| # taz.de -- Steigende Lebenshaltungskosten: Lehrjahre sind Hungerjahre | |
| > Studierende und Azubis gehören zu den einkommensschwächsten Haushalten in | |
| > Deutschland. Die Inflation bringt sie zusätzlich in finanzielle Nöte. | |
| Bild: Für mehr als Dosenravioli reicht es oft nicht | |
| Berlin taz | Das Leben wird für alle viel teurer: Im Juni lag die | |
| Inflationsrate bei 7,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, die Preise an der | |
| Tankstelle haben sich um mehr als ein Drittel erhöht, Heizölpreise haben | |
| sich verdoppelt, und der Strompreis ist um über 20 Prozent gestiegen. Auch | |
| Lebensmittel sind 12,7 Prozent teurer als im Vorjahr. | |
| Diese Entwicklung trifft einkommensschwache Personen besonders hart. Der | |
| Preisanstieg von Konsumgütern des täglichen Bedarfs kann unter Umständen | |
| existenzbedrohend sein. Die 20 Prozent der Haushalte mit den niedrigsten | |
| Einkommen geben fast 70 Prozent ihres Nettohaushaltseinkommens für die | |
| durch die Inflation besonders belasteten Bereiche Nahrungsmittel, | |
| [1][Wohnen] und Verkehr aus. | |
| Die Preissteigerung fällt also für sie, relativ gesehen, mehr ins Gewicht. | |
| Wer schon vor dem Anstieg der Inflationsrate am Monatsende kein Geld übrig | |
| hatte, der:die muss nun noch kürzer treten oder rote Zahlen auf den | |
| Kontoauszügen in Kauf nehmen. | |
| Das betrifft auch in hohem Maße junge Menschen. Gemäß der 21. | |
| Sozialerhebung zur wirtschaftlichen und sozialen Lage von Studierenden | |
| haben diese im Monat durchschnittlich 918 Euro zur Verfügung. Studierende | |
| gehören damit zu den einkommensschwächsten Personen der Gesellschaft. Wer | |
| in den deutschen Metropolregionen um Berlin, Hamburg oder München lebt, | |
| muss oft 400-500 Euro allein für ein WG-Zimmer zahlen. | |
| Das Einkommen von Auszubildenden variiert von Branche zu Branche und von | |
| Ausbildungsjahr zu Ausbildungsjahr, bewegt sich aber durchschnittlich um | |
| 1.000 Euro Bruttogehalt pro Monat. Damit gehören auch sie zu den | |
| einkommensschwächeren Haushalten. | |
| Trotzdem werden junge Leute in Deutschland von der Politik oft übersehen. | |
| Während der Coronapandemie, aber auch in der Gaskrise gibt es keine | |
| gesonderte finanzielle Entlastung für junge Menschen. Im Juni beschloss die | |
| Ampel-Regierung mit Unterstützung der Linken-Fraktion zwar eine Erhöhung | |
| des Bafög-Regelsatzes um 5,7 Prozent zum Wintersemester 2022/2023. Die | |
| Erhöhung wird aber in Gänze von der noch höheren Inflationsrate | |
| aufgefressen. | |
| Das bemängelt die oppositionelle Unionsfraktion, sowie Matthias Anbuhl, | |
| Generalsekretär des Deutschen Studienwerkes (DSW). „In den | |
| Sozialberatungsstellen der Studenten- und Studierendenwerke sind | |
| finanzielle Fragen das Top-Thema“, berichtet der Generalsekretär des DSW | |
| der taz. | |
| „Studierende sind frustriert und verängstigt“, sagt Florian Ellwanger, | |
| studentischer Sprecher der Studierendenvertretung der Universität | |
| Regensburg gegenüber der taz. Emotionale, aber auch finanzielle | |
| Unterstützung erhalten die Studierenden vorwiegend von Freund:innen. | |
| „Häufig helfen sich Studierende gegenseitig über finanzielle Engpässe | |
| hinweg, besonders in der Mensa“, so Ellwanger. Die Studierendenvertretung | |
| der Uni Regensburg fordert, dass das Bafög elternunabhängig wird, damit | |
| mehr Studierende finanzielle Unterstützung vom Staat bekommen können. 2019 | |
| erhielten nur rund 11 Prozent der immatrikulierten Studierenden Bafög. | |
