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# taz.de -- Protest in Ostdeutschland: Immer wieder montags
> Gegen „Impfzwang“, Ukrainehilfe und Migranten: Seit Wochen gehen in Gera
> Menschen auf die Straße. Droht eine Radikalisierung?
Bild: Demo in Gera
Gera taz | Immer wieder dröhnen die Forderungen aus den Boxen des
Bollerwagens, den Christian Klar an der Spitze der Demonstration hinter
sich herzieht. Es dürfe keine Russlandsanktionen mehr geben, keine
Waffenlieferungen an die Ukraine, keine „Impfzwänge“ und „keine
Massenzuwanderung“. Seit Jahrzehnten werde Thüringen „fremdbestimmt“, he…
es da, und es regiere ein „Parteienkartell“. „Wir haben lange genug
stillgehalten“, hallt es über die dunklen Straßen Geras. Nun werde man die
„Zerstörung der Lebensgrundlagen nicht mehr hinnehmen“.
Hinter Christian Klar, dem Demo-Anmelder, gekleidet mit weißer Ordnerweste
über der Jacke, folgen an diesem Montagabend mehrere Hundert
Protestierende. Die Menschen schwenken Deutschland- und
„Widerstand“-Fahnen, darunter auch eine russische. Ihre Banner künden
„Deutschland zuerst“ oder „Lieber Kernkraft statt Migrantenstrom“ an, s…
trommeln und trillerpfeifen. Fast eine Stunde lang zieht der Tross so durch
die fast menschenleere Innenstadt, einige Anwohner beobachten ihn durch
ihre Fenster.
Der Protest läuft inzwischen routiniert, alles ist wie immer. Auch viele
Ältere sind gekommen, Sprechchöre bleiben aus, man kennt sich und plaudert
lieber miteinander, so gut man bei dem Getriller eben plaudern kann. Bis
Christian Klar am Ende noch mal die Stimmung anzuheizen versucht. Die
Regierung habe geglaubt, der Protest sei vorbei, schreit er ins Mikrofon.
„Aber jetzt erst recht!“ Gera sei die „Speerspitze des Thüringer
Widerstands“. Es klappt: Gejohle.
Seit Wochen gehen sie so allmontäglich in [1][Gera], einer
90.000-Einwohner-Stadt im Osten Thüringens, auf die Straße. So wie auch in
anderen Städten in Ostdeutschland. Protestiert wird gegen die Krisenpolitik
der Regierung, gegen steigende Preise, gegen die Russlandsanktionen wegen
des Ukrainekriegs – und für einige auch gegen das System. Ein „heißer
Herbst“ soll es werden, so wird es beschworen. Aber dieser „heiße Herbst“
ist bisher nur lauwarm. Und doch könnte er gefährlich werden.
In Gera liegt der Höhepunkt der Proteste schon einige Wochen zurück. 1.200
Protestierende zählt die Polizei an diesem Montag. Davor waren es noch gut
2.000 und am [2][3. Oktober] nach Polizeiangaben gar fast 10.000, darunter
Thüringens AfD-Chef Björn Höcke. Auch andere rechtsextreme Prominenz wie
der Compact-Herausgeber Jürgen Elsässer, Vertreter der Freien Sachsen oder
der Patrioten Ostthüringens hatten mobilisiert. „Gera ist heute der Anfang
von etwas Neuem. Wir sind die Ersten von morgen“, rief Höcke, einen
völkischen Leitspruch aufgreifend.
Ob diese Bewegung wirklich entsteht, ist keineswegs ausgemacht. Am 3.
Oktober demonstrierten in ganz Thüringen 36.000 Menschen gegen die
Bundesregierung, rund hunderttausend waren es insgesamt in Ostdeutschland.
Seitdem aber stagnieren die Zahlen – oder sie gehen zurück. So sind am
Montag laut Polizei thüringenweit nur noch 10.400 Menschen auf der Straße,
in Ostdeutschland insgesamt rund 37.000.
