# taz.de -- Freibad in Schwerte: Die Freischwimmer | |
> Wegen fehlendem Personal und der Gaskrise müssen viele Freibäder | |
> schließen, doch das Elsebad nicht. Weil es von Bürger*innen selbst | |
> betrieben wird? | |
Bild: Im Elsebad in Schwerte treffen sich Menschen aus allen gesellschaftlichen… | |
Ein Samstag Mitte Juli, es ist kurz nach 9 Uhr. Der Himmel über Schwerte, | |
einer Fast-50.000-Einwohner-Stadt südöstlich von Dortmund, ist bewölkt, es | |
weht ein leichter Wind. Am Eingang des Bürgerbads Elsetal, das hier alle | |
nur Elsebad nennen, hängt ein Schild: Luft 17 Grad, Wasser 23 Grad. | |
Das Elsebad ist das einzige Freibad von Schwerte, es liegt etwas außerhalb. | |
Vom Bahnhof geht es mit dem Bus zum Stadtrand, dann über die Ruhr, bis in | |
ein Waldgebiet. Mit seiner Holzvertäfelung sieht der Gebäudekomplex wie ein | |
in die Länge gezogenes Schwedenhaus aus. Dahinter liegt das Schwimmbecken. | |
„Kommen Sie rein“, sagt Gerd, der Hausmeister, und öffnet die Gittertür. | |
„Aber bitte noch nicht ins Wasser gehen. Das würde die Stammgäste tierisch | |
ärgern, wenn vor ihnen jemand ins Becken darf.“ Vor dem Gitter warten die | |
ersten Besucher: Eine sportlich wirkende Frau Ende siebzig, in rotem Rock | |
und weißer Bluse. Ein kräftiger Mann Mitte fünfzig in grauen Shorts, in der | |
Hand ein Fahrradhelm. Dahinter ein Mann, vielleicht zehn Jahre älter, | |
gestutzter Schnauzer, randlose Brille, die Arme vor der Brust verschränkt. | |
Man begrüßt sich mit „Guten Morgen“, ansonsten bleibt es still. Die | |
Menschen sehen aus, als ob sie das Schwimmen sehr ernst nehmen. Als ob es | |
für sie mehr ist als ein Zeitvertreib. Eher ein essenzieller Bestandteil | |
des Lebens. Einer, den sie sich selbst erkämpft haben. Und ganz falsch ist | |
das nicht: Denn wenn die Dinge anders gelaufen wären, damals, vor über 25 | |
Jahren, stünde heute keiner von ihnen hier. | |
Vielen Schwimmbädern in Deutschland geht es schlecht, seit Jahrzehnten | |
schon. Ihre Zahl schrumpft, vor allem in ländlichen Gebieten. | |
Apokalyptische Stimmen sprechen gar von einem „Bädersterben“. Die Deutsche | |
Gesellschaft für das Badewesen zählte 2017 noch 6.500 Bäder. Heute kommt | |
sie auf knapp 6.000. Es gibt eine ganze Reihe von Problemen. Da ist | |
zunächst die bauliche Substanz. Viele Bäder stammen aus den 1960er und 70er | |
Jahren, der Zeit des „Goldenen Plans“, eines staatlichen Programms, das | |
viel Geld in Sporteinrichtungen spülte. Doch nachdem die Anlagen gebaut | |
waren, vernachlässigte man Pflege und Instandsetzung. Mit dem Ergebnis, | |
dass viele Bäder heute marode sind. Hinzu kommt das Personalproblem. | |
## Das Freibad als Urlaubsersatz | |
Schon vor Corona gab es einen Mangel an Fachkräften. Die pandemiebedingte | |
Schließung vieler Bäder hat den noch einmal verschärft. Weil sich viele | |
Menschen in der Zwischenzeit beruflich umorientierten, aber auch, weil mit | |
den Bädern die Ausbildungsstätten geschlossen waren. Dabei stehen | |
Schwimmbäder in Deutschland eh auf wackligem Posten. Im Haushalt der | |
Kommunen zählen sie zu den „freiwilligen Ausgaben“. Hat die Gemeinde kein | |
Geld, macht sie oft zuerst die Bäder dicht. Durch die Energiekrise sind die | |
Bäder nun endgültig in Bedrängnis geraten. Sollte die dritte Stufe des | |
Notfallplans Gas ausgerufen werden, müssen sie vermutlich mit als Erstes | |
schließen. | |
Das ist ein größeres Problem, als man zunächst denken könnte. „Schwimmbä… | |
sind mehr als reine Sportstätten“, sagt Sportwissenschaftler Lutz Thieme, | |
der an der Hochschule Koblenz zu Schwimmbädern forscht, am Telefon. „Viele | |
