# taz.de -- Studierende in der Dauerkrise: „Die Leichtigkeit ist dahin“ | |
> Erst Corona, dann Krieg und Inflation: Studierende leiden unter den | |
> aktuellen Krisen. Viele haben psychische Probleme oder Geldnot. Vier | |
> Hilferufe. | |
Bild: Die Anzahl der Studierenden mit psychischen Problemen ist seit der Pandem… | |
## „Eine Maske, die ihre Ängste verbirgt“ | |
Jeremias, 21, studiert Informatik in München | |
Zum Wintersemester 2020/21 habe ich mein Bachelor-Studium im Fach | |
Informatik in München begonnen. Ich blieb in meinem Elternhaus in | |
Neuruppin, nach München umzuziehen, war nicht möglich: Man durfte zeitweise | |
nicht nach München reisen, um ein WG-Zimmer zu besichtigen. Die Kurse waren | |
ohnehin von Anfang an komplett online – wofür soll ich da auch nach München | |
ziehen? Mit meinen Mitkomiliton:innen hatte ich nahezu keinen Kontakt | |
von Anfang an. Ich nahm damals an Kennenlernaktionen teil, aber immer nur | |
über Zoom. Ich verlor schnell die Motivation an den Spielen. | |
Was dazu kommt: Wir sind über Eintausend Menschen im Jahrgang. Es sind so | |
viele, dass du verdammt Glück haben musst, jemanden, den du mal irgendwo | |
gesehen hast, online wiederzufinden. Die Vorlesungen waren noch schlimmer: | |
Es war, als ob du einen Netflix-Film schaust. Abgespielte Streams ohne | |
jegliche Interaktion zwischen den Studierenden. Ich fühlte mich isoliert. | |
Es dauerte bis zum Februar 2021, dass mir klar wurde: So kann es nicht | |
weitergehen. Mit zwei Freunden fuhr ich nach Spanien in ein Ferienhaus. | |
Dort verbrachten wir das gesamte Sommersemester – das war mein bisher | |
schönstes Semester. Wir haben Ausflüge gemacht, zusammen gegessen und sind | |
viel gewandert. Ich fühlte mich nicht mehr einsam. In der Zeit merkte ich, | |
wie wichtig mir der soziale Austausch ist. Mein drängendstes Grundbedürfnis | |
war erfüllt. | |
Zurück aus Spanien, beschloss ich im Wintersemester 2021/22 nach Berlin zu | |
ziehen. Meine Freunde leben fast alle in Berlin, ich wollte sie um mich | |
haben. Wir spielten gemeinsam Tischtennis an den Abenden, kochten gemeinsam | |
in unseren WGs. Nun verlor ich meine Motivation für das Studium. In | |
Tutorien war ich nicht mehr aufmerksam, ich investierte kaum noch Zeit in | |
die Prüfungsvorbereitung – und fiel prompt durch zwei Prüfungen. Ich hatte | |
das Gefühl, nirgendwo wirklich anzukommen. | |
Zum jetzigen Sommersemester zog ich dann doch nach München. Ich hatte die | |
Hoffnung, dass ich wieder motivierter werde, wenn ich dort ins | |
Studierendenleben eintauchen kann. Die Hoffnung war vergebens. Es fiel mir | |
immer noch schwer, Kontakte zu knüpfen. Das lag auch daran, dass viele | |
Mitkommiliton:innen nicht erst im vierten Semester nach München | |
gezogen sind und sich bereits Gruppen gebildet hatten. Ich ging trotzdem | |
auf Leute zu und begann Unterhaltungen, aber bei einem so großen Jahrgang | |
kommt es einem Wunder gleich, dieselbe Person in der nächsten Veranstaltung | |
im Hörsaal ausfindig zu machen. | |
Ich wurde immer einsamer. Meine Unileistungen ließen drastisch nach, das | |
stresste mich. Ich geriet in einen Teufelskreis. Ein Ausweg aus dem | |
stressigen und bislang unangenehmen Studium wäre es, es so schnell wie | |