Für eine Entwarnung sorgt das bei Politik und Sicherheitsbehörden dennoch
nicht. Erst vor wenigen Tagen erklärte Verfassungsschutzpräsident
[3][Thomas Haldenwang], die Montagsdemonstrationen in einigen ostdeutschen
Ländern erfüllten ihn mit „großer Sorge“. Anders als die Coronaproteste
würden diese nun „eindeutig“ von Rechtsextremen angemeldet und beworben,
ihre Redner stünden auf den Bühnen. „Die normalen Bürger ziehen sich
zurück. Der Rechtsextremismus kapert die Straße.“
Auch [4][Holger Münch], Präsident des Bundeskriminalamts, zeigte sich
alarmiert, dass „Hass und Hetze“ sich derzeit „rasend schnell im analogen
wie digitalen Raum verbreiten“. Radikalisierungsprozesse hätten sich
„beschleunigt und intensiviert“.
## Der Organisator
In Gera lässt sich einiges davon beobachten. Schon seit Wochen gibt hier
Christian Klar den Ton vor, ein 42-Jähriger, der zuletzt wegen Diebstahls
und Hehlerei verurteilt wurde und den die Polizei der rechten Szene
zuordnet. Tatsächlich bewegt sich Klar dort schon seit Jahren. Als
Jugendlichen zeigt ihn ein Foto bei einem Aufmarsch des Thüringer
Heimatschutzes, der Brutstätte des NSU. Später tauchte er beim
Pegida-Ableger Thügida auf. Auch zu den Patrioten Ostthüringen um den
szenebekannten Dachdecker Frank Haußner hält Klar beste Kontakte, ebenso
zur AfD. Dass er dort, wie kolportiert, gar Mitglied ist, bestreitet er.
Vor Kurzem allerdings baute er für die Partei einen Infostand auf.
Und erst vor gut einer Woche nahm Klar am Volkstrauertag an einem
Neonazi-“Heldengedenken“ in Gera teil, danach an einem Liederabend des
rechtsextremen Sängers und NPD-Mannes Frank Rennicke. Mit dem verbinde ihn
eine „jahrelange Freundschaft“, teilte Klar auf seinem Social Media Kanal
mit.
Schon vor einem Jahr protestierte Klar montags in Gera, damals noch gegen
die Coronamaßnahmen. Im Frühjahr brachte ihm das nach eigener Auskunft eine
Gefährderansprache ein: Er hatte dem Gera Polizeidirektor Schikanen
vorgeworfen und ihn auf einem Plakat in Sträflingskleidung gezeigt.
Im August lud Klar mit den vom Verfassungsschutz beobachteten Freien
Thüringern zu einem „Sommerfest“ in Gera, mit Hüpfburg und Bratwurst. Sch…
dort wurde ein „heißer Herbst“ beschworen. Danach stieg Klar voll auf das
Thema ein.
„Egal ob Massenmigration, Klimawandel, Corona, Impfung oder Ukrainekrieg:
Alles dient einem großen Plan“, rief Klar am 3. Oktober in Gera auf der
Bühne. „In den feuchten Träumen der Globalisten, der Kabalen, sind wir alle
das untere Ende der Nahrungskette.“ Der Regierung sei „jedes Mittel recht,
um uns gefügig zu machen“.
Auch am Montag durchmischen sich die Themen. Protestiert wird immer noch
gegen die Coronamaßnahmen, obwohl von denen kaum noch welche gelten, gegen
die Russlandsanktionen, die Deutschland ruinierten, gegen die Nato, gegen
den Atomausstieg, gegen die Grünen. Christian Klar wettert dazu noch gegen
die GEZ. Er selbst rede mit der „Lügenpresse“ nicht mehr, ruft er ins
Mikrofon und erntet dafür Applaus.
Später redet Klar im direkten Gespräch dann doch. Was er denn wirklich
erreichen wolle? Es müsse sich grundsätzlich etwas verändern in
Deutschland, antwortet Klar. Was genau? Er weicht aus und holt lieber zum
Rundumschlag aus, was alles dieses Land zugrunde richte. Ein Nazi aber sei
er nicht, wehrt sich Klar vehement. Er habe einen schwulen Cousin und
ausländische Freunde, sein Friseur sei Syrer.
## Die Sorgen in der Stadt
Ein rechtsextremer Anführer, die radikalen Worte, sie stören die Geraer
Montagsdemonstrierenden nicht. Offenbar wollen sie genau das hören. Der
Zulauf hat auch mit einer zweiten Person zu tun, die mit Klar regelmäßig
auf der Straße steht: Peter Schmidt, lokaler Geschäftsführer einer
Zeitarbeitsfirma, einst im Vorstand des Thüringer CDU-Wirtschaftsrats.
