# taz.de -- Bahn nicht barrierefrei: Rollstuhlfahrerin fliegt aus ICE | |
> Die Umweltaktivistin Cécile Lecomte wurde mit ihrem Rollstuhl aus dem ICE | |
> verwiesen. Sie wollte ihren Platz nicht für einen Kinderwagen räumen. | |
Bild: Geht doch: Platz für Rollstühle im ICE | |
HAMBURG taz | Beamte der Bundespolizei schleifen eine schwarz gekleidete | |
Frau durch einen Eisenbahnwagen: Ein auf Youtube veröffentlichtes | |
Handyvideo dokumentiert, wie die auf einen Rollstuhl angewiesene | |
[1][Umweltaktivistin Cécile Lecomte] in Göttingen aus einem ICE geholt | |
wird. [2][In einem auf Twitter veröffentlichten Video] fragt sie | |
verzweifelt auf dem Bahnsteig, wie sie nun weiterkommen solle. | |
Lecomte hatte sich im Zug geweigert, mit ihrem Rollstuhl Platz für einen | |
Kinderwagen zu machen. Die Schaffnerin warf ihr daraufhin vor, sich | |
unkooperativ zu verhalten – und alarmierte die Bundespolizei. Lecomte | |
kritisiert, die Polizisten hätten keine Rücksicht auf ihre | |
krankheitsbedingten Schmerzen genommen; die Bahn habe unverhältnismäßig | |
agiert und komme ihrer Verpflichtung zur Barrierefreiheit für Menschen mit | |
Behinderung nicht nach. | |
Die Bahn hat zwar seit 2011 vier Programme aufgelegt, die es Menschen mit | |
Behinderung leichter machen sollen, Züge zu nutzen. Trotzdem sehen | |
Betroffenenvertreter wie Alexander Ahrens von der Interessenvertretung | |
„Selbstbestimmt Leben in Deutschland“ (ISL) [3][nach wie vor große | |
Defizite]. „Es gibt zu wenig Personal, zu wenige Rollstuhlplätze und es | |
fehlt ein Wunsch- und Wahlrecht“, sagt Ahrens. Menschen mit Behinderungen | |
könnten sich eben nicht aussuchen, wann sie reisen wollten. | |
## Nur Platz im Ruhewagen | |
Der Fall Lecomtes, [4][die sich im Umweltschutz als Kletteraktivistin | |
„Eichhörnchen“ einen Namen gemacht hat], illustriert die Problematik. Als | |
sie in Darmstadt habe zusteigen wollen, sei niemand vom Mobilitätsservice | |
der Bahn am Steig gewesen. Sie habe ihren Einstieg privat organisieren | |
müssen. | |
Der [5][Rollstuhlplatz im Zug] befand sich in einem Ruhewagen. Als sich | |
Lecomte mit ihrem später zugestiegenen Begleiter unterhielt, führte das zu | |
Konflikten mit anderen Reisenden. Nach Auskunft der Bahn schilderte eine | |
Zeugin, Lecomte habe sich im Wagen lautstark über die Bahn beschwert, dass | |
sie schlecht sei und Rollstuhlfahrer ihr mal zeigen müssten, „wo der Hammer | |
hängt“. Eine Mitreisende habe sich über dieses Verhalten beschwert. Lecomte | |
habe sie wüst beschimpft. | |
Lecomte sagt, sie habe im Ruhebereich mindestens eine Stunde geschlafen. | |
Bei der [6][Auseinandersetzung zum Thema Barrierefreiheit] sei sie sicher | |
etwas gereizt und aufgeregt gewesen, „als ich merkte, dass mein Gegenüber | |
unflexibel ist und sich weder für den diskriminierenden Charakter der | |
Situation noch für meinen Gesundheitszustand interessiert und auf formale | |
Dinge pocht“, erzählt sie der taz. Die Kritik daran, dass sie sich mit | |
ihrem Begleiter im Ruhewagen unterhielt, findet sie diskriminierend. | |
„Rollstuhlfahrer haben leider keine Wahl“, sagt Lecomte. „Sie können den | |
Wagen nicht wechseln.“ | |
Eskaliert ist die Situation nach übereinstimmender Darstellung, als eine | |
Frau mit Doppelkinderwagen zustieg und ebenfalls auf den Rollstuhlwagen | |
verwiesen wurde. Lecomte hatte ihren Rollstuhl neben der Toilette | |
