizier die anerzogene Liebe zur Sowjetunion. „Amerika
ist mein Feindbild“, sagt er. Auf Demoplakaten 2022 steht: „Besatzungsmacht
USA“.
Sicherheit ging vor Freiheit und schützte zugleich vor der heutigen
unüberschaubaren und unheilvollen Welt der schlechten Nachrichten. Ein
unterschätzter Anteil der „Ossis“ hat sich enttäuscht in den Trotz
zurückgezogen, überfordert von der Nichterfüllung der eigenen Illusionen
1989. Der Westen galt als das Paradies schlechthin, und dann versprach auch
noch ein dicker Messias blühende Landschaften. „Wir haben demonstriert, nun
macht uns mal richtig glücklich“, könnte man es auf eine Formel bringen.
Das Glücksversprechen war ein materialistisches, das Gefühl für die Wert-
und Wertelosigkeiten des eigentlich ersehnten neuen Systems stellte sich
erst später ein. Aber man durfte sich doch 1989 unmöglich geirrt haben!
## „Mit Trump wäre das nicht passiert“
Das in 30 Jahren mühsam erarbeitete Arrangement mit einer verunsicherten
und verunsichernden Welt bekommt einen weiteren Tritt. Krieg? So was gab es
damals nicht. Und nicht der Imperator Putin ist der Böse, sondern jene, die
ihn und ein System bekämpfen, das die stabile Ordnung um jeden Preis über
alles stellt.
Die Anfälligkeit gegenüber Despoten ließ seit 2016 sogar die USA
sympathischer erscheinen. „Mit Trump wäre das nicht passiert“, meinte kurz
nach Kriegsbeginn der ins Motzermilieu abgedriftete Kabarettist Uwe Steimle
– und nicht nur er.
Einmal mehr zeigt sich die Erosion gesellschaftlicher Grundkonsense im
Osten deutlicher. Moralfrei, entwurzelt und empathielos gehen hier viele
auf Distanz zu einem Krieg, der ohnehin angeblich ein amerikanischer ist.
Hauptsache, wir werden nicht noch weiter verunsichert!
Bei den Sachsen kommt ihr kollektives Trauma hinzu, seit 280 Jahren
beharrlich zu den Kriegsverlierern zu gehören und untergehenden Systemen
gefolgt zu sein. Hier besitzt der Spruch „Von der Sowjetunion lernen heißt
siegen lernen“ noch Verführungskraft.
Die Linke derweil bemüht sich um Distanz – und schafft es doch nicht,
klarzustellen, dass sie bloß gegen die Krisengewinnler und die
Entsolidarisierung demonstrieren will. Im Sächsischen Landtag bedankte sich
AfD-Landeschef Jörg Urban für den „teilweisen Schulterschluss“. Immerhin
hat der frühere Volkswitz bei den Klardenkern überlebt. Im Netz kursiert
die Persiflage des einstigen Straßenrufs der Neunundachtziger: „Wirr ist
das Volk!“
14 Dec 2022
## LINKS
[1] /Linkspartei-in-Sachsen-Anhalt/!5775198
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[3] /Protest-in-Ostdeutschland/!5893766
[4] /Autorin-Manja-Praekels/!5897151
## AUTOREN
Michael Bartsch
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