# taz.de -- Verkehrswende und Behinderung: „Das ist ausgrenzend“ | |
> Auch Projekte der Mobilitätswende können Menschen behindern – das fängt | |
> beim Wegfall von Parkplätzen an. Bis jetzt wird darüber wenig gesprochen. | |
Bild: Menschen mit einer Behinderung werden zu selten als VerkehrsteilnehmerInn… | |
taz: Frau Bendzuck, wie viele Menschen in Berlin sind in ihrer Mobilität | |
eingeschränkt? | |
Gerlinde Bendzuck: Das lässt sich nur schätzen. Es gibt eine halbe Million | |
Menschen mit Behinderungen, da sind aber diejenigen nicht dabei, die kein | |
amtliches Feststellungsverfahren zur Ermittlung eines Behinderungsgrads | |
durchlaufen haben. Viele davon, weil sie schon älter und nicht gut vernetzt | |
sind oder den Gang aufs Amt scheuen. Und dann gibt es noch Menschen, die | |
sich ein Bein gebrochen haben, oder Familien mit kleinen Kindern. Insofern | |
ist die Zahl nicht aus der Luft gegriffen, dass ein Drittel aller | |
BerlinerInnen eine mindestens temporäre Mobilitätsbeeinträchtigung hat. | |
Vor Kurzem hat der Mobilitätsausschuss InklusionsexpertInnen angehört, | |
unter anderem Sie. Deutlich wurde dabei, dass es nicht nur die altbekannten | |
Defizite etwa im ÖPNV gibt, sondern dass die Verkehrswende neue Barrieren | |
schafft – zumindest gibt es diese Sorge. Ein zentraler Aspekt dabei sind | |
Parkplätze. So wird es anscheinend schwieriger, als Mensch mit Behinderung | |
einen individuellen Parkplatz zu bekommen. | |
Gerlinde Bendzuck: Anspruch auf einen personengebundenen Parkplatz hat man | |
nur mit dem sogenannten aG-Ausweis, was für „außergewöhnliche | |
Gehbehinderung“ steht. In der Praxis ist die Voraussetzung mindestens eine | |
doppelte Unterschenkelamputation, also schwerste Einschränkungen. Viele | |
Bezirksämter handhaben die Verordnung so restriktiv, dass beispielsweise | |
Menschen mit einer schweren Herzkrankheit, die nur ein paar Schritte gehen | |
können, kaum Chancen auf einen solchen Ausweis haben. Im Rahmen unserer | |
Antidiskriminierungsberatung erfahren wir regelmäßig von solchen Fällen. | |
Und den [1][tausenden von Long-Covid-Betroffenen] wird es nicht anders | |
gehen. | |
Thomas Seerig: Ich finde die unterschiedliche Genehmigungspraxis der | |
Bezirke sehr fragwürdig. Es kann passieren, dass Sie einen individuellen | |
Parkplatz haben, aber keinen mehr bekommen, wenn Sie in einen anderen | |
Bezirk umziehen. Und es kommt auch dazu, dass eine Straßenverkehrsbehörde | |
den Bedarf anhand der Parkplatzsituation prüft – nach dem Motto: „Wenn es | |
sowieso genug freie Parkplätze gibt, brauchst du keinen eigenen.“ Das führt | |
unter Umständen zu kuriosen Situationen. Ich wohne am Schlachtensee, da | |
habe ich vor meiner Haustür an 315 Tagen im Jahr kein Problem. Ich habe nur | |
eines, wenn das Wetter schön ist. Wenn ich dann überhaupt einen Parkplatz | |
finde, liegt der so weit weg, dass auch Menschen ohne Beeinträchtigung zehn | |
Minuten zu Fuß brauchen. Zugegebenermaßen würde aber wohl auch ein | |
reservierter Parkplatz rücksichtslos zugeparkt werden. | |
Es liegt an der Praxis der Ämter, nicht an veränderten Zielzahlen oder | |
Ähnlichem? | |
Thomas Seerig: Das kann schon deswegen nicht sein, weil die Ämter gar | |
keinen Überblick haben. In der letzten Legislaturperiode habe ich als | |
Abgeordneter über den Senat angefragt, wie sich die Anzahl der | |
personengebundenen Parkplätze entwickelt hat. Die Antwort der Bezirke | |
lautete: Wissen wir nicht. Aber wer soll das wissen, wenn nicht das | |
Straßenverkehrsamt? Übrigens müssen Sie für einen personengebundenen | |
Parkplatz auch ein eigenes Auto besitzen. Das schließt die Nutzung von | |
Carsharing aus, und wenn Sie einen freundlichen Nachbarn haben, der Sie | |
öfters mal fährt, gilt das auch nicht. | |