Einer, der in der Stadt gut vernetzt ist und dem lange kein
Rechtsaußenimage anhaftete. Der auf Facebook aber ebenso brachial gegen
die „grüne Hassideologie“ oder den „Corona-Terror der Regierung“ wette…
Am Montag ist Schmidt nicht dabei, offenbar im Urlaub. Zuvor aber rief er
via Facebook wieder zum Protest auf: „Lasst Euch nicht länger für dumm
verkaufen!“
[5][Jana Prochnow] beobachtet all das mit Sorge. Die Psychiaterin ist
Linken-Stadtvorsitzende in Gera. Als die Montagsprotestierenden am 3.
Oktober zu Tausenden durch die Stadt zogen, stand sie auf einer
Gegenkundgebung an einer Bahnunterführung, mit 350 Teilnehmenden.
„Bedrohlich“ sei der Aufmarsch gewesen, sagt Prochnow. „Während wir von …
Polizei eingekesselt waren, konnten die Rechten Migrantinnen und Migranten,
Journalistinnen und Journalisten anpöbeln.“
Dass der Montagsprotest in Gera verfängt, rechnet Prochnow den
Abstiegserfahrungen vieler in der Stadt zu. „Heute hat die Stadt wenig
Perspektive und wenig Bildungsbürgertum, aber viel Frust. Verlustängste
sind sehr präsent, auch ein Gefühl der Kränkung.“ Dazu kämen, anders als …
Westen, geringere finanzielle Polster. Die Krise treffe hier viele
unvermittelter, sagt Prochnow. Wenn dann jemand wie Peter Schmidt auf die
Straße gehe, ziehe das. Dass auch Rechtsextreme mit marschieren, sei vielen
egal – umso mehr, da es seit jeher eine selbstbewusste Neonaziszene in der
Stadt gebe, an die sich viele gewöhnt hätten.
Christian Klar weiß diese fehlende Distanzierung seiner Mitprotestierer zu
nutzen – und seine jahrelangen Szenekontakte. Schon beim „Sommerfest“
tauchte Höcke auf, stand Szenesänger Rennicke auf der Bühne. Die „Freien
Thüringer“ und die „Patrioten Ostthüringen“ bewerben die Geraer Aufzüg…
Und auf der Demo am Montag trägt eine Frau auch eine AfD-Weste, sonst hält
sich die Partei im Hintergrund.
In der Stadt Gera ist die AfD schon länger tonangebend. Im Stadtrat hält
die Partei seit 2019 die meisten Sitze. Bei der letzten Bundestagswahl
holte sie 28 Prozent im Wahlkreis, gut 6 Prozentpunkte mehr als die
zweitplatzierte SPD. Und am 3. Oktober nahmen AfD-Vertreter reihenweise am
Geraer Aufzug teil. Ein lokaler Parteifunktionär lobte danach die
„fantastische Organisation der Montagsfamilie“. Es ist kein Zufall, dass
der Großaufmarsch ausgerechnet in Gera stattfand.
Die Grenzen verschwimmen auch anderswo. In Sachsen traten zuletzt Redner
der NPD oder der rechtsextremen Freien Sachsen auf den Montagsprotesten
auf. In Brandenburg gehört der rechtsextreme Verein Zukunft Heimat zu den
Protestorganisatoren, in Mecklenburg-Vorpommern die Fraktion „Heimat und
Identität“. Dazu stehen auch Andreas Kalbitz oder André Poggenburg auf den
Bühnen, frühere AfD-Männer und Radikale, die die Partei ausgeschlossen hat.
Und auch diese Auftritte sind kein Zufall. Schon im August rief der
neurechte Vordenker Götz Kubitschek dazu auf, die Herbstproteste zu
unterstützen, damit diese „nachhaltig, unversöhnlich und grundsätzlich“
werden. Vor allem die „Freien Sachsen“ und „Freien Thüringer“ treiben …
voran. In Thüringen wurde im September auf mehreren Montagsprotesten
plötzlich parallel ein Forderungskatalog mit zehn Punkten verlesen, den
auch die Landes-AfD kurz darauf veröffentlichte – es ist der, der auch am
Montagabend in Gera immer wieder ertönt. Unabhängiger Bürgerprotest vor
Ort? Es wirkte eher wie die Orchestrierung rechtsextremer Strippenzieher.
