# taz.de -- Abschiebung in Sachsen: Von der Klinik ins Gefängnis | |
> Die Polizei hat Mohammad K. aus der Leipziger Uniklinik in die Dresdner | |
> Abschiebehaftanstalt gebracht. Viele Menschen kämpfen um sein | |
> Bleiberecht. | |
Bild: Mehrere hundert Menschen protestierten gegen die geplante Abschiebung von… | |
LEIPZIG taz | Knapp eine Stunde, bevor die Polizei Mohammad K. am | |
Montagnachmittag aus dem Uniklinikum Leipzig abholt und in die Dresdner | |
Abschiebehaftanstalt bringt, haben sich rund vierzig Menschen vor der | |
Notaufnahme des Krankenhauses versammelt. | |
Sie alle fordern ein Bleiberecht für K. und wollen verhindern, dass er | |
inhaftiert wird. Die meisten sitzen auf einer niedrigen Mauer gegenüber des | |
Haupteingangs, einige harren schon seit Stunden hier aus und halten | |
Wärmflaschen in den Händen. Die Stimmung ist angespannt. Alle beobachten | |
den Haupteingang und die Leute, die rein- und rausgehen. Niemand weiß, wann | |
die Polizei Herrn K. herausführen wird. | |
Eigentlich sollte Mohammad K., dessen Asylantrag 2019 abgelehnt wurde, | |
schon vergangene Woche Dienstag in sein Geburtsland Jordanien abgeschoben | |
werden – obwohl er seit sieben Jahren in Deutschland lebt, Deutsch spricht, | |
nie straffällig geworden ist, Familie und Freund:innen in Leipzig und | |
mehr als drei Jahre in einer Bäckerei gearbeitet hat. | |
Diesen Job musste K. nur deswegen im Dezember 2020 aufgeben, weil ihm die | |
Ausländerbehörde die Beschäftigungserlaubnis entzogen hatte. Nach Angaben | |
des Sächsischen Flüchtlingsrates hat die Bäckerei K. sogar einen | |
Ausbildungsvertrag angeboten. Die Ausländerbehörde Leipzig jedoch habe K. | |
keine Ausbildungsduldung erteilt. | |
## „Mohammads Leben ist in Leipzig“ | |
Wenn man mit Freund:innen und Angehörigen von K. spricht, die sich vor | |
der Uniklinik versammelt haben, wird schnell klar, wie zu Hause sich der | |
Mann in Leipzig fühlen muss. „Mohammad hat sehr viele Freunde, außerdem | |
wohnt seine ganze Familie hier – seine Eltern, seine beiden Brüder, seine | |
Schwester“, sagt Ammar, 27, der seinen Nachnamen aus Angst vor der Polizei | |
für sich behalten möchte. Ammar hat K. 2016 in einem Deutschkurs in Leipzig | |
kennengelernt, seither sind die beiden eng befreundet. „In Jordanien hat | |
Mohammad keine Verwandten, keine Freunde und keine Wohnung“, sagt Ammar. | |
Auch die Eltern von K. stehen vor dem Krankenhaus, um gegen die | |
Inhaftierung und Abschiebung ihres Sohnes zu protestieren. Seine Mutter | |
weint, sein Vater schaut ernst in Richtung Eingangstür. „Das, was hier | |
passiert, ist unmenschlich“, sagt er aufgebracht. Mohammad gehe es | |
psychisch und körperlich sehr schlecht. „Ich verstehe nicht, wieso Mohammad | |
abgeschoben werden soll. Er hat sich gut integriert, jahrelang gearbeitet, | |
Steuern bezahlt“, sagt sein Vater. „Mohammads Leben ist in Leipzig.“ | |
Entsprechend verzweifelt muss K. gewesen sein, als vergangenen | |
Dienstagmorgen Polizeibeamte vor seiner Wohnung in der Leipziger | |
Südvorstadt standen. Er verletzte sich selbst schwer und drohte mit Suizid, | |
falls die Beamt:innen seine Wohnung betreten sollten. Die Polizei setzte | |
Spezialkräfte ein, 150 Menschen demonstrierten vor dem Wohnhaus gegen die | |
Abschiebung von K. Erst Stunden später – nachdem ein Kommunikationsteam des | |
LKA mit K. gesprochen und die sächsische Landesdirektion versichert hatte, | |
dass er an diesem Tag nicht abgeschoben werden würde – öffnete der | |
schwerverletzte Mann die Tür. Als er heraustrat, stürzten sich | |
Polizeikräfte brutal auf ihn und warfen ihn zu Boden. Das ist auf | |