| Für junge Leute sind in der aktuellen Krise keine gezielten | |
| Entlastungsprogramme geplant. Auch die [2][bereits beschlossenen | |
| allgemeinen Entlastungspakete] der Bundesregierung schaffen es unterm | |
| Strich nicht, die Mehrbelastung auszugleichen. Die Energiepreispauschale, | |
| einmalige Heizkostenzuschüsse, die vorgezogene Abschaffung der EEG-Umlage, | |
| der Tankrabatt und das 9-Euro-Ticket haben zwar eine entlastende Wirkung – | |
| es reicht aber nicht. Das zeigt eine am 13.7. von der DIW Econ | |
| veröffentlichte Studie. | |
| Aufgrund dessen [3][befürwortet die DIW den Vorschlag der Diakonie], | |
| Leistungsempfänger:innen pauschal 100 Euro pro Monat für mindestens | |
| sechs Monate auszuzahlen. Das würde die inflationsbedingte Mehrbelastung | |
| für die einkommensschwächsten zehn Prozent der Bevölkerung erfolgreich | |
| ausgleichen, so die Berechnungen des Instituts. | |
| Die Diakonie macht aber keine Vorschläge für die Entlastung von | |
| Studierenden oder Auszubildenden. Die vorgesehene Pauschale soll nur an | |
| Leistungsempfänger:innen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) ausgezahlt | |
| werden. | |
| Bafög-Bezüge regelt ein gesondertes Gesetz, das | |
| Bundesausbildungsförderungsgesetz. Das bedeutet, Studierende würden die | |
| Pauschale nicht erhalten. Auszubildende sind angestellt und beziehen keine | |
| Leistungen. Auch sie würden also nicht von der von der Diakonie | |
| vorgeschlagenen Pauschalzahlung profitieren. | |
| ## PROTOKOLLE | |
| ## „Hätte die Politik früher auf Erneuerbare umgestellt“ | |
| Vor einigen Wochen hat Felix die Inflation zum ersten Mal am eigenen Leib | |
| gespürt. Er stand im Supermarkt. 250 Gramm Butter kostete plötzlich 3 Euro. | |
| „What the fuck? Ein Päckchen Butter kann doch nicht 3 Euro kosten“, schoss | |
| ihm durch den Kopf. | |
| Lange hatte der 24-Jährige die Inflation nur durch den Nachrichtenkonsum | |
| mitbekommen. Jetzt spürt er die teureren Preise bei jedem Einkauf: „5,99 | |
| Euro für einen Brokkoli – sind die wahnsinnig?“ Dann ist da noch die neue | |
| Stromrechnung. Nach der kürzlich verkündeten Preisanpassung muss Felix nun | |
| monatlich 64 Euro für die Stromversorgung zahlen. Vorher waren es noch 45 | |
| Euro im Monat. Eine Preissteigerung um mehr als 40 Prozent. Anders als die | |
| Lebensmittel- und Strompreise ist sein Gehalt nicht angestiegen. | |
| Als Unternehmensberater verdient Felix für seine Altersklasse | |
| verhältnismäßig gut. Die Inflation bring ihn daher finanziell (noch) nicht | |
| in die Bredouille. „Ich muss zum Glück keine Angst haben, dass ich gar kein | |
| Geld mehr habe. Ich bin sehr privilegiert“, merkt Felix an. Trotzdem | |
| belastet ihn die aktuelle Situation. Felix hat Angst, dass er langfristig | |
| seinen bisherigen Lebensstandard nicht wird halten können. Vor der | |
| Inflation hatte Felix mit dem Gedanken gespielt, noch mal zu studieren. Er | |
| würde gerne Psychologe werden. „Vorher war die Option, noch mal zu | |
| studieren, im Rahmen des Möglichen. Ich hätte es finanziell schon stemmen | |
| können. Jetzt weiß ich es nicht mehr.“ Bei den steigenden Preisen ist Felix | |
| froh, eine unbefristete Arbeitsstelle zu haben. | |
| Die emotionale Mehrbelastung durch die Preissteigerung reiht sich für Felix | |
| in die seit Jahren anhaltenden und sich aufbauenden globalen Krisen ein. | |
| Die Inflation verstärkt das Weltuntergangsnarrativ, das aufgrund der | |
| Klimakrise, der Pandemie und der langsam bröckelnden Demokratien in einigen | |
| westlichen Staaten für Felix sehr präsent ist. | |
