# taz.de -- Hetze von CDU und CSU gegen Bürgergeld: Wer aufrechnet, muss rechn… | |
> CDU und CSU kritisieren verbissen das Bürgergeld. Sie sollten lieber | |
> niedrige Löhne infrage stellen. | |
Bild: Dreamteam gegen das faule Pack: Der Markus und der Friedrich | |
Wenn ich mit Menschen essen gehe, dann ziehe ich es vor, dass am Ende | |
niemand anfängt, groß rumzurechnen. Lieber übernehme ich eine Rechnung, | |
bevor Verlegenheit aufkommt. Ich verlasse mich dann darauf, dass die | |
anderen halt ein anderes Mal zahlen. Und wenn’s dann trotzdem nicht | |
aufgeht: Ja mei. Ich kann Pfennigfuchserei im Namen vermeintlicher | |
Gerechtigkeit nicht ausstehen; verbissene Rumrechnerei, die gern über | |
tatsächliche Vermögensverhältnisse hinwegsieht, aus einer vagen, | |
spießig-paranoiden Angst heraus, irgendwie von irgendwem benachteiligt zu | |
werden. | |
Genau diese Verbissenheit bestimmt aktuell Debatten über den Nachfolger von | |
Hartz IV, das Bürgergeld: Ab 2023 soll es 502 statt bisher 449 Euro geben. | |
In den ersten sechs Monaten werden Leistungsberechtigte außer bei | |
Meldeversäumnissen [1][nicht sanktioniert, danach können höchstens 30 | |
Prozent gekürzt werden]. In den ersten beiden Jahren soll man in seiner | |
Wohnung wohnen bleiben, unabhängig von Größe und Kosten. Auch größere | |
Schonvermögen sind erlaubt, 60.000 plus 30.000 Euro für jedes weitere | |
Haushaltsmitglied. | |
Weil die Ampel mit dem Bürgergeld ein bisschen Abstand vom Psychoterror des | |
Hartz-IV-Regimes nimmt, spielen Unionspolitiker jetzt mit ebenjener | |
spießig-paranoiden Angst, benachteiligt zu werden. CSU-Chef Markus Söder | |
[2][verbreitet ein Video in sozialen Medien], in dem er unter der | |
Überschrift in Großbuchstaben „Leistung muss sich lohnen“ die rhetorische | |
Frage stellt: „Ist es in Deutschland so, dass jemand, der arbeitet, am Ende | |
mehr hat als jemand, der nicht arbeitet?“ Auch CDU-Chef Friedrich Merz | |
blieb auf dem Parteitag der Schwester vergangenes Wochenende | |
seinem[3][90er-„Sozialtourismus“-Narrativ] treu: Mit dem Bürgergeld mache | |
es „für eine größere Gruppe von Menschen überhaupt keinen Sinn mehr (…), | |
sich einer regulären Beschäftigung im deutschen Arbeitsmarkt zur Verfügung | |
zu stellen.“ | |
Nun gut, niemand erwartet etwas anderes vom Oberopportunisten Söder, der | |
gestern Bäume umarmt hat, später Kühltürme von Atomkraftwerken und der | |
heute gegen Arme hetzt. Dass Millionär Merz, der mit Privatflugzeugen zu | |
Hochzeiten fliegt, den Bezug zur Realität der Bevölkerungsmehrheit längst | |
verloren hat, das haut einen auch nicht vom Hocker. Bitter wäre es aber, | |
wenn die Ampelparteien dem Spiel mit Ressentiments nachgeben, weil sie die | |
Blockade der Union fürchten. Die droht damit, nach der Parlamentsabstimmung | |
nächste Woche [4][im Bundesrat dagegen zu stimmen]. SPD-Vorsitzende Saskia | |
Esken hat bereits sogenannte Kompromissbereitschaft signalisiert. | |
## Tendenziöse Medienberichte | |
Dass die Union, deren Politiker:innen ihre üppigen Diäten [5][gerne mal | |
mit Maskendeals aufstocken], die leichte Reform von Hartz IV überhaupt so | |
öffentlichkeitswirksam infrage stellen kann, gibt Anlass, über den | |
Resonanzraum ihrer Kampagne nachzudenken. Schließlich ist der neue | |
Bürgergeldsatz weiterhin so niedrig, dass er angesichts aktueller | |
Preisentwicklungen für ein menschenwürdiges Leben nicht ausreichen wird. | |
Schließlich wurde schon seit mehr als einem Jahr über das Bürgergeld | |
diskutiert – vom Wahlkampf bis zum Eingang in den Koalitionsvertrag und | |