[1][einem] [2][Video auf Twitter] zu sehen. | |
Nach der abgebrochenen Abschiebung wurde K. mit schweren Verletzungen in | |
die Uniklinik Leipzig eingeliefert. Dort haben ihn rund um die Uhr vier | |
Polizist:innen bewacht. Am Mittwoch hat das Amtsgericht Dresden einen | |
Haftbefehl gegen K. erlassen. Er solle die Zeit bis zum neuen | |
Abschiebetermin in Abschiebungshaft verbringen. Seither kam es immer wieder | |
zu Protesten in Leipzig und Dresden, zuletzt am Montag – dem Tag, an dem K. | |
in die Abschiebehaftanstalt Dresden überführt wurde. | |
„Die Polizei hat Mohammad morgens das Handy entzogen, weshalb wir leider | |
keinen Kontakt zu ihm hatten. Wir wussten lange nicht, was los ist. Für den | |
Bruder von Mohammad, Mostafa K., konnten wir ein Besuchsrecht erwirken“, | |
teilte Yasemin Şahin vom Unterstützernetzwerk #MohammadBleibt mit. „Die | |
Ärztin bestätigte ihm, dass Mohammad heute entlassen wird, er machte jedoch | |
keine Angaben, wohin er verlegt wird und wann das passieren würde. Mostafa | |
wurde dann eine halbe Stunde lang in einem anderen Zimmer isoliert, während | |
die Polizei Mohammad wegbrachte“, so Şahin. Die Beamt:innen hätten ihn | |
in Zivilkleidung abgeholt, nicht in der üblichen Uniform. | |
## Die Gesundheit steht auf dem Spiel | |
Der Anwalt von K., Robin Michalke, versucht jetzt eine Ausbildungsduldung | |
für K. zu erwirken. „Wir hoffen, über einen der vielen Wege, die wir gerade | |
gehen, die Abschiebung von Herrn K. aussetzen zu können.“ Michalke fordert | |
eine erneute psychologische Begutachtung für seinen Mandanten. „Ich bin | |
nicht überzeugt, dass er reise- und haftfähig ist“, teilte der Anwalt mit. | |
Der Sächsische Flüchtlingsrat verurteilt die Abschiebung von K. und dessen | |
Inhaftierung in der Abschiebehaftanstalt scharf. „Wir finden es höchst | |
kritikwürdig, eine Person, die mit dem Gedanken des Suizids und der | |
Selbstverletzung spielt und in einer psychisch extremen Drucksituation ist, | |
in Haft zu stecken. Eine erneute amtsärztliche Untersuchung ist dringend | |
notwendig“, sagte Sprecherin Paula Moser der taz. „Handlungen der | |
Ausländerbehörden und Polizei dürfen niemals dazu führen, dass Gesundheit | |
oder Leben von Betroffenen in Gefahr geraten.“ | |
Auch einige Mitarbeiter:innen des Uniklinikums Leipzig meldeten sich | |
am Montag zu Wort. „Wir finden es traurig und beschämend zu sehen, wie | |
vonseiten der Behörden mit Mohammad K. umgegangen wird. Wir können beim | |
besten Willen kein Verständnis dafür aufbringen, dass ein netter Mensch und | |
guter Nachbar so ungerecht behandelt wird. Warum reißt man einen | |
unbescholtenen Menschen aus seinem Leben, das er sich hier in Leipzig | |
mühsam aufgebaut hat?“, heißt es in einer Stellungnahme. | |
Die asyl- und migrationspolitische Sprecherin der Grünen [3][im Sächsischen | |
Landtag], Petra Čagalj Sejdi, kritisierte das Vorgehen der Vollzugsbehörden | |
im Fall Mohammad als rücksichtslos und unverständlich. „Bereits die | |
mangelnde Sensibilität der Vollzugskräfte am Tag der Abschiebung hat viele | |
Fragen aufgeworfen. Der Einsatz des SEK und die Fortsetzung der Rückführung | |
trotz des Suizidversuches erscheinen aus unserer Sicht absolut | |
unverhältnismäßig“, erklärte Čagalj Sejdi. „Er verdient unserer Meinung | |
nach eine Chance, auf die er womöglich – wäre das Chancen-Aufenthaltsrecht | |
der Bundesregierung bereits in Kraft – einen Anspruch hätte.“ | |
Mit dem [4][sogenannten Chancenaufenthaltsrecht] will die Bundesregierung | |
für gut integrierte Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus eine | |
Bleiberecht-Perspektive in Deutschland schaffen – für Menschen wie Mohammad | |