abgestellt. Der eigentlich vorgesehene Platz sei zu schmal für den | |
Rollstuhl, wie sie mit einem Foto dokumentiert. Sie legte sich am | |
Rollstuhlplatz auf den Boden, um ihre Schmerzen zu lindern und weigerte | |
sich, für den Kinderwagen aufzustehen. Sie wolle „die Probleme der Bahn, | |
insbesondere der mangelnden Barrierefreiheit, nicht ausbaden“. | |
Auf taz-Anfrage zitiert eine Sprecherin der Bahn eine Zeugin, Lecomte solle | |
an dieser Stelle „ausgerastet“ sein. Die Zeugin habe „die Dame im Rollstu… | |
als absolut unkooperativ und beratungsresistent“ beschrieben. Immerhin habe | |
deren Begleitperson dann als Zeichen des guten Willens beim Verstauen des | |
Kinderwagens geholfen. Lecomte zufolge fand sich ein Platz im Fahrradwagen. | |
Diese Lösung führte allerdings nicht dazu, dass der Polizeieinsatz | |
abgeblasen wurde. | |
## „Bittsteller und Störer“ | |
[7][Betroffenenvertreter Ahrens] kann die Aufregung Lecomtes gut | |
nachvollziehen. „Durch die fehlende Barrierefreiheit ist die Situation | |
eskaliert“, vermutet er. Wenn er mit seinem 9-jährigen Sohn unterwegs sei, | |
provoziere ein Platz im Ruheabteil Ärger. Der Mobilitätsservice der Bahn | |
sei immer wieder mal gar nicht erreichbar und nicht gut genug ausgebaut. | |
Jährlich lehne die Mobilitätsservicezentrale (MSZ) ein bis zwei Prozent der | |
Anfragen ab, sagt Ahrens. | |
Menschen mit Behinderung könnten ohne Hilfe nicht zusteigen und sich in den | |
Zügen auch nicht frei bewegen. Die Zustiegshilfen seien aufwendig zu | |
bedienen. „Wir sind immer Bittsteller und Störer“, sagt Ahrens. Dazu komme, | |
dass der Service an den Tagesrandzeiten gar nicht verfügbar sei. „Solange | |
wir keine Zusage bekommen, dass wir zu jeder Zeit im Fernverkehr reisen | |
dürfen, bringen uns diese Lifte gar nichts“, sagt Ahrens. | |
Die Bahn verwies darauf, dass ihre MSZ 2021 rund 637.000 Hilfestellungen | |
organisiert habe. Die MSZ berate bei der Planung einer barrierefreien | |
Reise. „Zudem rüstet die DB ihre Bahnhöfe, Züge, Busse, Reisezentren, | |
Fahrkartenautomaten und digitalen Plattformen kontinuierlich für einen | |
barrierefreien Zugang weiter aus“, teilte die Bahnsprecherin mit. 79 | |
Prozent der rund 5.700 Personenbahnhöfe seien stufenfrei erreichbar. Pro | |
Jahr baue die Bahn rund 100 Bahnhöfe barrierefrei um. | |
„Die Vorwürfe der Rollstuhlfahrerin sind für uns nicht nachvollziehbar“, | |
teilte die Bahnsprecherin mit. Trotzdem wolle die Bahn ihr Bedauern zum | |
Ausdruck bringen, dass die Zugfahrt eine solche Entwicklung genommen habe. | |
Denn natürlich hätten Diskriminierung und Hass keinen Platz bei der Bahn. | |
In einer älteren Version dieses Artikels war im ersten Absatz vom | |
„Bundesgrenzschutz“ die Rede. Dieser wurde jedoch 2005 in „Bundespolizei�… | |
umbenannt. Der Grenzschutz gehört nach wie vor zu ihren Aufgaben. | |
9 Aug 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Umweltaktivistin-ueber-Klimawandel/!5815091 | |
[2] https://twitter.com/HoernchenCecile/status/1555097712583970817 | |
[3] /Weniger-Barrierefreiheit-im-Nahverkehr/!5836475 | |
[4] /Aktivistin-Cecile-Lecomte/!5520848 | |
[5] /Petition-der-Woche/!5833595 | |
[6] /Barrierefreier-OePNV/!5832750 | |
[7] https://isl-ev.de/index.php/verband-zentren/bundesgeschaeftsstelle | |
## AUTOREN | |
Gernot Knödler | |
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