# taz.de -- Schwarz-Grün in NRW: „Kein großer Wurf“ | |
> Die Grünen wollen auch in NRW in Verhandlungen mit der CDU einsteigen. | |
> Die Zustimmung eines kleinen Parteitags gilt als Formalie. | |
Bild: Grüne und CDU wollen in Nordrhein-Westfalen eine Koalition bilden | |
BOCHUM taz | In Nordrhein-Westfalen nehmen die Grünen Kurs auf eine | |
Regierung mit der CDU. [1][Wie schon zuvor ihre KollegInnen in | |
Schleswig-Holstein] empfehlen die NRW-Landeschefs von CDU und Grünen, | |
Hendrik Wüst und Mona Neubaur, den Spitzengremien ihrer Parteien die | |
Aufnahme formeller Koalitionsverhandlungen. Das teilten beide am späten | |
Freitagabend nach fünftägigen Sondierungsgesprächen in nahezu | |
gleichlautenden Mitteilungen aus Düsseldorf mit – die Mail der Grünen wurde | |
um 23:05, die der CDU um 23:07 Uhr verschickt. | |
Nach „guten und intensiven Gesprächen“ gebe es eine „belastbare Grundlag… | |
für ein Bündnis mit der CDU, erklärte Neubaur. Der bisher mit Unterstützung | |
der FDP amtierende Ministerpräsident Wüst dankte „den Grünen für | |
konstruktive, ernsthafte und den Herausforderungen angemessene Beratungen“. | |
Als Ergebnis präsentierten die Landesparteivorsitzenden [2][ein 12-seitiges | |
Sondierungspapier], das sich bereits wie ein kleiner Koalitionsvertrag | |
liest. Die „Gleichzeitigkeit von Krisen“ wie der Ukrainekrieg, die | |
Corona-Pandemie und die „Klima- oder Artenkrise“ erfordere „neue | |
Bündnisse“, heißt es darin im ersten Satz. | |
Stilistisch ist dem Papier, das verspricht, „Nordrhein-Westfalen zur ersten | |
klimaneutralen Industrieregion Europas“ machen zu wollen, die Handschrift | |
des Teams um [3][die oft wolkig formulierende Neubaur] deutlich anzumerken. | |
Inhaltlich aber stand die CDU auf der Bremse – im Vergleich zu ihren | |
Wahlversprechen müssen die Grünen viele Abstriche machen. | |
Zwar verkünden die Autori:nnen des Sondierungspapiers, in der | |
Energiepolitik „sämtliche für Photovoltaik geeignete Flächen“ nutzen zu | |
wollen. Von der im Wahlkampf geforderten „Solarpflicht“ ist dagegen nicht | |
mehr die Rede. Auch der Ausbau der Windkraft dürfte gebremst vorangehen: In | |
den kommenden 5 Jahren sollen „mindestens 1.000 neue Windkraftanlagen | |
entstehen“ – aktuell stehen in NRW aber bereits 3.500 Windräder. Fallen | |
soll aber die massiv kritisierte 1.000-Meter-Abstandsregelung zu | |
Wohnbebauung. | |
## Mehrere Dörfer wohl vor Braunkohlebagger gerettet | |
Hier haben sich die Grünen ebenso durchgesetzt wie [4][beim Abbau des | |
Klimakillers Braunkohle]: Wie auch die SPD bekennt sich die CDU zum | |
Kohleausstieg 2030. Angekündigt wird eine „zeitnahe neue Leitentscheidung“ | |
zum Braunkohleabbau im Rheinischen Revier. Verlangsamt werden könnte so | |
auch die Heimatzerstörung durch den Tagebau Garzweiler. „Alle Dörfer des | |
dritten Umsiedlungsabschnitts sollen bleiben“, heißt es in dem | |
Sondierungspapier. Für die Orte Keyenberg, Kuckum, Unter- und Ober-Westrich | |
sowie Berverath könnte das die Rettung bedeuten. | |
Im Bereich Mobilität ist dagegen deutlich spürbar, dass der grüne | |
Verkehrsexperte Arndt Klocke nicht Teil des Sondierungsteams war. Zwar | |
sollen in den kommenden fünf Jahren 1.000 Kilometer neue Radwege entstehen. | |
Vom im Wahlkampf geforderten massiven Kurswechsel weg vom Kraftfahrzeug ist | |
dagegen nur noch indirekt Rede: Der Bau immer neuer Landesstraßen soll | |
weiter möglich sein – versprochen wird immerhin, mindestens so viel Geld in | |
Radwege zu stecken wie in den Autoverkehr. Zur Umsetzung einer | |
„Mobilitätsgarantie“ wird außerdem ein landesweites Schnellbusnetz | |
angekündigt. Vom verbindlichen 1-Stunden-Takt, den die grüne Parteichefin | |
Neubaur immer wieder ins Spiel gebracht hat, fehlt dagegen jedes Wort. | |
## 15.000 neue Polizisten | |
In der Bildungspolitik kündigen beide Parteien die Einstellung von 10.000 | |
zusätzlichen Lehrer:innen an. An den Grundschulen sollen Lehrkräfte | |
endlich ebenso viel Geld erhalten wie ihre Kolleg:innen an den | |