Kinder werden [1][hier an das Schwimmen herangeführt]. Es geht um Fragen | |
der persönlichen Sicherheit und der gesellschaftlichen Teilhabe.“ | |
Schwimmbäder seien aber auch [2][ein Ort der Begegnung], vor allem | |
Freibäder. „Weil sie einer der letzten Orte sind, wo man Menschen quer aus | |
allen gesellschaftlichen Schichten trifft“, sagt Thieme. „Wohlhabendere | |
Leute, aber auch Menschen, für die der Freibadbesuch notgedrungen den | |
Strandurlaub ersetzt.“ Brechen Schwimmbäder, Büchereien, Spielplätze und | |
andere Räume des sozialen Austauschs weg, drohe im Ernstfall die Auflösung | |
des gesellschaftlichen Zusammenhalts, warnt er. | |
Personalmangel, Gaskrise, drohender Zerfall: Im Elsebad begegnet man alldem | |
erstaunlich gelassen. Vielleicht, weil man schwierige Zeiten kennt. Die | |
Geschichte des Elsebads ist die Geschichte einer kleinen | |
Wiederauferstehung. Es ist die Geschichte eines Schwimmbads, für das die | |
Stadt keine Zukunft mehr sah. Aber für das die Bürger:innen bereit waren | |
zu kämpfen. Es ist die Geschichte des ersten erfolgreichen Bürgerbegehrens | |
Nordrhein-Westfalens und, nicht zuletzt, die Geschichte des wohl | |
bekanntesten „Bürgerbads“ Deutschlands. Eines Schwimmbades also, bei dem | |
nicht die Kommune, sondern vor allem die Bürger:innen in der | |
Verantwortung stehen. Bei dem sie die anfallenden Arbeiten selbst | |
verrichten und oft auch einen Großteil der Finanzen stemmen. | |
Woher das Modell kommt, kann niemand genau sagen. Das erste deutsche | |
Bürgerbad, das „Freibad Bornekamp“, eröffnete vor 40 Jahren in Unna, | |
ebenfalls im Ruhrgebiet. Wie viele dieser Bäder es in Deutschland gibt, | |
lässt sich nicht bestimmen. Lutz Thieme schätzt, dass es mindestens hundert | |
sind. | |
Kann ein Bürgerbad wie das Elsebad die Lösung sein für all die Probleme, | |
vor denen Schwimmbäder in Deutschland heute stehen? Eine Blaupause für die | |
Zukunft? | |
9.30 Uhr. Das Bad öffnet offiziell seine Pforten. Wie in den meisten | |
Freibädern will auch hier jeder der Erste im Wasser sein. Ein wahrer Run | |
auf das Becken beginnt. Der Mann mit dem Fahrradhelm scheint es besonders | |
eilig zu haben. Zügig geht er auf das Gelände, zückt routiniert seine | |
Dauerkarte, eilt an der Kasse vorbei, steuert direkt auf das Becken zu. Er | |
steigt aus den Schuhen, zieht die Hose runter, zuppelt seine Badeshorts | |
zurecht. Dann sucht er in seinem Rucksack nach der Chlorbrille. Zu spät: | |
Zwei Frauen, die eine um die 40, die andere über 60, überholen ihn. Sie | |
sind an diesem Tag die ersten beiden Gäste im Becken. | |
Wenig später sind ein halbes Dutzend Menschen im Wasser. Im großen Becken | |
ziehen Frauen ihre Bahnen, sie halten die Köpfe gereckt. Im abgetrennten | |
Profibereich kraulen die Männer. Das Wetter hat sich etwas aufgeklart, das | |
lauteste Geräusch ist das Gurgeln der Rinne ab Beckenrand, die gierig das | |
überschwappende Wasser schluckt. Ansonsten ist es still. | |
Das Elsebad ist ein Oldtimer unter den deutschen Schwimmbädern. 1939 wurde | |
es, mit finanzieller Unterstützung der beiden größten Arbeitgeber der | |
Region, des Stahlwerks und der Kettenfabrik, eröffnet. Es war für die | |
Arbeiterschaft und die Jugend der Gegend gedacht. Betrieben wurde es damals | |
noch mit Wasser des in der Nähe fließenden Elsebachs. In den | |
Nachkriegsjahren entwickelte sich das Elsebad zu einem bedeutenden Teil des | |
Schwerter Lebens. Doch dann, Anfang der Neunziger, gab die Stadt ein | |
Gutachten in Auftrag, um zu eruieren, ob sich so ein Freibad überhaupt | |