zuletzt [6][im Rahmen des Kabinettsbeschlusses]. Schließlich drehten | |
seitdem alle substanzlosen Ressentiments schon mindestens einmal ihre Runde | |
durch das Land. Dass sie sich jetzt einmal mehr lautstark im Umlauf | |
befinden, zeigt, welche Macht diese Angst hierzulande hat: Da verarscht | |
mich doch jemand!? | |
Tendenziöse Medienberichte generieren mit ihr Aufmerksamkeit: „Bürgergeld | |
lockt Sozialbetrüger“ (Bild) oder „Wegen Bürgergeld will Handwerker | |
kündigen“ (Focus). In den sozialen Medien lässt sich verfolgen, dass sie | |
verfängt: „Viele werden sich jetzt ebenfalls überlegen, auf Arbeit zu | |
verzichten – lohnt sich ja fast nicht mehr. #Buergergeld“, schreibt eine | |
Nutzerin. Ähnlich andere, die unter dem Hashtag wüten. | |
## Tritt nach unten | |
Wie bei Merz mischt sich auch bei ihnen immer wieder der Tritt nach unten | |
mit dem rassistischen Narrativ der vermeintlichen „Einwanderung in die | |
Sozialsysteme“. Eine Erzählung, die schon in den 1990er Jahren | |
Flüchtlingsheime und Migrantenwohnungen in Brand gesteckt hat. Wie damals | |
kalkulieren auch heute Politiker wie Söder und Merz diesen menschlichen | |
Schaden mit ein, wenn sie aus machtpolitischen Gründen diffuse, | |
substanzlose Gefühle der Benachteiligung anrufen. Krisen machen das Spiel | |
mit Abstiegsängsten attraktiv. | |
Politiker und Parteien, die eigentlich Interessen von Wohlhabenden | |
vertreten (siehe Positionen zu Vermögens- oder Erbschaftssteuer), hetzen | |
hier Menschen mit wenig Geld gegen andere Menschen mit weniger Geld auf. | |
Mit ihrer Pseudogerechtigkeit versuchen sie, Beschäftige im | |
Niedriglohnsektor gegen jene auszuspielen, die sich derzeit nicht im | |
Niedriglohnsektor ausbeuten lassen können oder wollen. Wer unbedingt am | |
„Arbeit muss sich lohnen“-Ruf festhalten möchte, der müsste dabei gerade | |
niedrige Löhne infrage stellen und nicht das Bürgergeld. | |
## Nicht zu schade für Desinformation | |
Stattdessen sind sich die Nachuntentreter nicht zu schade, Desinformation | |
zu betreiben: In sozialen Medien verbreitet die CSU Sharepics mit | |
Rechnungen, wonach Menschen, die arbeiten, weniger Geld im Monat zur | |
Verfügung haben als jene, die nicht arbeiten und Bürgergeld beziehen. „Wer | |
nur auf die Regelsätze der Grundsicherung abstellt, argumentiert unseriös“, | |
sagte der Duisburger Sozialwissenschaftler Gerhard Bäcker dem epd über | |
solche Rechnungen. Beschäftigte, die zum Mindestlohn von zwölf Euro | |
arbeiten, hätten möglicherweise noch Anspruch auf Wohngeld, Kindergeld | |
sowie Kinderzuschlag. | |
Auch Freibetragsregelungen sorgen dafür, dass Erwerbstätige mehr Einkommen | |
haben. Sie können aufstocken. Letzteres ignoriert auch eine [7][aktuelle | |
Studie des Instituts für Weltwirtschaft (IfW)], die ebenso behauptet, | |
Empfänger von Bürgergeld würden in vielen Haushaltskonstellationen besser | |
dastehen als Beschäftigte mit Mindestlohn – auch die Studienautoren | |
argumentieren deshalb unseriös. | |
Wer so verbissen jeden Cent aufrechnen will, der sollte wenigstens auch | |
rechnen können. | |
4 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Hartz-IV-Sanktionen/!5852281 | |
[2] https://twitter.com/Markus_Soeder/status/1587059323523457025 | |
[3] /Merz-unterstellt-Sozialtourismus/!5880211 | |
[4] /Einfuehrung-des-Buergergelds/!5888630 | |
[5] /Maskendeals-von-Unions-Abgeordneten/!5864350 | |
[6] /Neiddebatte-und-Buergergeld/!5877671 | |
[7] https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/sozialstaat-reform-wenn-si… | |
## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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