| Felix teilt seine Sorgen mit Freund:innen und drückt auch seine | |
| Frustration aus: „Hätte die Politik mal früher und schneller auf | |
| erneuerbare Energien umgestellt, wie vor allem wir – die junge Generation – | |
| es seit Jahren fordern, dann wären wir jetzt gar nicht in der Situation.“ | |
| Für Felix wird jetzt sichtbar, wie schlecht die Energiepolitik der | |
| Bundesregierung in den letzten Jahren war. „Und die verheerenden | |
| Konsequenzen müssen wieder die Menschen ertragen, die vorher auch schon | |
| wenig Geld hatten“, kommentiert Felix frustriert. | |
| ## „Wie soll ich mir eine Hose leisten?“ | |
| Sami ist 21 Jahre alt. Im August fängt er eine Ausbildung zum | |
| Einzelhandelskaufmann an. Sein Nettogehalt im ersten Ausbildungsjahr wird | |
| sich auf rund 750 Euro belaufen. „Das reicht einfach nicht“, betont der | |
| angehende Kaufmann. | |
| Miet- und Nebenkosten für seine Wohnung in Norden schlucken 500 Euro im | |
| Monat. Den Anstieg der Preise für Lebensmittel spürt Sami sehr. „Wenn ich | |
| aus dem Supermarkt komme, ist die Tüte fast leer, obwohl ich 50 Euro | |
| ausgegeben habe.“ Eigentlich sollten Lebensmittel im Wert von 50 Euro für | |
| eine Woche genügen. Aufgrund der steigenden Preise reicht es oft nicht | |
| mehr. „Manchmal esse ich nur Brot und Butter und trinke Tee“, berichtet der | |
| 21-Jährige. | |
| Dann kommen für Sami noch teure Medikamente hinzu. Er leidet unter | |
| Neurodermitis. 100 Gramm einer Creme gegen seine rissige und juckende Haut | |
| kostet 15 Euro. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten nicht. | |
| Neue Kleidung hat Sami seit 2020 nicht mehr gekauft. „Wenn ich im Monat | |
| knapp 400 Euro zur freien Verfügung habe und mindestens 200 davon allein | |
| für Essen ausgeben muss, wie soll ich mir da eine Hose leisten?“ Sami wird | |
| versuchen, sich mit Wochenendjobs etwas zu seinem Azubigehalt | |
| dazuzuverdienen. | |
| „Tag für Tag wird es schlimmer“, beobachtet er. „Es kann sein, dass ich … | |
| Winter von der Arbeit nach Hause komme und es kalt in meiner Wohnung ist.“ | |
| Die Vorstellung, im Winter nicht mehr heizen und warm duschen zu können, | |
| macht Sami Angst. Samis Stundenlohn wird trotz steigender Preise nicht | |
| erhöht. Hilfe vom Sozialamt oder anderweitige Unterstützung vom Staat | |
| bekommt er auch nicht. „Das kann doch eigentlich nicht sein“, empört sich | |
| Sami. | |
| ## „Einfach traurig, dass zwei Jobs nicht reichen“ | |
| Vollzeitstudium und zwei Nebenjobs. So sieht der Alltag von Lara (Name von | |
| der Redaktion geändert) aus. Die 25-Jährige studiert Volkswirtschaftslehre | |
| an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Nebenher arbeitet sie auf | |
| 450-Euro-Basis beim Studienkreis. Darüber hinaus ist sie sechs Stunden pro | |
| Woche als Buchhalterin tätig. Den zweiten Job macht sie „schwarz“, um die | |
| vorgeschriebene Minijob-Grenze nicht zu überschreiten. Andernfalls müsste | |
| Lara Sozialabgaben und Steuern zahlen und hätte trotz mehr Arbeit weniger | |
| Geld im Portemonnaie. | |
| Von 8 bis 19 Uhr ist Lara jeden Tag unterwegs, um Uni und Arbeit zu | |
| bewältigen. Sport machen und Freund:innen treffen müssen hinten anstehen. | |
| Das wird sich auch in den kommenden Semesterferien nicht ändern. Die | |
| vorlesungsfreie Zeit ist für viele Studierende eine Zeit für Entspannung, | |
| Spaß und Urlaub. Lara freut sich, dass sie in den Semesterferien Vollzeit | |
| arbeiten kann. Eine weitere Erleichterung ist, dass sie nächstes Semester | |
| weniger Kurse belegen muss – und so mehr Zeit für Arbeit hat. | |