lohnt. Und kam zu dem Ergebnis: Tut es nicht. Was sich hingegen lohnen | |
würde, so die Vermutung, wäre ein großes Freizeit- und Erlebnisbad, das | |
auch Kunden aus Dortmund anziehen könnte. Und so steckte die Stadt fast 9 | |
Millionen Euro in das „Freizeit- und Allwetterbad“ mit Saunalandschaft und | |
riesiger Rutsche. Und machte 1993 dafür das Elsebad und zwei weitere | |
Freibäder in der Region dicht. | |
An dieser Stelle tritt Hartwig Carls-Kramp in die Geschichte. Ein stämmiger | |
Mann von 71 Jahren. Beim Treffen sitzt er am Beckenrand, bietet einem | |
schnell das Du an. | |
Hartwig ist einer dieser Menschen, die mit offenen Augen durch den Alltag | |
gehen. Die wissen, wenn eine Ampelschaltung im Ort schlecht getaktet ist, | |
die sehen, wenn ein Radweg ungünstig verläuft, die auf dem neusten Stand | |
sind, was die Sanierung der Stadtkirche angeht. Und die dann wissen, wie es | |
besser geht. Und er ist einer der Menschen, die dafür verantwortlich sind, | |
dass aus dem traditionellen Elsebad das Paradebeispiel eines Bürgerbads | |
geworden ist. Ein weiter Weg. | |
## Vom Chirurgen zum Schwimmbadbetreiber | |
Hartwig kommt eigentlich aus Essen, aus Überruhr, einer | |
Bergarbeitersiedlung im Südosten der Stadt. Der Vater war Bergmann, die | |
Mutter Hausfrau. Nach dem Abitur jobbte er als Pfleger in einer | |
Krebsklinik, entschied sich dabei, Medizin zu studieren. Ende der Achtziger | |
zog er mit seiner Frau nach Schwerte, sie stammt von hier, und begann als | |
Oberarzt in einer Klinik in der Nähe. Zu jener Zeit trafen sich in einer | |
der Dorfkneipen eine Reihe von Akademikern aus dem Ort. Ärzte, Lehrer, | |
Notare. Auch Hartwigs Schwager war dabei, über ihn stieß er dazu. Sie | |
diskutierten damals auch über die Zukunft des Bads. „Ist doch scheiße, wenn | |
es dicht bleibt, haben wir gedacht“, sagt Hartwig heute. „Da hängen so | |
viele Erinnerungen dran.“ | |
Der Stadtrat war gespalten, die eine Hälfte wollte das Bad weiterbetreiben, | |
die andere war dagegen. Also beschlossen Hartwig und die anderen, die | |
Gegner des Bades zu überzeugen – und in der Bevölkerung Unterschriften für | |
den Erhalt zu sammeln. Sie waren gut vernetzt. Mitglieder der Deutschen | |
Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG), der Jusos und Teile der Chefetage | |
eines großen Familienunternehmens bauten Infostände auf, sprachen Passanten | |
an, legten in Geschäften Listen aus. Das Land Nordrhein-Westfalen hatte | |
kurz zuvor das Instrument des Bürgerbegehrens eingeführt, es erlaubte | |
Bürger:innen, direkt in die Kommunalpolitik einzugreifen. Sie waren die | |
ersten, die es nutzten. | |
Innerhalb von drei Wochen hatten sie 10.000 Unterschriften beisammen, mehr | |
als für ein Bürgerbegehren notwendig war. Sie übergaben sie im Rathaus der | |
Stadt. Der nächste Schritt wäre ein Bürgerentscheid, also eine offizielle | |
Abstimmung, gewesen. Doch die Stadt zögerte. „Ein Bürgerentscheid hätte so | |
viel gekostet wie eine Bürgermeister- oder Stadtratswahl“, sagt Hartwig. | |
„Und sie wussten, dass sie eh keine Chance haben.“ Also ließ die Stadt es | |
gar nicht erst so weit kommen. Na gut, sagte sie, dann macht. Aber macht | |
allein. Wir haben damit nichts zu tun. | |
Für Hartwig und die anderen ein Sieg. Aber einer mit Folgen. Sie waren ja | |
einfache Bürger. Keiner von ihnen hatte einen konkreten Plan, wie man ein | |
Schwimmbad wiedereröffnet. | |
11.43 Uhr. Das Publikum an diesem Samstag hat sich inzwischen verändert. | |
Die Profischwimmer und die älteren Frauen sind weg. Statt ihrer sieht man | |
jetzt viele Familien im Becken. Auch die Liegewiese füllt sich langsam. | |