Gerlinde Bendzuck: Es betrifft auch viele, die Eingliederungshilfen | |
beziehen – Menschen, die in der Einkommensfalle stecken, weil sie | |
vielleicht eine psychische Erkrankung haben und nun aufgrund ihrer | |
Erkrankung [2][in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen | |
beschäftigt] sind. Viele haben mal den Führerschein gemacht und sind auch | |
fahrfähig, haben aber schon wegen der Anrechnung von Einkünften und | |
Vermögen große Probleme, ein Fahrzeug zu halten bzw. zu erwerben. Auch wenn | |
sie sich im ÖPNV unwohl fühlen, weil es dort eng ist und unvorhergesehene | |
Situationen auftreten, haben sie nach geltender Gesetzgebung bzw. | |
-auslegung 0,0 Chancen auf einen personengebundenen Parkplatz. | |
Nun wollen diejenigen, die einen individuellen Parkplatz genehmigt bekommen | |
haben, mit ihrem Auto ja auch irgendwo hinfahren. Am Arbeitsplatz haben sie | |
vielleicht noch eine sichere Abstellmöglichkeit, aber nirgendwo sonst. Wenn | |
ich es richtig verstehe, macht Ihnen deshalb der Trend zum Kiezblock | |
Sorgen. | |
Gerlinde Bendzuck: Unter den übrigen Aspekten – Sicherheit für zu Fuß | |
Gehende, Aufenthaltsqualität, Klimaschutz – sind Kiezblocks eine super | |
Idee. Aber wenn man sich als Mensch mit einer Behinderung in der ganzen | |
Stadt autonom und spontan bewegen will, möchte man natürlich auch Menschen | |
in diesen Kiezblocks besuchen. Im Rahmen der Sozialmobilität braucht es in | |
diesen geschützten Räumen geregelte Bedingungen für Personengruppen, die | |
darauf angewiesen sind. Das gilt natürlich auch für andere Kfz-Fahrende, | |
etwa Pflegedienste. Für sie alle sollte es ein niedrigschwelliges | |
Antragsverfahren geben. Bislang haben wir weder von der Senatsverwaltung | |
noch von den Bezirken konkrete Angaben bekommen, wie das geregelt werden | |
kann, bevor diese Projekte starten. Aber diese Lernprozesse dürfen nicht | |
auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen werden. | |
Thomas Seerig: Dass viele Anwohnende in solchen Zonen auf Parkplätze | |
angewiesen sind, ist vielleicht in der Verkehrsverwaltung angekommen. Das | |
Problem des gelegentlichen Verkehrs, ob für ein privates Treffen oder einen | |
Praxisbesuch, noch nicht so ganz. | |
Gerlinde Bendzuck: Da werden benachbarte Parkhäuser angemietet – alles | |
schick für die meisten, aber verschiedene sehr vulnerable Zielgruppen | |
fallen hinten runter. Ich halte das für einen Diskriminierungstatbestand, | |
gegen den Verbände wie unserer übrigens in Bezug auf Vorenthaltung | |
angemessener Vorkehrungen klagen können. | |
Was ich noch gelernt habe: Für Menschen mit Behinderung, ob sie nun selbst | |
Auto fahren oder gefahren werden, kann es ein Problem sein, wenn | |
Hauptstraßen mit geschützten Radspuren ausgestattet werden und die | |
Haltemöglichkeiten wegfallen. | |
Gerlinde Bendzuck: Ja, und wer wohnt an so einer vielbefahrenen und lauten | |
Hauptstraße? Wieder mal die nicht so Zahlungskräftigen, die anderswo nichts | |
finden. Ich selbst bin übrigens begeisterte Nutzerin der [3][Protected Bike | |
Lanes], ich habe ein elektrisches Zuggerät für meinen Rollstuhl. Aber wenn | |
ich mich in die Anfangsjahre meiner rheumatischen Erkrankung zurückversetze | |
… In Berlin gibt es rund 70.000 Menschen mit entzündlichen rheumatischen | |
Erkrankungen, dazu kommen degenerative Erkrankungen, 10 Prozent der | |
Gesamtbevölkerung haben Arthrose – da tut jeder Schritt weh, da sind 200 | |
Meter eine lange Strecke. Wenn ich dann an so einer Straße wohne und man | |
sagt mir, na, du musst ja nur zweimal um die Ecke, da ist vielleicht ein | |
Parkplatz für dich, dann ist das ausgrenzend. | |
Finden Sie es ableistisch, wenn die Fans der Verkehrswende stattdessen die | |
gesundheitlichen Vorzüge des Radfahrens preisen? | |