| Mit Unterhaltszahlungen ihrer Eltern und den zwei Jobs hat die Studentin | |
| monatlich 800 Euro zur Verfügung. Etwas mehr als die Hälfte davon | |
| verschluckt die Miete. „Ich merke die Inflation auf jeden Fall sehr“, | |
| berichtet Lara. Seit sie 25 Jahre alt ist, muss sie die Krankenversicherung | |
| selbst zahlen und bekommt auch kein Kindergeld mehr. | |
| „Da wird das Geld sowieso knapp und dann merkt man es echt dolle, wenn | |
| Sprit- und Lebensmittelpreise steigen. Am Monatsende komme ich meistens bei | |
| null raus. Manchmal muss ich in den Dispo gehen“, erzählt Lara. | |
| In den letzten Monaten konnte sie 200 bis 300 Euro für den Notfall | |
| zurücklegen. „Falls die Waschmaschine mal kaputt geht.“ Ansonsten hat Lara | |
| kein Erspartes. | |
| Ihre prekäre finanzielle Lage ist ein Auslöser für die depressive | |
| Verstimmung, unter der Lara leidet. „Es ist einfach so belastend und | |
| stressig und ich sehe auch keinen Ausweg.“ Lara ist wütend und frustriert. | |
| „Es ist einfach traurig, dass zwei Jobs und Unterhalt der Eltern nicht | |
| ausreichen.“ | |
| Sie hat das Gefühl, dass Studierende immer übersehen und vergessen werden. | |
| Coronazuschüsse zum Beispiel gab es nur für Arbeitende, und auch jetzt, | |
| während der Gaskrise und Inflation, lässt finanzielle Unterstützung für | |
| Studierende auf sich warten. „Ich würde mir wünschen, dass es mal jemanden | |
| interessiert, wie es uns finanziell und mental geht“, sagt die Studentin. | |
| 24 Jul 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Steigende-Preise-fuer-Gas-Heizoel-Strom/!5865765 | |
| [2] /Geplantes-Buergergeld-der-Regierung/!5868857 | |
| [3] /Hohe-Inflation/!5864351 | |
| ## AUTOREN | |
| Marita Fischer | |
| ## TAGS | |
| Inflation | |
| Studierende | |
| Azubis | |
| Schwerpunkt Armut | |
| GNS | |
| Energiekrise | |
| Studierende | |
| Schwerpunkt Armut | |
| Energie | |
| Ampel-Koalition | |
| Rechte Szene | |
| Bürgergeld | |
| Inflation | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Armut unter Studierenden: Die Not nicht im Blick | |
| Die Sozialerhebung des Studierendenwerks zeigt: Die Lage ist für viele | |
| prekärer geworden. Die Ampel sollte ihren Koalitionsvertrag ernst nehmen. | |
| Forscherin über soziale Ungleichheit: „Man kann Armut vermeiden“ | |
| Wer hat die Deutungshoheit über Gerechtigkeit? Politikwissenschaftlerin | |
| Roswitha Pioch über Umverteilung, Teilhabe – und das geplante Bürgergeld. | |
| Regierung wegen Gaspreisen unter Druck: Die Angst vor dem eiskalten Herbst | |
| Die hohen Gaspreise belasten Millionen VerbraucherInnen. Sparen hilft schon | |
| eine Menge – aber die Koalition muss Geringerverdienende unterstützen. | |
| Entlastungen für Bürger: Lindner bremst | |
| Die Ampel-Koalition verspricht aufgrund der steigenden Preise Entlastung | |
| für Bürger. Aber was ist überhaupt konkret geplant? | |
| Mobilisierung durch das rechte Lager: Gegen Armut, gegen rechts | |
| Wegen explodierender Kosten droht eine neue Armutswelle. Rechte machen sich | |
| bereit, die Not für sich zu nutzen. Wo bleibt die Mobilisierung von links? | |
| Die SPD und das Bürgergeld: Der lange Weg zu sich selbst | |
| Die SPD hat Eckpunkte für ein Bürgergeld vorgestellt. Konsequent umgesetzt | |
| könnte es viel Gutes bringen – und die Genossen mit ihren Idealen | |
| versöhnen. | |
| Historische Zinserhöhung in Europa: Inflation treibt EZB zum Handeln | |
| Die Europäische Zentralbank muss auf die steigenden Preise reagieren. Zum | |
| ersten Mal seit 11 Jahren erhöht sie am Donnerstag den Leitzins. |