möglich abzuschließen, dachte ich. Weil es mir aber nicht gut ging im | |
Alltag, widmete ich mich anderen Aktivitäten – zum Beispiel programmierte | |
ich an meinen privaten Projekten weiter – und fiel wieder durch Prüfungen. | |
Das Ziel war in weite Ferne gerückt. | |
Ich habe viel mit Selbstzweifeln zu kämpfen. Das Schlimme ist: Alle tragen | |
eine Art Maske an der Universität. Keine FFP2-Maske, sondern eine Maske, | |
die ihre Ängste verbirgt. Als ich zur Studienberatung ging, sagte man mir | |
dort, es gehe vielen schlecht und sogar schlechter als mir. Wenn es aber | |
niemand zeigt, fühlt man sich allein mit den Problemen und Ängsten. | |
Eine [1][Coronainfektion] im Juni knockte mich für zwei Wochen aus. An den | |
Begleitumständen der Erkrankung bin ich psychisch kaputtgegangen. Ich hatte | |
depressive Schübe, Stimmungsschwankungen, und das akkumulierte sich alles | |
in sehr viel Stress. Meine Hände rissen auf, die Ärztin diagnostizierte mir | |
eine psychosomatische Neurodermitis. Das zog sich über drei Monate hin, und | |
ich musste Baumwollhandschuhe tragen, weil ansonsten die Haut bei den | |
kleinsten Berührungen aufriss. Erst in den Semesterferien verheilten die | |
Hände. | |
Die Semesterferien fühlten sich gut an. Ich reiste herum und besuchte | |
Freunde in Berlin und Leipzig. Diese Woche aber ging es mir wieder | |
schlecht. Ich werde merklich gereizter und sensibler im Alltag, wenn ich an | |
die kommende Zeit denke. Mitte Oktober muss ich eine Prüfung nachschreiben. | |
Und die Woche darauf beginnt schon das Wintersemester. Trotzdem habe ich | |
mir vorgenommen, nicht hoffnungslos zu sein, sondern neugierig darauf, was | |
das kommende Semester mit sich bringt, und ob es mir gelingt richtige | |
Freunde beim Sport oder in der Uni zu finden – und endlich im | |
Informatikstudium in München anzukommen. | |
Protokoll: Johannes Runge | |
## „Diese ganzen Krisen beeinflussen meine Leistungen“ | |
Asli, 27, studiert in Potsdam den Master of Education für Deutsch und | |
Geschichte | |
Wenn ich die vergangenen zweieinhalb Jahre in einem Wort beschreiben soll, | |
würde ich sagen: anstrengend. Als die Coronakrise im Frühjahr 2020 begann, | |
habe ich noch an der Universität Bayreuth studiert und war in der | |
Abschlussphase meines Lehramtsstudiums. Ich musste nur noch meine | |
Zulassungsarbeit schreiben. Dass ich keine Kurse mehr zu belegen hatte, war | |
für mich in dieser Situation eine Entlastung. | |
In den ersten drei Monaten habe ich viel Sport gemacht, habe auf meine | |
Ernährung geachtet und weniger gearbeitet. Insgesamt bin ich kürzer | |
getreten. Das war fast etwas meditativ für mich. Gleichzeitig hatte ich | |
Angst: Wie entwickelt sich die medizinische Versorgung? Geht das Ganze | |
jetzt drei Monate oder am Ende doch ein oder zwei Jahre? So vieles war so | |
ungewiss. | |
Ich musste mir aber keine Sorgen um die Miete oder um die | |
Lebensunterhaltungskosten machen, weil ich zu diesem Zeitpunkt noch bei | |
meinen Eltern gewohnt habe. Auch wenn meine Eltern in prekären | |
Verhältnissen arbeiten, hat mich das gut aufgefangen. Meine Mutter ist in | |
der Produktion eines Automobilzulieferers tätig, sie hat Kurzarbeitergeld | |