Gerlinde Bendzuck: Sagen wir, sie denken nicht weit genug. Sie sehen das | |
Klimathema, sie sagen: Je mehr Radkilometer, desto besser – alles richtig. | |
Aber dass dabei sehr vulnerable Menschen in ihrer Teilhabe eingeschränkt | |
werden, das muss in Berlin 2023 nicht sein. | |
Thomas Seerig: Es fehlt mir auch der Blick aus der | |
Friedrichshain-Kreuzberger Bubble heraus auf die Stadtteile außerhalb des | |
S-Bahnrings. Wo die ÖPNV-Versorgung schlechter ist, wo Busse seltener | |
fahren, wo es nicht überall Nachtbusse gibt. Für jemanden wie mich, der | |
dort wohnt und sozusagen kurz vor dem Rollstuhl ist, ist das Auto auf dem | |
ersten und dem letzten Kilometer unverzichtbar. Ich will nicht warten, bis | |
ich vielleicht irgendwann einen Elektrorollstuhl habe und dann damit die | |
800 Meter zum Mexikoplatz oder zur Krummen Lanke rollen kann. | |
Was fordern Sie? | |
Gerlinde Bendzuck: Wir bräuchten beispielsweise ein Fast-Track-Verfahren | |
für allgemein zugängliche Behindertenparkplätze vor Einrichtungen von | |
öffentlichem Interesse – wie Gesundheit und Dienstleistungen. Eine Praxis | |
oder eine Firma müssen sich niedrigschwellig, zeitnah und ohne übermäßige | |
Gebühren darum bemühen können. Eine weitere Säule wäre eine ordentliche | |
Rücksichtskampagne für die Personengruppen mit besonderen | |
Schutzbedürftigkeiten. Man darf auch gerne innovativ denken: Warum nicht | |
mehr Tiefgaragen bauen oder ausweisen, wo Parkplätze für beeinträchtigte | |
Menschen kostenfrei vorgehalten werden, wenn in unmittelbarer Nähe keine | |
Parkflächen realisiert werden können, weil Fahrradwege oder einspurige | |
Straßenführung dies verhindern? Gut finde ich, dass die Senatorin sagt, es | |
werde insgesamt weniger Parkplätze geben, es müsse aber darüber geredet | |
werden, wem diese Parkplätze bevorzugt zur Verfügung stehen. | |
Thomas Seerig: Frau Jarasch preist ja die Vorzüge von [4][versenkbaren | |
Pollern für die Kiezblocks]. Meine ganz persönliche innovative Idee wäre | |
es, die Behindertenparkausweise mit einem Chip zu versehen, der diese | |
Poller versenkt. Wir könnten auch Behindertenparkplätze mit Bügeln gegen | |
Falschparker ausstatten, die sich mit diesem Chip absenken lassen. | |
Zurzeit arbeitet die Verkehrsverwaltung unter Beteiligung der Verbände an | |
einem inklusiven Mobilitätssicherungskonzept, was erhoffen Sie sich davon? | |
Gerlinde Bendzuck: Dieses Konzept steht jetzt schon zum zweiten Mal im | |
Koalitionsvertrag. Es geht dabei darum, die reibungslose Mobilität auch von | |
Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten – dass Mobilitätsketten über | |
verschiedene Verkehrsformen hinweg entstehen können, mit Unterstützungs- | |
und Kommunikationsdienstleistungen. Wahrscheinlich muss man gar nicht so | |
viele neue Angebote schaffen, sondern punktuell den Service und die | |
Kommunikation verbessern oder eine Verbindung zwischen Angebot A und | |
Angebot B schaffen. Es geht darum, sich noch einmal durch die | |
Schwarmintelligenz der Betroffenen und ihre Interessenvertretungen zu | |
versichern, wo die wichtigen Handlungsfelder sind. Dann gilt es, Maßnahmen | |
zu priorisieren und das beginnend mit dem Haushalt 2024/2025 einzupreisen. | |
Thomas Seerig: Ich verbinde damit natürlich die Hoffnung, dass die Thematik | |
künftig noch besser in den Köpfen der Umsetzenden verankert ist. Ich habe | |
gerade erst wieder das Gegenteil erlebt: Die AG Menschen mit Behinderungen | |
der Verkehrsverwaltung teilte mit, für die Dauer der Special Olympics plane | |
man, Bus- und Tramlinien für Menschen mit kognitiver Einschränkung leichter | |
identifizierbar zu machen. „Für die Dauer der Spiele.“ Das kann doch nicht | |
wahr sein! | |
2 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
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