Drei Männer Ende vierzig sitzen unter einem Baum und öffnen ihre | |
Picknickdosen. Ein Paar um die zwanzig versucht sich kurz am Rasen-Schach, | |
einer der vielen Freizeitmöglichkeiten, die es im Elsebad gibt. Wenig | |
später tauchen die ersten Halbstarken auf, vier Jungs, ein Mädchen, alle um | |
die vierzehn. | |
Spricht man mit den Menschen hier, betonen alle, wie wichtig ihnen das | |
Freibad ist, besonders wenn sie keinen eigenen Garten haben. Weil es ein | |
Ort der Ruhe ist, der Entspannung, für die Jungen ein beliebter Treffpunkt. | |
Wenn man heute durch das Elsebad läuft, durchstreift man ein weites Areal. | |
Es gibt ein 50-Meter-Becken samt 1-Meter-Brett, ein kleineres Kinderbecken, | |
zwei Volleyballfelder und einen Fußballplatz, es gibt einen Kiosk und einen | |
Clubraum mit Plastikstühlen, die „Elsebar“. Alles ist sauber, gepflegt. | |
Vieles wirkt liebevoller, individueller als in einem kommunalen Schwimmbad: | |
Die Umkleiden leuchten rot, grün und blau. Selbst die Mülltonnen sind bunt | |
angemalt. | |
Damals, als die Bürger:innen das Bad übernahmen, sah das anders aus. | |
Dort, wo heute der langgezogene bordeauxrote Häuserriegel steht, gab es | |
zwei kleine Häuser ohne Fenster, sie glichen Ruinen. Auch das Schwimmbecken | |
war hinüber, die Fliesen abgeplatzt. | |
Als 1996 die Bauarbeiten begannen, stand Hartwig als Chirurg mitten im | |
Arbeitsleben, wie die anderen auch. Also kamen sie an den Wochenenden, | |
zogen Gräben, verlegten Rohre, bauten drei Baucontainer zu einem Kiosk um. | |
Maurer waren dabei, Klempner, Elektriker. Aber auch Lehrer, die jetzt | |
Löcher gruben und Schubkarren über das Areal schoben. | |
Im Mai 1998, nach zwei Jahren Bauzeit, war Eröffnung. Einige tausend | |
Bürger:innen waren gekommen, der örtliche Posaunenchor war angerückt. | |
„Ein großer Moment“, sagt Hartwig. „Wir hatten endlich unser Bad.“ | |
Rund zwei Millionen D-Mark hatte der Bau gekostet. Gut ein Drittel kam von | |
der Stadt, ein weiteres Drittel vom Land, das restliche Drittel hatten sie | |
selbst beigesteuert, teils über Kredite. „Die Leute hatten einfach eine | |
besondere Beziehung zu dem Bad“, sagt Hartwig. „Viele haben ihre Jugend | |
hier verbracht. Sie wollten ein Stück Vergangenheit erhalten und zugleich | |
sicherstellen, dass es den Ort auch noch für ihre Kinder und Enkelkinder | |
gibt.“ | |
Hartwig, inzwischen Rentner, ist heute einer von drei Geschäftsführern des | |
Elsebads, sie führen es als gemeinnützige GmbH. 300.000 Euro kostet der | |
Betrieb des Bads inzwischen jährlich. 60.000 kommen von der Stadt. Den Rest | |
müssen sie selbst stemmen. Etwa 30.000 gibt der Förderverein; was übrig | |
bleibt, muss über die Eintrittsgelder erwirtschaftet werden. Am Ende, sagt | |
Hartwig, lande man bei plusminusnull. „Das ist schon okay.“ | |
Das Elsebad ist damit keine Ausnahme. „Mit Bädern ist in Deutschland kein | |
Geld zu verdienen“, sagt Lutz Thieme, der Sportwissenschaftler. Das gelte | |
für kommunale Bäder wie Bürgerbäder gleichermaßen. Im Gegensatz zu | |
kommunalen Bädern könnten Bürgerbäder das Problem der klammen Kassen aber | |
ein Stück weit kompensieren. Durch die enge Bindung der Besucher an das Bad | |
– und durch ehrenamtliches Engagement. „Da geht es dann nicht um Geld gegen | |
Arbeitszeit“, sagt Thieme. „Da geht es um eine freiwillige Gabe für einen | |
Ort, der einem wichtig ist.“ Und das ist im Elsebad spürbar, etwa beim | |
Thema Personalmangel. | |
Überall in Deutschland mussten Bäder schließen, weil es nicht genügend | |
Personal gibt. Einige für immer, andere zumindest für kurze Zeit. In Essen | |