bekommen. Mein Vater musste sich eine neue Beschäftigung suchen. Er ist | |
eigentlich in der Veranstaltungsbranche tätig, doch die meisten Aufträge | |
wurden storniert oder waren nicht mehr realisierbar. Er hat dann als | |
Quereinsteiger als Sicherheitsmitarbeiter gearbeitet – unterbezahlt. | |
In den ersten sechs Monaten der Pandemie gab es für mich keine finanziellen | |
Schwierigkeiten. Ich konnte rund zwanzig Stunden im Monat als studentische | |
Hilfskraft weiterarbeiten. Als aber ab Ende des Sommers klarer wurde, dass | |
die Pandemie nicht so schnell vorbei sein würde, habe ich mich nach einem | |
zweiten Job umgesehen. [2][BAföG] habe ich nicht mehr bekommen, meine | |
Härtefallanträge wurden abgelehnt. Immerhin ergaben sich während der | |
Coronakrise neue Jobmöglichkeiten für Student:innen, so fand ich schnell | |
einen zweiten Job, in dem ich ziemlich viel arbeiten konnte und einen | |
Stundenlohn von 12 Euro hatte. | |
Mit meiner Abschlussarbeit ging es jedoch nur schleppend voran, weil ich | |
eben mehr arbeiten musste. Deshalb habe ich die gesamten drei | |
Coronasemester dafür gebraucht. Diese Zeit war insgesamt sehr fordernd, | |
weil mein jetziger Mann und ich heiraten wollten und unsere erste | |
gemeinsame Wohnung bezogen haben. Im Sommer 2021 bestand keine Aussicht auf | |
eine Verbesserung der Lage, ich kam auch mit meiner Abschlussarbeit kaum | |
voran. Die unsichere Situation hat mich immer mehr belastet. Beruhigend war | |
es für mich, dass die gesamten drei Semester wegen der Ausnahmeregelung | |
nicht auf die Regelstudienzeit angerechnet wurden. | |
Die aktuelle Situation ist aber nochmal eine ganz andere Hausnummer für | |
mich. Jetzt studiere ich in Potsdam den Master of Education mit den Fächern | |
Deutsch und Geschichte und lebe in Berlin. Auch wenn ich mir gemeinsam mit | |
meinem Mann eine Wohnung teile, ist es schwierig über die Runden zu kommen. | |
Mit der Wohnung hatten wir Glück, wir haben etwas Bezahlbares in einem | |
Randbezirk gefunden. Aber selbst mit einer Miete von rund 700 Euro ist es | |
durch die steigenden Kosten in allen anderen Bereichen neben dem Studium | |
ein Kraftakt. | |
Nach dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine ist alles noch | |
schwieriger geworden. Am meisten belastet mich derzeit die Ungewissheit | |
über bevorstehende Rechnungen. Was wird wohl an Gas- und Stromrechnungen | |
auf uns zukommen? Wie teuer wird der wöchentliche Einkauf? Seitdem die | |
Preise so gestiegen sind, ist es schon eine Investition, wenn wir in ein | |
Restaurant gehen. Unter dreißig Euro kommen wir zu zweit nicht raus. Ich | |
überlege dann schon, ob wir uns das überhaupt leisten können. | |
Ich habe Zukunftsängste. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass ich in | |
einer vergleichsweise privilegierten Position bin. Ich kann weiter | |
studieren. Danach habe ich einen Abschluss, der zu einem Beruf befähigt. | |
Aber diese ganzen Krisen beeinflussen mich auch im Alltag, und das wirkt | |
sich auch auf meine akademischen Leistungen aus. An der Universität gibt es | |
keine Mechanismen, die diese Folgen auffangen. Ich kann schlecht zu einer | |
Prüfer:in gehen und sagen, dass ich die Abgabe nicht schaffe, weil ich | |
