# taz.de -- Die SPD und das Bürgergeld: Der lange Weg zu sich selbst | |
> Die SPD hat Eckpunkte für ein Bürgergeld vorgestellt. Konsequent | |
> umgesetzt könnte es viel Gutes bringen – und die Genossen mit ihren | |
> Idealen versöhnen. | |
Bild: Gegen Hartz IV: Kundgebung der Montagsdemonstration in Leipzig im August … | |
[1][Mitten in der Sommerpause hat die SPD] eine kleine Zeitenwende | |
eingeleitet. Am Mittwoch stellte Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil | |
seine Eckpunkte für die Einführung des Bürgergelds vor: Die SPD will | |
tatsächlich Schluss mit dem entwürdigenden Hartz-IV-System machen und einen | |
Paradigmenwechsel vom Fordern zum Fördern vollziehen. | |
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist in ihrer über 150-jährigen | |
Geschichte stark geworden, weil sie an der Seite der Menschen für deren | |
Würde und für soziale Garantien kämpfte. Als Gerhard Schröder 2003 die | |
Agenda 2010 ankündigte, da [2][verabschiedete sich die SPD aus dieser | |
Rolle]. Die Genossin wurde zur Antreiberin. Das System Hartz IV machte | |
Schluss mit der Sicherung des Lebensstandards, es zwang die | |
Empfänger:innen, jeden Bullshit-Job anzunehmen. | |
Parallel dazu, baute die damalige rot-grüne Regierung | |
Arbeitnehmer:innenrechte ab, lockerte den Kündigungsschutz, weitete | |
Leiharbeit aus und schuf so den größten Niedriglohnsektor Europas. | |
Irgendwohin mussten die über 4 Millionen Arbeitslosen ja vermittelt werden. | |
Die Folgen waren dramatisch – [3][nicht nur für die SPD, die seither mit | |
Wähler:innenschwund ringt] – sondern auch für die Gesellschaft. Die | |
Leistungsgesellschaft, in der es „kein Recht auf Faulheit“ gebe, wie | |
Schröder damals formulierte, fraß sich auch in die Demokratie und schuf | |
einen Nährboden für rechte Parteien. Denn der Glaube an Leistung liefere | |
keine Basis für Solidarität, so der politische Philosoph Michael J. Sandel, | |
der den Aufstieg der Rechten analysierte. | |
## Vertrauen statt Verwirrung, Qualifizierung vor Vermittlung | |
Das neue Bürgergeld soll nun einige dieser Verirrungen heilen. In den | |
Jobcentern soll eine Kultur von Vertrauen auf Augenhöhe herrschen – | |
eigentlich eine Selbstverständlichkeit –, Qualifizierung wichtiger sein als | |
Vermittlung: Statt Menschen in schlecht bezahlte Aushilfsjobs zu hieven, | |
sollen sie Zeit bekommen, einen Berufsabschluss zu machen, | |
Langzeitarbeitslose sollen langfristig mit staatlicher Hilfe in den | |
Arbeitsmarkt integriert werden. | |
Die Angst vor dem sozialen Absturz, samt Umzug in den Plattenbau, der Hartz | |
IV begleitet, soll gemildert werden: Mit dem Bürgergeld soll auch eine | |
zweijährige Schonzeit für Vermögen und Wohnen gelten. Auch die Sanktionen | |
sollen gelockert werden. Das sind gute Ansätze, sie müssen aber konsequent | |
umgesetzt werden. Die Sanktionen, die eine Kultur von Gängelung und | |
Misstrauen schaffen, gehören abgeschafft. Für die rund 1,5 Millionen | |
Kinder, die derzeit in Bedarfsgemeinschaften – auch so ein Unwort – leben, | |
muss eine schnelle Lösung her. | |
Heil hat eine andere Berechnungsgrundlage für die Regelsätze angekündigt, | |
diese aber noch nicht vorgelegt. Derzeit orientieren sie sich an den | |
Ausgaben der ärmsten 20 Prozent der Gesellschaft und rechnen als Luxus | |
eingestufte Dinge wie Reisen oder Restaurantbesuche raus. Im Ergebnis | |
sichern die 449 Euro Grundbetrag für einen Erwachsenen das Überleben, aber | |
keine soziale Teilhabe. | |
Selbst der Namensgeber der Reformen, Peter Hartz, und seine Kommission | |
hatten damals schon 511 Euro als Regelsatz vorgeschlagen. Das entspräche | |
heute, wenn man die Inflation berücksichtigt, 674 Euro. Etwa das Niveau der | |
Garantiesicherung, wie sie die Grünen vorschlagen. | |
Eine spürbare Erhöhung der Regelsätze wird teuer, ohne Zweifel. Bereits | |
heute sind im Haushalt 21,1 Milliarden für das Arbeitslosengeld II | |
eingeplant, hinzu kommen 9,8 Milliarden Euro, mit denen sich der Bund an | |
den Kosten für Unterkunft und Heizen beteiligt. Aber das Argument „zu | |
teuer“ zieht in einem Land nicht, in dem sich das Gesamtvermögen in den | |
letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt hat. Es ist nur extrem ungleich | |
verteilt. Die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung besitzen 60 Prozent vom | |
Kuchen, die ärmere Hälfte fast nichts. | |
Die SPD sieht sich, so steht es im Grundsatzprogramm, dem Prinzip der | |
sozialen Demokratie verpflichtet, einer Ordnung, in der alle Menschen ein | |
Leben in sozialer Sicherheit führen können. Bis dahin ist es noch ein | |
langer Weg. Aber mit einem konsequenten Bürgergeld kämen die | |
Sozialdemokraten dieser Idee einen Schritt näher. Es wäre eine Versöhnung | |
mit sich selbst und ihren Idealen. | |
22 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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