konnte die Freibadsaison dieses Jahr deshalb erst später beginnen. In | |
Dortmund blieben mehrere Hallenbäder kurzzeitig dicht. Vor allem | |
Bademeister werden gesucht. Vielen gilt der Beruf als nicht attraktiv | |
genug, wegen der unregelmäßigen Arbeitszeiten, des vergleichsweise geringen | |
Verdienstes. Aber auch Rettungsschwimmer fehlen. | |
Im Elsebad hingegen scheint auch der Fachkräfte- und Nachwuchsmangel kein | |
drängendes Problem zu sein. Hendrik, der Fachangestellte für Bäderbetriebe, | |
der den gesamten Laden schmeißt, der Temperatur und Chlorgehalt des Wassers | |
im Blick hat, die Pumpen, aber auch die Sicherheit der Badegäste, ist 24 | |
Jahre alt. Anna, die Rettungsschwimmerin, die ihm an diesem Samstag zur | |
Seite steht und das alles neben ihrem Studium macht, ist 21. | |
Fragt man beide, warum sie hier sind, erzählen sie, wie sie in der Gegend | |
groß geworden sind, teilweise sogar schwimmen gelernt haben im Elsebad. Und | |
dass so etwas eben zusammenschweißt. Neben den beiden gibt es noch einen | |
Schwimmmeister und elf weitere Rettungsschwimmer im Team. Und rund 140 | |
Ehrenamtliche, die sich um alles andere kümmern, das in so einem großen | |
Schwimmbad anfällt, vom Kassendienst bis hin zum Müllaufsammeln. | |
12.15 Uhr. Gerd, der Hausmeister, macht kurz Pause. Bis eben hat er die | |
Hecken geschnitten. Jetzt sitzt er unter dem Vordach der „Elsebar“, im | |
hinteren Bereich des Areals, und lässt seinen Blick über den sich wieder | |
zuziehenden Himmel schweifen. | |
„Das wird heute ein absolut durchschnittlicher Tag“, sagt er. | |
„Kannste von ausgehen“, sagt der grauhaarige Mann neben ihm. Auch er heißt | |
Gerd. | |
Die zwei Gerds sind fester Teil des Teams und gewissermaßen hier | |
gestrandet. Der eine, Gerd mit den grauen Haaren, weil er es als Rentner | |
nicht mehr ausgehalten hat zu Haus. Der andere, Gerd, der Hausmeister, weil | |
sein Leben durcheinandergeraten war. Mehr muss dazu nicht in der Zeitung | |
stehen, sagt er. | |
Nur so viel: Als Hartwig und die anderen Mitte der Neunziger mit dem Umbau | |
des Bads begannen, arbeitete Gerd als Monteur. Er hatte eine große | |
Rüttelmaschine, mit der man große Flächen verdichten kann. Die konnten sie | |
gut gebrauchen. Also stieß er dazu, packte selbst mit an. Und blieb | |
irgendwann. | |
Wie oft sie hier sind? „Eigentlich immer“, sagt der grauhaarige Gerd, den | |
sie „Rembrandt“ nennen, weil er für das Malern und Lackieren zuständig is… | |
„Oft den ganzen Tag.“ | |
„Aber natürlich mit Pausen“, sagt Gerd, der Hausmeister, der heute 59 ist. | |
„Man kann ja nicht durcharbeiten.“ | |
Und dann erzählen sie von damals, von jenem Wochenende im Sommer 2003, als | |
4.200 Gäste an einem Tag ins Bad kamen. Bis über den Parkplatz reichte die | |
Schlange an Wartenden, das Becken war bis zum Bersten gefüllt, es sei eine | |
Mordsarbeit gewesen, alles wieder schnell genug sauber zu bekommen, sagt | |
Gerd, der Hausmeister, weil am nächsten Morgen ja wieder Gäste auf der | |
Matte standen. Dann erzählt der grauhaarige Gerd von dem Operettenabend | |
letztens, als eine Sängerin aus der Region hier im Bad ein Lied von Whitney | |
Houston sang. „Wenn man die Augen zugemacht hat, dachte man, da singt die | |
Houston selbst“, sagt er. Wenn man den beiden Gerds eine Weile zuhört, | |
bekommt man ein Gespür dafür, welche Bedeutung das Elsebad hat. Für sie. | |
Aber auch für die Menschen hier. | |
Schwerte ist auf den ersten Blick keine außergewöhnliche Stadt. Ein Bahnhof | |
mit viel Nachkriegsbeton drum herum, ein historischer Stadtkern, eine | |