Auch die Bundes-AfD hatte zuvor einen „heißen Herbst“ ausgerufen,
organisierte dafür eine „Großdemo“ in Berlin. Ihren rechtsextremen
Frontmann Höcke zieht es mehr in die Provinz, momentan pilgert er dort von
Montagsdemo zu Montagsdemo. Dass in seiner Partei eigentlich ein
Unvereinbarkeitsbeschluss etwa mit den Freien Sachsen existiert, ignoriert
er. „Wir lassen uns nicht spalten, niemals“, verkündete Höcke zuletzt. Und
die Fraktionschefs der ostdeutschen AfD gaben eine Erklärung ab, man
verstehe sich „als Teil der bundesweiten Protestbewegung“.
In Gera gibt es aber auch andere, die wegen der Energiekrise protestieren –
und genau diesen Schulterschluss nicht wollen. Anfang Oktober rief erstmals
die [6][Kreishandwerkerschaft] zu einem Autokorso in der Stadt auf. Mehr
als 200 Firmenautos beteiligten sich. „Ohne Mittelstand geht das Licht
aus“, verkündeten Banner. Vor wenigen Tagen erfolgte der zweite Korso. Die
Handwerker wählten dafür bewusst nicht den Montag, sondern einen
Donnerstag, wie Organisator Stefan Haase, Geschäftsführer der
Kreishandwerkerschaft, betont.
Die Krise treffe die Branchen hart, klagt der KfZ-Fachmann. Die
Materialengpässe seien massiv, die Sprit- und Energiepreise völlig
überzogen, man könne kaum noch planen. „Wir können das nicht alles auf die
Kunden umlegen. Aber wenn wir es nicht tun, werden einige von uns auf der
Strecke bleiben.“ Man müsse die Politik aufrütteln, deshalb die Autokorsos.
Haase sagt: „Es muss etwas passieren.“
Zu den Montagsdemos aber halte man Distanz, sagt Haase. Der Protest dort
sei zu „AfD-lastig“, man selbst setze auf Überparteilichkeit. Auch dass
Politiker dort persönlich angegangen oder in Sträflingskleidung gezeigt
würden, sei nicht der richtige Weg. „Das löst nicht die Probleme.“
## Der bedrohte Bürgermeister
Geras Oberbürgermeister [7][Julian Vonarb], ein parteiloser Bankkaufmann,
im badischen Freiburg aufgewachsen und seit dem Jahr 2018 im Amt, treibt
das Protestgeschehen um, zwangsläufig. Weil er die Krisenfolgen sieht. Und
weil der Protest ihn schon länger zum Feindbild erkoren hat. Schon vor
Wochen warnte Vonarb, dass die Energiekrise die Bürger und Unternehmen hart
treffen könne, und forderte einen Energiedeckel. Der 50-Jährige besprach
das Thema auf dem Städte- und Gemeindebund, traf sich in Berlin mit dem
Ostbeauftragten der Bundesregierung, Carsten Schneider. „Ich versuche auf
allen Ebenen, die Lage für die Menschen erträglicher zu machen“, versichert
Julian Vonarb. Stefan Haase lobt ihn: „Das Problem ist ja kein lokales,
aber er unterstützt uns und macht Druck.“
Dass Menschen wegen der Krise auch auf die Straße gehen, sei erst mal „ein
legitimes Mittel“, das vom Grundgesetz geschützt sei, sagt der
Oberbürgermeister. Gerade der Autokorso der Handwerker sei „ein gutes
Beispiel“, wie das aussehen könne. „Dafür haben sie meine vollste
Unterstützung.“
Bei den Montagsprotesten seien dagegen „Narrative der vermeintlichen
Spaltung zu hören, welche die Situation verschärfen“, klagt OB Vonarb. Es
sei „bedauerlich“, dass Rechtsextreme versuchten, die Proteste zu
benutzten, um ihr Gedankengut zu verbreiten und den Rechtsstaat infrage zu
stellen. Dennoch, das ist Vonarb wichtig zu betonen, liefen montags auch
viele Menschen mit, die „eindeutig nicht der rechtsextremen Szene
angehören, sondern dieses Format lediglich als Möglichkeit sehen, ihrer
Unzufriedenheit oder ihren Ängsten Ausdruck zu verleihen“.