mehr arbeiten musste und das Geld vorne und hinten nicht reicht. | |
Einige meiner Professor:innen haben mir schon häufiger angeraten, dass | |
ich die akademische Laufbahn einschlagen sollte und sogar eine Professur | |
anstreben soll. Für mich ist das in der aktuellen Lage keine Option. Dafür | |
sind die Beschäftigungsverhältnisse an Hochschulen zu prekär.Für meine | |
Zukunft wünsche ich mir eine sinnstiftende Beschäftigung, in der ich | |
aufgehen kann, die aber auch gesichert ist. | |
Protokoll: Sara Rahnenführer | |
## „Die ganze Bildschirmzeit ist mir zu viel geworden“ | |
Tamina, 26, studiert Peace and Conflict Studies an der Universität | |
Magdeburg | |
Ich verstehe es einfach nicht. Nach all den Einschränkungen der vergangenen | |
Semester findet an meiner Universität wieder die Hälfte der Kurse online | |
statt. Das frustriert mich. Warum? Darauf habe ich bisher keine | |
befriedigende Antwort erhalten. Ich bin von Greifswald nach Magdeburg | |
gezogen, weil es hier einen internationalen Masterstudiengang gibt, den ich | |
unbedingt machen wollte. Er heißt Peace and Conflict Studies und findet | |
größtenteils auf Englisch statt. Meine Kommiliton:innen kommen aus | |
Kolumbien, Bulgarien, Pakistan, den USA. Wie generell in den | |
Sozialwissenschaften geht es auch in diesem Studium viel um Austausch und | |
Diskussion, Vernetzen und Projektarbeit. Wie wenig das online möglich ist, | |
müssen doch auch die Dozierenden festgestellt haben. Dennoch bieten sie | |
ihre Seminare jetzt wieder teils oder gänzlich virtuell an. Zwei | |
Veranstaltungen, die ich gerne besucht hätte, kommen deshalb jetzt für mich | |
nicht in Frage. | |
Andere finden Onlinekurse bequem und praktisch – mir nehmen sie die Freude | |
am Studium. Ich studiere echt gerne. Dazu gehört für mich aber auch, dass | |
es ein Unileben gibt, an dem ich teilhaben kann. In meinem | |
Bachelorstudiengang in Greifswald habe ich es immer sehr genossen, nach | |
oder zwischen den Veranstaltungen mit Kommiliton:innen ins Gespräch zu | |
kommen. Über die Lektüre, die wir gerade für Literaturwissenschaften zu | |
lesen hatten. Über politische Themen. Für mich hat Uni auch eine | |
aktivistische Seite. Hier kann ich mich engagieren und organisieren. Für | |
all das muss man sich begegnen können. Diesen Raum stellt die Uni zur | |
Verfügung. Seit Beginn der Pandemie ist das aber nicht mehr so. Mit dem | |
Studieren, wie ich es vorher kennengelernt habe, hat das nicht mehr viel zu | |
tun. | |
Wie viele andere haben mich die Onlinesemester emotional und körperlich | |
stark belastet. Den ganzen Tag mit krummen Rücken vor dem Laptop hocken, | |
immer nur auf einen Bildschirm gucken, das ist nicht gesund. Vor allem, | |
wenn der Ausgleich – Yogastunden, Sportkurse, Tanzen! – fehlt. Wenn | |
Arbeitnehmer:innen ins Homeoffice gehen, werden sie gefragt, ob sie | |
einen rückenfreundlichen Bürostuhl, einen großen Bildschirm benötigen. Bei | |
uns Studierenden hat niemand nachgefragt. Das passt ins Bild. Im | |
öffentlichen Diskurs ging es dauernd um Schüler:innen. Über Studierende | |
wurde so gut wie gar nicht gesprochen. Auch dann nicht, als die psychische | |
Belastung für die Studierenden längst sichtbar wurde. | |
