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# taz.de -- Studierende in der Dauerkrise: Irgendwie durch den Winter kommen
> Die Bundesregierung will Studierende mit Einmalzahlungen entlasten – und
> im Krisenfall das Bafög für alle öffnen. Doch so einfach ist das nicht.
Bild: Der Winter wird hart: Studierende bleiben weitestgehend sich selbst über…
Berlin taz | An ihrem letzten Geburtstag hatte Katharina Mertens nicht nur
Grund zur Freude. Im September wurde die Studentin der Kulturwissenschaften
25 Jahre alt – und damit endete für sie das staatliche Kindergeld. Die 219
Euro im Monat waren die einzige Unterstützung, die ihre Eltern für das
Studium überwiesen haben. Mertens muss in diesem Herbst und Winter also mit
deutlich weniger Geld auskommen. Ausgerechnet jetzt, ärgert sich die
Studentin, wo das Leben an allen Enden teurer wird.
Zumal Mertens seit ihrem 25. Geburtstag auch nicht mehr über ihre Familie
krankenversichert ist. Nochmal rund 80 Euro im Monat, die obendrauf kommen.
Ihr Ausweg: Sie zieht bald mit ihrem berufstätigen Freund zusammen. Die
Mietkosten teilen sie nach Einkommen auf. „Nur so geht es finanziell“, sagt
Mertens. „Wie ich sonst durch den Winter kommen würde, weiß ich nicht“.
So angespannt wie vor diesem Wintersemester war die Stimmung unter
Studierenden selten. [1][Pandemiemüdigkeit, Klimakrise, Krieg in Europa] –
und nun die explodierenden Lebenshaltungskosten. Auf zehn Prozent ist die
Inflation im September geklettert. So hoch lag der Wert zuletzt Anfang der
1950er Jahre. Putins Angriffskrieg in der Ukraine befeuert weiter die
Energiepreise.
Auch die [2][Mieten für Studierende] haben in diesem Jahr wieder merklich
angezogen. Laut einer Studie des Moses Mendelssohn Instituts kostet ein
WG-Zimmer im bundesweiten Schnitt jetzt 414 Euro – ein neuer Höchstwert. In
vielen beliebten Städten wie Hamburg, Berlin oder München liegt der Schnitt
schon jenseits der 500-Euro-Marke.
„Junge Menschen haben es gerade nicht leicht“, schrieb
Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) kürzlich [3][auf
Twitter]. „Erst kam #Corona, dann die #Energiekrise. Deshalb müssen
Studierende und auch Fachschüler zusätzlich entlastet werden. Das ist mir
ein besonders Anliegen“. Tatsächlich hat Stark-Watzinger erreicht, dass
Studierende bei den jüngsten [4][Ampel-Entlastungspaketen]
mitberücksichtigt wurden – jedoch nicht alle gleichermaßen.
So sollen Bafög-Empfänger:innen, die nicht bei den Eltern wohnen, zwei
Heizkostenzuschüsse erhalten (über 230 Euro und 345 Euro). Wer neben der
Uni angestellt oder in einem Minijob dazuverdient, müsste im Septemberlohn
die (zu versteuernde) Energiepreispauschale über 300 Euro bekommen haben.
Zudem hat Stark-Watzinger allen Studierenden eine einmalige Zahlung über
200 Euro versprochen.
Rahel Schüssler, Vorständin im Studierendenverband fzs, hält das für keine
richtige Entlastung. „Einmalzahlungen können die strukturelle Armut unter
Studierenden nicht bekämpfen und in der derzeitigen Höhe noch nicht einmal
kurzfristig lindern“, sagt sie der taz. Sie stört zudem, dass nur
Bafög-Empfänger:innen und damit ein sehr kleiner Teil der Studierenden die
volle Unterstützung bekommen sollen. Die beiden Heizkostenzuschüsse
erhalten nach Angaben des Bundesbildungsministeriums (BMBF) gerade mal rund
277.000 Personen – also weniger als zehn Prozent der Studierenden in
Deutschland.
Der fzs, der sich schon länger für ein elternunabhängiges Bafög einsetzt,
fordert, in der jetzigen Situation alle Studierenden stärker zu entlasten.
„Nur weil die Eltern theoretisch in der Lage sind, einem das Studium zu
finanzieren, heißt es nicht, dass sie ihrer Pflicht nachkommen“, so Rahel
Schüssler. „Die Hürde, die eigenen Eltern auf Unterhalt zu verklagen, ist
hoch.“
## Hauptsache günstig
So ähnlich formuliert das auch Katharina Mertens. Sie ist eine der
Studierenden, die weder vom Staat noch von ihren Eltern finanziell
unterstützt werden. Bafög erhält sie nicht, weil ihre Eltern zu viel
verdienen. Unterstützen tun sie ihre Tochter aber nicht. „Meine Eltern
verstehen nicht, warum ich etwas so Brotloses wie Kulturwissenschaften
studiere“, sagt sie.
Dass ihre Eltern sie in der Ausbildung eigentlich finanziell unterstützen
müssen, weiß Mertens. Vor juristischen Schritten schreckt sie zurück. „Das
würde die ohnehin schwierige Beziehung noch schwieriger machen“. Aus diesem
Grund will sie auch nicht, dass ihr richtiger Name in der Zeitung steht.