Fußgängerzone. Wer hier mit dem Bus fährt, sieht ältere Damen mit aufwendig | |
frisierten Haaren und junge Menschen in Trainingshosen, mit Energy-Drinks | |
oder Dosenbier in der Hand. Es ist keine arme Stadt, sie zählt zu den | |
einkommensstärkeren Gemeinden Nordrhein-Westfalens. Und doch passiert mit | |
Schwerte, was mit vielen deutschen Klein- und Mittelstädten geschieht: Die | |
Stadt dünnt aus. Da ist das ehemalige Kaufhaus am Bahnhof, ein Schild an | |
der vergilbten Eingangstür informiert, dass es im Juni 2017 schließen wird. | |
Der Blumenladen, dicht, weil niemand ihn übernehmen wollte, als die | |
Inhaberin in Rente ging. Der Elektroladen: hat sich nicht mehr rentiert. | |
Auch die Kneipen schließen, vor allem in den Randgebieten. Ein Kino gibt es | |
schon seit Jahren nicht mehr. | |
Das Elsebad füllt einige dieser Lücken. Etwa wenn sie samstags | |
Cocktail-Abend machen und auch Menschen ins Freibad kommen, die es nicht | |
ins Wasser zieht. Oder freitags, wenn sie die große Leinwand aufspannen zum | |
Open-Air-Kino. Es gibt Theateraufführungen hier, Yoga- und Zumba-Kurse. Im | |
Wald hinter dem Kinderbecken haben sie ein mittelalterliches Dorf | |
aufgebaut, jeden Herbst finden dort historische Spiele statt. | |
## Ein Knotenpunkt für alle Aktivitäten | |
Für Lutz Thieme, den Sportwissenschaftler, nicht ungewöhnlich für ein | |
Bürgerbad: „Wenn es eine enge Anbindung an die Bürgerschaft gibt, setzt die | |
sich in der Regel auch für kulturelle Angebote ein.“ Das Elsebad ist damit | |
nicht nur Knotenpunkt für all diese Aktivitäten. Es ist auch Anlaufstelle | |
für Menschen verschiedenster Altersstufen und gesellschaftlicher Schichten. | |
Da wären: der Verfahrensmechaniker aus dem Stahlwerk, der nach dem | |
Schichtdienst morgens ins Wasser geht, um den Kopf frei zu kriegen. Die | |
pensionierte Lehrerin, die sich leise aus dem Haus schleicht, um ihre Enkel | |
nicht zu wecken. Der 17-jährige Abiturient, der hier Schwimmwettbewerbe | |
gewonnen hat und jetzt einem Jungen Nachhilfe gibt. Da ist der | |
Bundesvorsitzende der Senioren-Union, der gegen Abend stoisch seine Bahnen | |
zieht. Die Frau Mitte sechzig, die fast täglich kommt, manchmal stundenlang | |
auf der Bank sitzt und Kreuzworträtsel löst; und von der sie meinen, sie | |
schlafe vielleicht in ihrem Auto. | |
Und da war bis vor Kurzem auch Else. | |
Else Lemmes lebt am Stadtrand von Schwerte, in einem weißen | |
Einfamilienhaus. Wenn man an der Tür klingelt, öffnet eine Frau von 95 | |
Jahren, auf einen Rollator gestützt. Eine Frau, die sich mit vorsichtigen | |
Schritten bewegt. Dafür aber frei und ausführlich von ihrem Leben in | |
Schwerte erzählt, im Dialekt der Region. | |
Ihre Erzählung zeigt, welche Lebensgeschichten mit Freibädern verbunden | |
sind, vor allem in kleineren Gemeinden. Und was verloren geht, wenn es | |
diese Orte nicht mehr gibt. | |
Eine „Wucht“ sei das Bad gewesen, sagt Else in ihrem Wohnzimmer voller | |
Bücher und Fotos. Und das seit der Eröffnung 1939. In Scharen seien die | |
Menschen mit dem Zug aus Dortmund gekommen, vor allem aus Gegenden, in | |
denen es kein so großes Schwimmbad gab, sonntags sogar in ihren besten | |
Klamotten. Für sie und ihre Freunde war das Bad ein wichtiger Treffpunkt. | |
„Man musste sich nicht einmal verabreden“, sagt sie, „man war einfach imm… | |
da.“ Es war die Zeit der Jugend, eine unbeschwerte Zeit, fast. | |
Es war auch die Zeit des Krieges. Zuerst wurde der Schwimmmeister | |
eingezogen. Nach und nach waren die jungen Männer in ihrem Freundeskreis | |