Das zweite Onlinesemester hab ich irgendwann abgebrochen, weil ich zu | |
starke Kopfschmerzen bekommen habe. Vielleicht wäre das nicht passiert, | |
wenn ich nicht parallel so viel ehrenamtlich im Bereich Flucht und | |
Migration organisiert hätte, natürlich auch alles online. Die ganze | |
Bildschirmzeit ist mir zu viel geworden. Wahrscheinlich hätte mir das alles | |
nicht so zugesetzt, wenn ich in Magdeburg schon einen Freund:innenkreis | |
und somit mehr Ausgleich gehabt hätte. Ich bin aber exakt zum ersten | |
Coronasemester neu in die Stadt gekommen. Bis auf ein, zwei Kontakte kannte | |
ich niemanden. Das hat es nicht gerade einfacher gemacht. An einem Punkt | |
waren die Erschöpfungssymptome bei mir so stark, dass ich ein paar Stunden | |
zu einer Heilpraktikerin gegangen bin. Das hat mir geholfen, besser auf | |
mich zu achten. | |
Jetzt versuche ich, mir nicht zu viel aufzuladen und vor allem: nicht zu | |
viel online zu sein. Nicht ständig E-Mails checken, nicht ständig | |
erreichbar sein. Ich frage mich ernsthaft, welche Folgen die | |
Digitalisierung für die Hochschulen haben wird. Dass die Unis aktuell | |
überlegen, wegen der hohen Gaspreise im Winter Gebäude zu schließen, finde | |
ich besorgniserregend. Wir schließen die Unis aus wirtschaftlichen Gründen? | |
Echt jetzt? Meine Befürchtung ist, dass sich das jetzt ganz schleichend in | |
Richtung Onlinestudium bewegt. Das wäre traurig und schlecht für alle | |
Studierenden. In Onlinekursen geht so viel verloren. Im Übrigen auch für | |
die Gesellschaft, die von progressiven Debatten und Austausch nur | |
profitieren kann. | |
Wegen der Pandemie brauche ich insgesamt zwei Semester länger für mein | |
Studium, aber das ist okay. Im Gegensatz zu vielen anderen Studierenden | |
habe ich keine großen finanziellen Sorgen. Für mein 22-Quadratmeter-Zimmer | |
in einer WG zahle ich 290 Euro im Monat, die Chemie mit den | |
Mitbewohner:innen stimmt auch. Da habe ich echt Glück. Überhaupt fühle | |
ich mich finanziell recht privilegiert. Ich bekomme ab diesem Semester 700 | |
Euro BAföG und jobbe nebenher in einem Buchladen. Damit kann ich die | |
steigenden Preise momentan noch abfedern. In diesem Punkt hat sich der | |
Umzug nach Magdeburg bezahlt gemacht. Und ich bin dankbar dafür, dass viele | |
meiner Kommiliton:innen nicht den Kopf haben hängen lassen. | |
Statt an der Uni treffen wir uns jetzt regelmäßig in einem Kiezladen. | |
Dennoch bleibt ein fader Geschmack. Die Leichtigkeit von früher ist dahin. | |
Protokoll: Ralf Pauli | |
## „Meine finanzielle Situation ist ein Desaster“ | |
Sophie*, 34, studiert Humanmedizin an der Berliner Charité | |
Die Inflation und die steigenden Lebenshaltungskosten kommen echt | |
ungelegen. Ich habe 48.000 Euro Schulden. Erst hatte ich einen Kredit von | |
der KfW. Dann einen von der Ärztebank – und auch der ist bald aufgebraucht. | |
Ungefähr 4.000 Euro sind noch übrig. Und das ganze nächste Jahr muss ich | |
irgendwie noch überbrücken. Wie genau, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Ich | |
bin alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Und zum Abschluss meines | |
Medizinstudiums steht noch das PJ an, das Praktische Jahr. Das heißt: zwölf | |
Monate Vollzeit im Krankenhaus arbeiten – für etwa 350 Euro | |