Mertens schlägt sich seit über acht Semestern mit Nebenjobs und mit einem
möglichst sparsamen Leben durch. Ihr Hauptkriterium beim Studienort war: so
günstig wie möglich. Ihre Wahl fiel auf Frankfurt an der Oder an der
polnischen Grenze. Die Stadt hatte lange den Ruf, schöne WG-Zimmer für
wenig Geld zu bieten, sagt Mertens. Diese Zeit sei mittlerweile vorbei. Auf
insgesamt rund 450 Euro Miete kommt sie derzeit für ihre Wohnung. Seit
ihrem 25. Geburtstag reicht das Geld nun trotz Nebenjob und
Büchergeld-Stipendium nicht mehr. „Bafög wäre der Traum für mich“.
Eigentlich hat die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag versprochen, das Bafög
elternunabhängiger zu machen. Dieses Versprechen hat sie, wie
beispielsweise auch eine Erleichterung für Studienfachwechsel (in der Regel
hat man dann keinen Anspruch mehr auf Bafög) noch nicht eingelöst.
## Nofallmechanismus greift ins Leere
Dennoch sehen Bildungspolitiker:innen der Ampelparteien das Bafög
als guten Grundstock in der jetzigen Situation. Von gelungener
„Krisenvorsorge“ spricht der Grüne Kai Gehring. Mit der ersten Bafög-Refo…
im April habe die Bundesregierung die Beitragssätze und das Wohngeld
erhöht, die Freibeträge und die Altersgrenze angehoben und so den Kreis der
Bafögberechtigten erweitert.
Ende September ging die zweite Bafög-Reform der Ampel durch den Bundestag.
Der sogenannte „Notfallmechanismus“ ist eine Antwort auf die Coronapandemie
– und die unzureichende Hilfe der ehemaligen Bildungsministerin Anja
Karliczek (CDU) für Studierende, die ihre Jobs verloren hatten. Deshalb
soll künftig vorübergehend Bafög erhalten, wer krisenbedingt den Nebenjob
verliert. Auch Studierende, die sonst kein Bafög bekommen würden. Den
Slogan „Wir machen das Bafög krisenfest“, hört man auch bei SPD und FDP.
Nur: Für die jetzige Krise ist der „Notfallmechanismus“ nicht geeignet.
Tatsächlich greift er nur in dem Fall, dass wie zu Beginn der Pandemie der
Arbeitsmarkt einbricht und Studierende nachweisen können, dass sie deshalb
ihre Nebenjobs verloren haben. Heißt: Wegen der hohen Lebenshaltungskosten
kann niemand beim BMBF zusätzliche Gelder beantragen.
„Welchen Sinn ergibt ein Notfallmechanismus, wenn er in dieser Krise gar
nicht zur Anwendung kommen kann?“, kritisiert der CDU-Abgeordnete Thomas
Jarzombek. Ampelpolitiker:innen kontern, dass es die Union war, die
sich noch unter der Groko massiv gegen die Öffnung des Bafög für bedürftige
Studierende gesträubt hat – und stattdessen lieber auf bürokratische
Nothilfen sowie Darlehen setzte.
## Lange Wartezeiten für Psychosozialberatung
Matthias Anbuhl, Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks (DSW),
bezeichnet den „Notfallmechanismus“ deshalb zwar als Fortschritt.
Allerdings hält auch er ihn für zu eng gefasst. „Das Bafög sollte jetzt
wegen der Inflation für sechs Monate geöffnet werden“, sagt Anbuhl im
Gespräch mit der taz. Die Entlastungen, die die Bundesregierung in Aussicht
gestellt hat, reichen aus seiner Sicht nicht aus. „Viele Studierende
befinden sich in einer akuten Notsituation und wissen nicht, wie sie über
den Winter kommen“.
Anbuhl beobachtet, dass die existentiellen Sorgen auch zunehmend auf die
psychische Verfassung der jungen Menschen schlagen. So hätten die
Wartezeiten für Psychosozialberatung bei den Studierendenwerken in diesem
Jahr stark zugenommen. Nun steige mit den finanziellen Nöten der Druck noch
weiter. Eine Beraterin der Psychotherapeutischen und Psychosozialen
Beratung des Studentenwerks München berichtet der taz, dass Studierende
wegen der aktuellen Wirtschaftslage sogar bereits ihr Studium aufgegeben
hätten.
DWS-Generalsekretär Anbuhl fordert deshalb zweierlei: eine baldige
Nachbesserung bei den Bafögsätzen, denn die jüngste Erhöhung habe längst
die Inflation aufgefressen. Und: die schnelle Auszahlung der bereits
beschlossenen Hilfen. Wie beispielsweise die Einmalzahlung über 200 Euro
ablaufen soll, steht noch gar nicht fest.
Das Bundesbildungsministerium teilt auf Anfrage mit, es arbeite
„gegenwärtig mit Hochdruck an der Umsetzung“. Auch die anderen Gelder
lassen auf sich warten. Erst rund 45 Prozent der Berechtigten haben etwa
die [5][erste Heizkostenpauschale] erhalten. Beschlossen wurde sie im März.
Bei der zweiten Heizkostenpauschale sollen „erste Auszahlungen
voraussichtlich Anfang 2023“ erfolgen.
Bis dahin müssen sich Studierende ohne staatliche Hilfe über Wasser halten.
Es wird ein langes Wintersemester.
21 Oct 2022
## LINKS
[1] /Studierende-in-der-Dauerkrise/!5886044
[2] /Steigende-Lebenshaltungskosten/!5868824
[3] https://twitter.com/starkwatzinger?ref_src=twsrc%5Egoogle%7Ctwcamp%5Eserp%7…
[4] /Steigende-Preise-fuer-Gas-Heizoel-Strom/!5865765
[5] /Entlastungen-fuer-Buerger/!5867154
## AUTOREN
Ralf Pauli
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