dran. Die Reihen lichteten sich. „Wenn einer länger nicht geschrieben hat, | |
ging man davon aus, er ist tot“, sagt Else. Es war ein kompliziertes | |
Nebeneinander von Gefühlen. „Wir wussten, im Krieg werden Menschen | |
totgeschossen“, sagt sie, „unausweichlich“, nennt sie das. Sie sagt aber | |
auch: „Die Jugend ist halt lebensfroh.“ Es habe ein Sprichwort gegeben | |
damals: „Bange machen gilt nicht.“ 1944 lernte sie ihren Mann Günter | |
kennen, ebenfalls im Elsebad. Er hatte sein Handtuch vergessen, sie teilte | |
ihrs mit ihm. Sie wurden ein Paar. Kurze Zeit später wurde auch er | |
eingezogen, kehrte aber zurück. | |
Dann die Nachkriegsjahre. Ihr Mann wurde Leiter eines Rechnungsbüros, sie | |
Hausfrau. Sie bekamen zwei Kinder. Mit ihnen verbrachte sie zwischen Mai | |
und September, wenn das Bad geöffnet war, fast jeden Tag hier, zusammen mit | |
den anderen Müttern. Sobald ihr Mann Feierabend hatte, kam er nach. Als die | |
Stadt das Bad in den Neunzigern dichtmachte und Hartwig und die anderen | |
Unterschriften für den Erhalt sammelten, waren auch Else und ihr Mann | |
dabei. „Die Menschen haben die Straßenseite gewechselt, wenn sie mich | |
gesehen haben“, sagt sie heute und lacht. „So energisch habe ich sie | |
bequatscht, zu unterschreiben.“ | |
Das Bad lag ihr aus mehreren Gründen am Herzen. Else ist eine | |
ausgezeichnete Schwimmerin, von Kindheit an. Sie nahm im Elsebad | |
Schwimmprüfungen ab, wurde später Schwimmlehrerin an einer Schule im Ort. | |
Auch im Alter bleibt sie dem Sport treu, holte mehrmals Gold bei den | |
Seniorenmeisterschaften der DLRG. | |
Doch dann kamen die Katastrophen. Erst Corona. Dann die Flut letztes Jahr, | |
sie ließ den Elsebach über seine Ufer treten, der Bolzplatz, die | |
Liegewiese, alles stand unter Wasser, teils bis über die Hüften. Ein | |
Totalschaden. Das Bad überlebte ihn nur, weil die Menschen im Ort wieder | |
mit anpackten und Geld spendeten. Im März dieses Jahres dann starb Elses | |
Mann. Inzwischen schafft sie es nicht mehr ins Elsebad. Aber sie denke gern | |
an die Zeit dort zurück, sagt sie, auch an die Zeit der Wiedereröffnung, | |
damals vor über 25 Jahren. | |
Für Schwimmbäder in Deutschland zeichnet sich derweil die nächste Prüfung | |
ab. Aufgrund der Energiekrise haben die ersten Bäder vorübergehend | |
dichtgemacht. Allein in Baden-Württemberg sind 45 Bäder wegen der | |
gestiegenen Energiepreise von einer Schließung bedroht. Größtenteils sind | |
das Hallenbäder, aber auch an Freibädern geht die Krise nicht vorbei. | |
Im Elsebad scheint auch das erst mal weit weg. Das Bad hat seit über zehn | |
Jahren eine Solarthermieanlage auf dem Dach. Wirklich nennenswerte | |
Heizkosten fallen erst wieder im Frühjahr an, bevor das Bad eröffnet wird | |
und es ans Anheizen geht, weil die Temperaturen dann noch deutlich zu | |
niedrig sind. | |
Ein Bad, umweltfreundlich betrieben, am Laufen gehalten mit | |
bürgerschaftlichem Engagement – ist das der Ausweg aus der Krise, in der | |
Schwimmbäder heute stecken? | |
Hartwig zumindest sieht vor allem Vorteile. Etwa den Umstand, dass in einem | |
Bürgerbad vieles unbürokratischer läuft. So müsse bei kommunalen Bädern | |
jede größere Investition über ein aufwendiges Verfahren ausgeschrieben | |
werden. Bürgerbäder könnten sich diesen Weg sparen, sagt er, vieles laufe | |
über private Kontakte, über Firmen aus der Region. | |
Dabei kann man ein Bürgerbad auch kritisch sehen. Man kann zum Beispiel | |
fragen: Ist es wirklich Aufgabe der Bürgerinnen und Bürger, ein Bad am | |
Laufen zu halten? Sollte das nicht Aufgabe der Kommune sein? | |