weiterführenden Schulen – das hatten beide Parteien gefordert. Endgültig | |
vom Tisch ist dagegen die vollständige Inklusion von Schüler:innen mit | |
Handicap in Regelschulen. Auch in der Innenpolitik hat sich die CDU mit | |
ihrer Forderung nach 15.000 neuen Polizist:innen durchgesetzt. Das | |
restriktive, die Demonstrationsfreiheit einschränkende Versammlungsgesetz | |
des bisherigen CDU-Innenministers Herbert Reul bleibt ebenfalls in Kraft, | |
soll aber bis Ende 2023 „unabhängig und wissenschaftlich“ evaluiert werden. | |
Im Gesundheitsbereich will Schwarz-Grün weiter auf eine „Spezialisierung | |
der Krankenhäuser“ setzen – die Klinikschließungen dürften also | |
weitergehen. Kommen soll dagegen die von der CDU schon vor der Landtagswahl | |
am 15. Mai angekündigte Änderung des Hochschulgesetzes, mit der ein | |
„Tarifvertrag Entlastung“ für die sechs NRW-Unikliniken, [5][deren | |
Beschäftigte seit vier Wochen für mehr Personal streiken], möglich werden | |
soll. | |
Überhaupt scheint der gesamte Bereich „Arbeit und Soziales“, der in dem | |
Sondierungspapier nicht einmal eine halbe Seite einnimmt, unterbelichtet. | |
Angekündigt wird hier vor allem eine Stärkung der Ausbildungsberufe, die | |
von CDU-Arbeits-und Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann seit langen | |
gefordert wird. | |
Beim Thema Migration ist dagegen die Handschrift der | |
integrationspolitischen Sprecherin der grünen Landtagsfraktion, Berivan | |
Aymaz, zu erkennen. Einbürgerungsverfahren sollen beschleunigt, | |
„ausländische Fachkräfte“ gewonnen werden. Für „gut integrierte | |
Geflüchtete“ sollen „alle humanitären und aufenthaltssichernden | |
Bleiberechtsregelungen ausgeschöpft“ werden. Allerdings: Für diejenigen, | |
auf die diese wolkige Formulierung nicht zutrifft, bleibt weiter nur die | |
„freiwillige Rückkehr oder eine Rückführung“ – also die Abschiebung. | |
## Kritik vom BUND | |
An der Parteibasis, in der Unterstützer:innen-Szene dürften die Kröten, die | |
die Grünen schlucken müssen, nicht unbemerkt bleiben. „Kein großer Wurf“ | |
sei das „ausbaufähige“ Sondierungspapier, sagte etwa der Sprecher des | |
Umweltverbands BUND in Nordrhein-Westfalen, Dirk Jansen, der taz. | |
Von ihrer verbindlichen Forderung, das bevölkerungsreichste Bundesland bis | |
2040 klimaneutral zu machen, habe sich die Partei offenbar verabschiedet. | |
Im rheinischen Revier solle das Dorf Lützerath offenbar geopfert werden, | |
und zum „Schwarzbau“ des letzten deutschen Steinkohlekraftwerks Datteln IV | |
fehle jedes Wort. „Das Papier ist eine unterambitionierte Grundlage“, so | |
Jansen in einer ersten Reaktion, „die im Rahmen von Koalitionsverhandlungen | |
deutlich verbessert werden muss.“ | |
Dass die auf jeden Fall aufgenommen werden, scheint beschlossene Sache. Der | |
grüne Landesvorstand hat Bündnis-Verhandlungen mit der CDU des Wahlsiegers | |
Hendrik Wüst, der bei der Landtagswahl am 15. Mai 35,7 Prozent einfahren | |
konnte, bereits zugestimmt. Auch die Unterstützung des CDU-Landesvorstands | |
gilt als sicher. Bei den Grünen endgültig entscheiden soll am | |
Sonntagnachmittag ein in Essen tagender kleiner Parteitag, zu dem etwa 100 | |
Delegierte erwartet werden. | |
Deren Zustimmung gilt aber offenbar als reine Formalie – von der einstigen | |
Basisdemokratie ist nicht mehr viel zu spüren. Zu den „gemeinsamen | |
Antworten“ für die „Zukunft Nordrhein-Westfalens“ heißt es im | |
Sondierungspapier schon jetzt diskussionslos: „Im Rahmen von vertieften | |
Koalitionsgesprächen werden diese ergänzt.“ | |
28 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Regierungsbildung-in-Schleswig-Holstein/!5857169 | |
[2] https://gruene-nrw.de/dateien/CDU_GRUNE_Fur-die-Zukunft-von-Nordrhein-Westf… | |
[3] /Gruene-Spitzenkandidatin-in-NRW/!5818960 | |
[4] /Businessplaene-nach-dem-Tagebau/!5850327 | |
[5] /Streiks-an-Uni-Kliniken-in-NRW/!5857236 | |
## AUTOREN | |
Andreas Wyputta | |
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