# taz.de -- Barrierefreiheit bei der Bahn: Auf halber Strecke steckengeblieben | |
> Keine Stufen am Eingang zum Zug wäre für viele eine große Erleichterung. | |
> Die Bahn will liefern, jedoch erst 2024 und auch nicht auf allen | |
> Strecken. | |
Bild: Keine Stufen am Eingang zum Zug wäre für viele eine große Erleichterung | |
Es hätte eine Zeitenwende sein können. Die Bahn hat in dieser Woche | |
erstmals einen Wagon für ICE vorgestellt, der ohne Stufen am Eingang | |
auskommt. Nicht nur Menschen mit Rollstühlen, auch geplagte Eltern mit | |
Kinderwagen und alle anderen Reisenden mit Rollkoffern müssen dann nicht | |
mehr sich selbst, ihre Lieben oder das Gepäck in den Zug wuchten, sondern | |
können einfach rein rollen, barrierefrei. | |
Vor allem für Menschen, [1][die auf einen Rollstuhl angewiesen sind], ist | |
das eine Revolution. Denn die können bisher nur in den Zug, wenn sie vorher | |
Extrapersonal bei Bahn beantragen, das sie dann mit einem Hubwagen in den | |
Wagon hievt. Und die Bahn mal wieder plötzlich nicht genug Personal hat, | |
[2][müssen Rollifahrer:innen draußen bleiben]. | |
Bis der Traum von gelebter Inklusion Wirklichkeit wird, dauert es | |
allerdings noch. Ab Oktober 2024 sollen die neuen ICE L – das steht laut | |
Bahn für „low floor“, also „Niederflur“ – erstmals im Einsatz sein a… | |
Stecke von Berlin nach Amsterdam. In den folgenden Jahren sollen nach und | |
nach insgesamt 23 Züge des spanischen Herstellers Talgo geliefert werden. | |
Wichtiger aber noch ist das Versprechen, das Bahn-Vorstandsmitglied Michael | |
Peterson bei der Präsentation des Zugs in Berlin gab: „Unser Ziel als DB | |
ist: Bahn fahren für alle, Bahn fahren ohne Barrieren.“ Bei künftigen | |
Ausschreibungen soll der stufenlose Zutritt daher Standard werden. Und das | |
ist die eigentliche Revolution. | |
## In Sachen Inklusion trotzdem noch mau | |
Denn bisher setzte die Bahn beim ICE ausschließlich auf den deutschen | |
Hersteller Siemens. Der darf auch bis 2030 weiter noch neue Züge mit Stufen | |
liefern. [3][Das ist vertraglich vereinbart]. Und diese Züge werden dann | |
über mehrere Jahrzehnte eingesetzt werden. Der ICE ist auf eine Lebensdauer | |
von rund 25 Jahren konzipiert. Nichtbarrierefreie ICE wird es also noch bis | |
zum Jahr 2055 geben. Da sieht die Bahn trotz der jetzigen Wende | |
inklusionsmäßig also ziemlich alt aus. | |
Denn Siemens baut seine Züge mit durchgehenden Achsen. Die liegen rund 30 | |
Zentimeter höher als [4][die in an deutschen Fernbahnhöfen übliche | |
Bahnsteighöhe von 76 Zentimetern]. Baut man den Fahrgastraum darüber, sind | |
Stufen unumgänglich. | |
Der Talgo hingegen kommt ohne Achsen aus. Er fährt auf einzeln angebrachten | |
Rädern, so dass der Fahrgasraum deutlich niedriger gebaut werden kann. | |
Erfunden hat die Technik der spanische Ingenieur Alejandro Goicoechea | |
bereits Ende der 1930er Jahre. Hat die Deutsche Bahn also fast 90 Jahre | |
Verspätung beim Umstieg auf Niederflurzüge? | |
Ganz so schlimm ist es nicht. Auch in Spanien werden die Talgo erst seit | |
1992 [5][als Hochgeschwindigkeitszüge eingesetzt]. Und absolut barrierefrei | |
sind auch [6][die Schnellzüge der spanische Renfe bis heute nicht], unter | |
andere wegen dort wechselnder Höhen der Bahnsteigkanten. Aber hätte die | |
Bahn beim ICE von Beginn an auf Talgo statt auf Siemens gesetzt, gäbe es | |
heute schon deutlich weniger Probleme beim Einstieg. | |
## Ein einziges Klo | |
Umso bedauerlicher ist es, dass der Umschwung bei der Bahn auf halber | |
Strecke stecken bleibt. Die neuen ICE L sollen 562 Sitze bekommen, aber | |
weiterhin werden gerade mal drei davon für Rollstuhlfahrer:innen | |
angeboten. [7][Die Bahn] nimmt sich offenbar selbst nicht ernst und rechnet | |
gar nicht damit, dass besonders viele mobilitätseingeschränkte | |
Mitbürger:innen dank Mithilfe der Bahn mobiler werden wollen. | |
Schlimmer noch: auch in den Niederflur-ICE [8][soll es nur ein einziges | |
barrierefreies Klo geben]. Wenn das verstopft ist, darf – so die aktuelle | |
Politik der Bahn – keine Rollifahrer:in mit. Und Toiletten in der Bahn | |
sind oft verstopft. Die Bahn hängt dem nicht nur in Deutschland weit | |
verbreiteten Irrtum an, dass der Barrierefreiheit schon Genüge getan ist, | |
wenn sie einen einzigen Weg zum Ziel anbietet. Das Zauberwort hieße hier | |
Redundanz. | |
Zwei Aufzüge nebeneinander, zwei barrierefreie Eingänge, zweimal soviel | |
rollstuhlgerechte Plätze und eben mindestens zwei barrierefreie Toiletten | |
erhöhen die Wahrscheinlichkeit exorbitant, dass Kund:innen den | |
angebotenen Service verlässlich nutzen können. Auch [9][wenn ein Aufzug | |
feststeckt], eine Tür klemmt oder eben eine Toilette zum Himmel stinkt. Das | |
wäre dann eine echte Zeitenwende gewesen – noch dazu nachhaltig. | |
16 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Bahnfahrten-im-Rollstuhl/!5651027 | |
[2] /Bahn-nicht-barrierefrei/!5870324 | |
[3] /Mangelnde-Barrierefreiheit-bei-der-Bahn/!5843472 | |
[4] /Fehlende-Barrierefreiheit/!5647648 | |
[5] https://twitter.com/gereonas/status/1513106633219620866 | |
[6] https://twitter.com/gereonas/status/1517159073824735234 | |
[7] /Desolate-Lage-der-Deutschen-Bahn/!5863182 | |
[8] https://twitter.com/DB_Bahn/status/1570103839684202496 | |
[9] /Die-Wahrheit/!5801711 | |
## AUTOREN | |
Gereon Asmuth | |
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