Praktikumsgehalt im Monat in einer privaten Klinik. Immerhin. Die Charité | |
bezahlt für das Praktische Jahr gar nichts, obwohl die Studierenden das | |
seit Jahren immer wieder einfordern. | |
Ich bin 34 Jahre. Als ich das Studium an der Berliner Charité angefangen | |
habe, war ich 27. Davor habe ich eine medizinische Ausbildung gemacht. | |
Auch, weil mein Abischnitt nicht für einen sofortigen Medizinstudienplatz | |
gereicht hat. Mein Vater wollte, dass ich Physik studiere. Ich habe es ihm | |
zuliebe ausprobiert, konnte damit aber nichts anfangen. Irgendwann habe ich | |
hingeschmissen, ich wollte lieber Ärztin werden. Seither ist klar, dass er | |
mich nicht weiter finanziell unterstützt. Das Ganze hatte aber ein böses | |
Nachspiel für mich. Weil ich das Studienfach gewechselt habe, wurde mein | |
BAföG-Antrag abgelehnt. Bis heute ist das gängige Praxis. Zumindest wer | |
nach zwei oder wie ich drei Semestern merkt, dass der Studiengang nichts | |
für einen ist und sich neu einschreibt, bekommt kein BAföG. Diese Regel ist | |
so weltfremd. Und einer der Gründe, warum ich heute so hoch verschuldet | |
bin. | |
Ein anderer hat mit der Pandemie zu tun. Ich hatte einen Nebenjob in einer | |
hausärztlichen Praxis. Einen Tag die Woche. In der Praxis habe ich alles | |
gemacht, was angefallen ist: Terminvergabe am Tresen, Patient:innen | |
aufrufen, schon mal Blut abnehmen, Assistenz in der Sprechstunde. Ungefähr | |
350 Euro im Monat habe ich so dazuverdient. Im ersten Lockdown habe ich den | |
Job leider aufgeben müssen. Ich konnte die Arbeitszeiten unmöglich | |
einhalten. Mein jüngeres Kind durfte zwar in die Notbetreuung, aber | |
allerspätestens um 16 Uhr musste ich es abholen. Und mein älteres Kind war | |
ja schon in der Schule, es musste zu Hause lernen. Da wurde erwartet, dass | |
ein Erwachsener zu Hause ist und sein Kind beim Homeschooling unterstützt. | |
Ich bin allein mit den Kindern, mir blieb gar nichts anderes übrig. Klar, | |
dass sich der Kredit ohne den Job dann noch schneller verbraucht hat. | |
Um es auf den Punkt zu bringen: Meine finanzielle Situation ist ein | |
Desaster. Insgesamt komme ich auf ungefähr 1.500 Euro Fixkosten im Monat, | |
das ist absolutes Minimum: 650 Euro für die Miete, rund 400 Euro für Essen, | |
50 Euro Rückmeldegebühren für das Studium, wenn man die auf den Monat | |
runter rechnet, und vielleicht so 200 Euro für die Freizeitaktivitäten | |
meiner Kinder. Sie sind sieben und zehn. Nicht, dass wir uns viel gönnen – | |
aber wenn Freunde meiner Kinder Eis essen oder ins Kino gehen, will ich | |
nicht als Einzige sagen: „Da könnt ihr nicht mit, das können wir uns nicht | |
leisten.“ Gleichzeitig macht sich das schon bemerkbar, dass überall die | |
Preise anziehen. Im Eiscafé um die Ecke, im Supermarkt. Da muss ich an das | |
Geld auf der Bank denken, das immer weniger wird. Gerade kam noch eine neue | |
Waschmaschine dazu – vier Monate lang habe ich den Kauf rausgezögert. Das | |
einzig Gute ist, dass meine Wohnung nicht mit Gas beheizt wird. | |
Weil ich mehr arbeite, habe ich natürlich auch weniger Zeit zum Lernen. | |
Dadurch war ich irgendwann mit den Klausuren so weit hinterher, dass mich | |