Linken-Chefin Prochnow kritisiert, dass Vonarb die Montagsdemos erst sehr
spät kritisierte. Dass der OB nun aber deutlichere Worte findet, erzürnt
wiederum die Montagsdemonstrierenden. Schon als er die Coronamaßnahmen
mittrug, geriet Vonarb dort ins Visier. Im Januar zogen Hunderte
Protestierende unangemeldet an seinem Wohnhaus vorbei, wo er mit seiner
Frau und den Kindern lebt. Ministerpräsident Bodo Ramelow sprang Vonarb
bei. Er wolle so etwas nie wieder erleben, sagte Vonarb damals. Danach
suchte er das Gespräch mit den Protestierenden, lud Peter Schmidt zu einem
Videotalk ein. Es half nichts, im Gegenteil.
Zuletzt brandeten die Anfeindungen wieder auf. Vonarb war beim Autokorso
der Handwerker als Gastredner aufgetreten. „Ich stehe eng an Ihrer Seite.
Ich arbeite intensiv im Hintergrund für Sie“, versicherte er. Von den
Montagsprotesten aber distanzierte er sich nochmal ausdrücklich: „Im
Dunkeln mit Trommeln und Fackeln zu marschieren, hilft der Lösung unserer
Probleme nicht.“ Sofort brandeten Buh- und Pfui-Rufe. „Hau ab“, riefen
einige. Nur mit Mühe beruhigte Geschäftsführer Stefan Haase die Lage.
Ja, es stimme, erklärte Haase danach der taz, dass wohl auch einige der
Handwerker montags mitliefen. Aber umso wichtiger sei es, mit dem Korso ein
Protestangebot zu schaffen, bei dem es nur um die Unternehmen gehe.
Von Vonarbs Auftritt bei den Handwerken verbreiteten Christian Klar und
Peter Schmidt einen Videoauschnitt. Der Bürgermeister treibe „einen
Spaltkeil zwischen die Menschen“, ätzte Schmidt. Andere reagierten noch
deutlicher. Ein „Drecksspalter“ sei Vonarb, hieß es in Kommentaren zu dem
Video. „Was für eine Lusche“ oder „einfach nur Schmutz der Typ“. Vonarb
sagt dazu, Kritik sei für ihn als Oberbürgermeister selbstverständlich.
„Wenn die Anfeindungen jedoch, wie bereits mehrfach geschehen, mein
Privatleben treffen, wird eine nicht zu tolerierende rote Linie
überschritten.“
Damit ist Julian Vonarb in diesen Zeiten nicht allein. Auch andererorts
werden Politiker:innen von den Montagsprotestierenden als
„Volksverräter“ beschimpft oder bedroht. In Rostock ertönte der Ausruf
„Scholz an die Wand“, in Zwickau wurde Verfassungsschutzchef Haldenwang mit
dem KZ-Arzt Josef Mengele verglichen.
## Zahl der Straftaten steigt
Zahlen zu Straftaten auf den Thüringer Herbstprotesten liegen noch nicht
vor. Aber Sachsen zählte allein für September und Oktober 277 Straftaten
auf Protesten im Land. Auch Brandenburg zog zuletzt Zwischenbilanz: Dort
stiegen von Jahresbeginn bis Mitte Oktober die politisch motivierten
Delikte um 47 Prozent, auf 1.093 Fälle. Der Großteil davon wurde laut
Landeskriminalamt auf den Corona- oder Herbstprotesten begangen.
Holger Münch, Chef des Bundeskriminalamts, nennt die Straftaten gegen
Mandatsträger „besorgniserregend“. Diese hätten seit 2018 um 276 Prozent
zugenommen. Es seien Angriffe „gegen das Rückgrat unserer Demokratie“,
warnt Münch. „Hass und Hetze sind zu einer konkreten Gefahr für unsere
Demokratie und unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt geworden.“
Die Töne der Rechtsextremen werden derweil immer schriller. So propagieren
die „Freien Sachsen“ seit Wochen einen „Aufstand gegen das Regime des
Unrechts“. Compact-Herausgeber Elsässer erklärte zuletzt auf Kundgebungen,
es gehe „um das nackte Überleben“. Deutschland werde „vor die Hunde gehe…
wenn wir diese Bande, die die Macht in ihren Krallen hält, nicht
davonjagen“. Und auch Höcke holte vor wenigen Tagen auf einer Kundgebung in
Erfurt aus: Man werde das herrschende System in Gänze „zu Fall bringen,
ihren politischen Amoklauf stoppen“.