K. Demnach sollen Geflüchtete, die am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in | |
Deutschland leben, nicht straffällig geworden sind und sich „zur | |
freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen“, eine einjährige | |
Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten können, um in dieser Zeit die | |
übrigen Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu erfüllen. | |
Neun Bundesländer handeln bereits jetzt nach dem von der Ampelkoalition | |
geplanten Gesetz und schützen Menschen, die unter diese Regelung fallen. | |
Sachsen jedoch will auf das Bundesgesetz warten und lehnt vorgreifende | |
Maßnahmen ab. | |
Für seinen Anwalt Robin Michalke sei Herr K. „das Paradebeispiel“ für das | |
geplante Chancen-Aufenthaltsrecht. „Eine Vorgriffsregelung hätte ihn | |
zweifelsfrei vor der Abschiebung bewahrt.“ Allerdings komme es mittlerweile | |
gar nicht mehr auf eine sächsische Vorgriffsregelung an, sagte Michalke. | |
„Das Gesetzgebungsverfahren für das Chancen-Aufenthaltsrecht ist | |
mittlerweile so weit fortgeschritten, dass Herr K. Anspruch auf einen | |
effektiven Zugang zu der sicher kommenden Aufenthaltsregelung hat.“ | |
Diesbezüglich erklärte Juliane Nagel, Sprecherin für Migration der | |
Linksfraktion im Leipziger Stadtrat: „Wir werben seit Juni dieses Jahres | |
dafür, dass Sachsen geduldete Menschen im Vorgriff auf den anstehenden | |
Chancen-Aufenthalt vor Abschiebungen schützt.“ | |
Sie könne es nicht nachvollziehen, dass ein Mensch, der seit „so langer | |
Zeit“ in Leipzig wohnt, abgeschoben werden soll. „Ich appelliere an die | |
Leipziger Ausländerbehörde, an Ober- und Ordnungsbürgermeister, jetzt Wege | |
in ein Bleiberecht zu finden und alle Kräfte in eine Lösung zu setzen. Ich | |
erinnere auch daran, dass der Stadtrat den Oberbürgermeister im März mit | |
großer Mehrheit beauftragt hat, mehr Chancen für Bleiberechte von | |
Geflüchteten zu erwirken.“ | |
Das sächsische Innenministerium teilte auf Anfrage mit, dass es von einem | |
Vorgriff auf das Chancenaufenthaltsrecht absehe, da bisher „nur ein | |
Gesetzentwurf“ vorliege. „Der momentane Gesetzentwurf hat keine rechtliche | |
Bindungswirkung“, sagte ein Sprecher der taz. Solange das Gesetz nicht | |
verabschiedet wurde, sei das Innenministerium nicht befugt, den | |
Ausländerbehörden anzuweisen, „von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen bei | |
vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländern abzusehen“. Darauf, dass neun | |
Bundesländer aber genau das getan haben und schon heute Menschen schützen, | |
die von dem Gesetz profitieren würden, ging das sächsische Innenministerium | |
nicht ein. | |
In Bezug auf die brutale Vorgehensweise der Polizei vor der Wohnung von | |
Mohammad K. sagte das Innenminsterium: „Wir kennen die Videoaufnahme und | |
verstehen, dass die Aufnahmen für Unbeteiligte verstörend wirken können. | |
Aber nach Würdigung der Gesamtumstände war für die Beamten vor Ort der | |
Ermessenspielraum, anders zu handeln, stark eingeschränkt.“ Die Polizei | |
Leipzig teilte diesbezüglich mit, die Maßnahme habe darauf abgezielt, | |
„weitere eigen- und fremdgefährdende Handlungen der Person zu unterbinden | |
und den Betroffenen der ärztlichen Versorgung zuzuführen“. | |
20 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/JaworeckSandra/status/1570314932587044864 | |
[2] https://twitter.com/JaworeckSandra/status/1570314932587044864 | |
[3] /Drohende-Abschiebung-in-Sachsen/!5874714 | |
[4] /Aufenthaltstitel-fuer-Geduldete/!5838992 | |
## AUTOREN | |
Rieke Wiemann | |
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