die Charité in ein unfreiwilliges Freisemester versetzt hat, damit ich die | |
Prüfungen nachhole. Deshalb dauert das Studium jetzt ein Semester länger. | |
Im Oktober steht mein zweites Staatsexamen an. So gut vorbereitet wie | |
andere, die sich nur ums Lernen kümmern müssen, bin ich leider nicht. Auch | |
mein älteres Kind ist als Folge der Pandemie schulisch im Rückstand, weil | |
für das Homeschooling nicht genug Zeit war. In solchen Momenten spürt man, | |
dass Studiengänge wie Medizin wahnsinnig exklusiv sind und dass das auch so | |
gewollt ist. Ohne finanzielle Unterstützung aus dem Elternhaus oder BAföG | |
ist es doppelt schwer – und hinterlässt oft einen Schuldenberg. | |
Trotz allem habe ich es fast geschafft und freue mich darauf, bald endlich | |
als Ärztin zu arbeiten. | |
Protokoll: Ralf Pauli | |
*Ihr Vorname und das Alter ihrer Kinder wurden auf Wunsch geändert. | |
10 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746 | |
[2] /Bafoeg/!t5021566 | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Energiekrise | |
Inflation | |
Studium | |
Universität | |
GNS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
IG | |
Erasmus | |
Studierende | |
Deutsche Universitäten | |
Energiekrise | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Hamburg | |
Freibad | |
Studierende | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Geringe Förderung bei ERASMUS+-Programm: Studis mit Mönch-Lebensstil | |
Student*innen des Austauschprogramms Erasmus+ erhalten oft viel zu wenig | |
Geld. Eine neue Initiative wirbt im EU-Parlament für Veränderung. | |
Wohnsituation von Studierenden: Dann zieh doch zurück zu den Eltern | |
Das Studierendenwerk Berlin hat die Mieten in seinen Wohnheimen wegen | |
steigender Energiekosten stark erhöht. Student:innen starten eine | |
Petition. | |
Energiesparen an Universitäten: Einsparziel 10 bis 20 Prozent | |
Für Berlins Studierende hat das Wintersemester begonnen. Wie geht das Leben | |
in den Universitäten in Zeiten der Energiekrise weiter? | |
Studierende in der Dauerkrise: Irgendwie durch den Winter kommen | |
Die Bundesregierung will Studierende mit Einmalzahlungen entlasten – und im | |
Krisenfall das Bafög für alle öffnen. Doch so einfach ist das nicht. | |
Nachrichten zur Coronapandemie: Lauterbach appelliert an Länder | |
Der Bundesgesundheitsminister spricht sich im Bundestag für schärfere | |
Coronamaßnahmen aus. Die Klinken warnen vor „extrem schwierigen Wochen“. | |
Coronazahlen vom 11. Oktober 2022: Rekord bei Krankenhausbelastung | |
Die Hospitalisierungsrate springt auf einen neuen Höchststand. Das größte | |
Problem der Kliniken ist das durch die Herbstwelle ausfallende Personal. | |
Semesterstart an den Universitäten: „Mein Ziel ist Präsenz“ | |
Hauke Heekeren ist seit kurzem neuer Präsident der Uni Hamburg. Er setzt | |
alles daran, dass Studierende wieder vor Ort lernen. | |
Freibad in Schwerte: Die Freischwimmer | |
Wegen fehlendem Personal und der Gaskrise müssen viele Freibäder schließen, | |
doch das Elsebad nicht. Weil es von Bürger*innen selbst betrieben wird? | |
Hochschulen und Corona: Wieder mal zur Uni? | |
Bald zwei Jahre unter Corona-Bedingungen zu studieren, schlägt vielen | |
Student*innen aufs Gemüt. Der AStA fordert mehr Unterstützung. |