Karl-Heinz Schimpf sitzt im Vorstand der Partei Die Linke in Schwerte. Das | |
Engagement der Elsebad-Betreiber sei im Ort hoch angesehen, sagt er. „Aber | |
die Stadt hat sich damit auch einen schmalen Fuß gemacht.“ Eine jährliche | |
Investition von 60.000 Euro sei einfach zu wenig, die Stadt solle die | |
Unterstützung deutlich erhöhen. | |
Die Soziologin Tine Haubner forscht an der Universität Jena zum | |
Strukturwandel des Wohlfahrtstaates – und zur Rolle, die freiwilliges | |
Engagement dabei einnimmt. Denn es betrifft ja nicht nur Schwimmbäder. | |
Besonders in weniger urbanen Gebieten stehen häufig auch Museen und | |
Bibliotheken vor dem Aus. | |
Diese Entwicklung weg von einem „Leistungsstaat“ hin zu einem „auf die | |
Aktivierung der Eigenverantwortung der Bürger*innen drängenden Staat“ | |
habe in Deutschland in den Neunzigern eingesetzt, schreibt Haubner auf | |
Nachfrage per E-Mail. Leistungen wurden gekürzt, mehr Eigeninitiative der | |
Bürger:innen eingefordert. Oftmals haben diese die entstandenen Lücken | |
auch gefüllt. | |
Aber macht es sich der Staat damit nicht zu leicht? „Bürgerschaftliches | |
Engagement ist eine freiwillige, gemeinwohlbezogene Tätigkeit, die kein | |
Ausfallbürge eines sich zurückziehenden Staates sein sollte“, schreibt | |
Haubner. Wenn Ehrenamtliche zum Stützpfeiler würden, drohten sie | |
überfordert und instrumentalisiert zu werden. | |
Auch Lutz Thieme, der Sportwissenschaftler, sagt: „Eigentlich sollte ein | |
Schwimmbad Aufgabe der Kommune sein.“ Wenn aber partout die finanziellen | |
Möglichkeiten fehlen würden, könne auch eine Mischform die Lösung sein: Die | |
Gemeinde würde dann Bau und Betrieb der Anlage übernehmen – und die Bürger | |
das Personal stellen. | |
Mitgeschäftsführer Hartwig drosselt bei dem Thema die Geschwindigkeit, mit | |
der er sonst über das Bad spricht. „Natürlich sollte sich die Kommune um | |
ihre Bäder kümmern“, sagt er. „Wir propagieren das Bürgerbad auch nicht … | |
Alternative zu einem rein kommunalen Bad. Wir propagieren es als | |
Alternative zur Schließung.“ Was passieren würde, wenn sie der Stadt die | |
Verantwortung übertragen würden? „Dann wäre das Bad dicht“, sagt er. | |
19.25 Uhr. Die Halbstarken drehen noch mal auf. Die Jungs springen vom | |
1-Meter-Brett. Sie gehören zu den Letzten hier. Familien mit kleinen | |
Kindern sind schon abgezogen, die Liegewiese ist so gut wie leer. Zehn | |
Minuten später ist niemand mehr im Becken. Die Sonne steht tief, das | |
gierige Schlucken der Wasserrinne ist wieder das lauteste Geräusch. | |
Gerd, der Hausmeister, steht gemächlich auf. „Werd mal Feierabend machen“, | |
sagt er und kommt noch mit zur Gittertür. Wann er morgen arbeiten muss? | |
„Müssen tue ich gar nichts“, sagt er. „Aber ich werd gegen halb zehn wohl | |
wieder auf der Matte stehen.“ | |
6 Aug 2022 | |
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mahnt der DLRG, zumindest die Schwimmlern-Becken offen zu halten. | |
Kunstprojekt Tropez in Berliner Freibad: Die Kunst mit Badehose | |
Eine Schnittstelle zwischen Kulinarik, Ästhetik und Spaßbad soll das Tropez | |
im Sommerbad Humboldthain sein. In diesem Jahr aber schneidet sich wenig. | |
Gewalt im Berliner Columbiabad: Polizei schickt Zivilstreifen | |
Nach dem Vorfall mit elf Verletzten verstärken Bäderbetriebe und Polizei | |
die Sicherheitsmaßnahmen. Auch eine mobile Wache wird vor dem Bad | |
aufgebaut. | |
Antrag auf Gleichbehandlung in Bädern: Oben ohne für alle | |
Die SPD Hamburg hat einen Antrag gestellt, Frauen und Nicht-Binäre sollen | |
ohne Oberbekleidung ins Schwimmbad dürfen. In Göttingen geht das – | |
teilweise. |