Das Hauptthema der rechtsextremen Anheizer wandelt sich gerade wieder. Mehr
und mehr rückt ein Klassiker in den Vordergrund: der Hass auf Migranten –
konkret gegen ukrainische Geflüchtete. So ätzte Höcke in Erfurt, dass
Hunderttausende Ukrainer:innen inzwischen in Deutschland seien, obwohl
in acht Zehntel ihres Landes angeblich kein Krieg herrsche, und dass diese
bald das neue Bürgergeld bekämen – mehr Geld als der deutsche
Durchschnittsrentner. „Das ist Diskriminierung von uns Deutschen im eigenen
Land. Das ist eine Schande.“
Diese Töne sind auch am Montagabend in Gera zu hören. „Asylflut stoppen“
künden dort Banner, oder „Wir sind nicht das Sozialamt der ganzen Welt“. Am
Mikrofon kritisiert Christian Klar, dass die USA ukrainische Soldaten in
Deutschland ausbildeten. „Und das wollen wir nicht“, schreit er und erntet
Applaus. Später beschwert er sich am Rande, dass ukrainische Geflüchtete
hierzulande mehr Sozialhilfe bekämen als seine 75-jährige Mutter. Und
Christian Klar wird noch deutlicher. Auch hierzulande stehe man vor einem
Krieg, im Grunde sei dieser längst da, sagt er. Und er werde nicht zusehen,
sondern für seine Kinder kämpfen.
Der Linken Jana Prochnow machen solche Aussagen Angst. „Wer das Sagbare
immer weiter verschiebt, der handelt irgendwann auch so. Da ist eine
Radikalisierung vorprogrammiert.“ Auch deshalb versucht Prochnows
Linkspartei dagegen zu halten. Mit Gegenprotesten zumindest zu einigen der
Montagsdemos, mit einer eigenen Krisendemo im September. Erst am Samstag
war Linken-Ikone Gregor Gysi in der Stadt. Doch bisher waren die Rechten
stets in der Überzahl.
## Mehr AfD-Wähler, weniger Demonstranten
Zumindest für die AfD zahlt sich das Anheizen der Proteste aus. In Umfragen
liegt die Partei bundesweit wieder bei 15 Prozent, in Thüringen gar bei 25
Prozent. Doch der Protest stößt eben auch an Grenzen. Nicht nur in Gera
gehen die Teilnehmerzahlen zurück. In Erfurt folgten zuletzt nur rund 2.000
Teilnehmende statt der angemeldeten 10.000.
In wenigen Tagen, am kommenden Samstag, wollen es die Rechtsextremen nun
noch einmal probieren, diesmal in Leipzig. Da soll der Antiamerikanismus
ziehen. „Ami, go home“, lautet der Slogan. Die „Ami, go home“-Fahnen we…
am Montag auch in Gera, und Christian Klar ruft auf, sich in Buslisten für
Leipzig einzutragen. „Ganz Europa schaut auf diese Demo.“ Das darf
bezweifelt werden.
Aber zumindest in Gera wird der Protest weitergehen. Schon am Donnerstag
lädt die Kreishandwerkerschaft zu ihrem dritten Autokorso. Und auch die
Protestierenden um Christian Klar wollen kommende Woche wieder auf der
Straße stehen. Am Montagabend endet ihre Demo mit einem kleinen Feuerwerk
und dem Singen der Nationalhymne. Der Text wird an das städtische Theater
projiziert. Das lässt es geschehen.
Nach den Großdemos wolle man künftig wieder auf Gera fokussieren, kündigt
Christian Klar noch an. Es gebe genug vor der eigenen Tür zu kehren. „Vor
einer bestimmten Tür.“ Höhnisches Gelächter. Und damit auch der Letzte
versteht, um wen es geht, fordert Klar, dass Gera endlich einen
Bürgermeister aus Thüringen brauche. Keinen Zugezogenen wie Julian Vonarb
also.
Aktualisiert und ergänzt am 24.11.2022 um 10:20 Uhr. d. R.
23 Nov 2022
## LINKS
[1] https://www.gera.de/sixcms/detail.php?id=10213
[2] /Rechtsextreme-Montagsdemos/!5882340
[3] /Verfassungsschutzchef-zu-Letzte-Generation/!5895968
[4] /Neuer-BKA-Chef-Holger-Muench/!5028293
[5] https://www.die-linke-gera.de/startseite/aktuelles/detail/news/uebergabe-de…
[6] https://www.kh-gera.de/
[7] https://julian-vonarb.de/
## AUTOREN
Konrad Litschko
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Lesestück Recherche und Reportage
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