# taz.de -- Parteien nach Wahl in NRW: Ab in die Mitte | |
> Nach der NRW-Wahl scheint die Zersplitterung des Parteiensystems | |
> gestoppt. AfD, FDP und Linkspartei haben ihre strategische Bedeutung | |
> verloren. | |
Bild: Hendrik Wüst (CDU) und Mona Neubaur (Grüne) sondieren | |
Das Wahlergebnis in Nordrhein-Westfalen ist Ausdruck eines strukturell | |
veränderten Parteiensystems. Dabei sticht neben der Personalisierung der | |
Landtagswahlen die neue Konzentration auf die Mitte ebenso heraus wie die | |
damit einhergehende Existenzgefährdung der kleineren Parteien. Im Folgenden | |
werden sechs Entwicklungen identifiziert, die den neuen | |
sicherheitspolitischen Zyklus in Deutschland prägen könnten: | |
Erstens ist auffällig, dass der Prozess der Zersplitterung des | |
Parteiensystems gestoppt wurde oder zumindest in eine Ruhepause eintritt. | |
Bis vor kurzem dominierte der Eindruck, dass der Parteienwettbewerb von den | |
Rändern her geprägt wird. Doch nun sind wir zum dritten Mal hintereinander | |
mit einer starken Stimmenkonzentration konfrontiert. [1][Im Saarland sind | |
überhaupt nur noch drei Parteien im Parlament] vertreten. In | |
Schleswig-Holstein fielen 77 Prozent der Zweitstimmen auf die drei | |
Mitte-Parteien CDU, SPD und Grüne, und in NRW haben sie knapp 80 Prozent | |
der Stimmen auf sich vereint. | |
Zugleich mussten die kleineren Parteien (FDP, AfD, Linke) entweder um den | |
Einzug ins Parlament zittern oder sind erst gar nicht hineingekommen. Der | |
Trend weist auf die Rückkehr vom aktuellen Sechs- zu einem neuen | |
Dreieinhalbparteiensystem hin. | |
Zweitens: Die CDU hat ihre dramatische Krise aus dem vergangenen Jahr gut | |
überstanden. Dies gilt auch im Hinblick auf ihre Führungskonstitution: Wer | |
hätte gedacht, dass nach drei Anläufen nun jener Mann an der Spitze steht, | |
der wie kein Zweiter das Gegenprogramm zum Merkel-Kurs verkörpert? Zudem | |
hat er durch seine lautstarke Oppositionsarbeit im Bundestag nicht nur | |
einen wichtigen Beitrag zur Konsolidierung der Bundespartei geleistet, | |
sondern auch einen Flankenschutz für die Wahlkämpfe in den Ländern gegeben. | |
Allerdings hat die CDU ihre Machtchancen über den Bundesrat verschlechtert. | |
Es scheint so, als gebe es nunmehr eine neue Arbeitsteilung: Liberaler | |
Mitte-Kurs für die Wahlen und wahrnehmbarer, wenngleich bisweilen bizarr | |
populistischer Oppositionskurs unter Friedrich März im Bundestag als neues | |
Konsolidierungskonzept. | |
Drittens: Die SPD hat ihre Talsohle in Nordrhein-Westfalen (vor einiger | |
Zeit noch mit Umfragetiefstwerten von 17 Prozent) verlassen, ohne wirklich | |
[2][zur grundlegenden Alternative zur Union] aufgestiegen zu sein. Sie | |
profitiert weder von ihrer führenden Rolle im Bund, noch gehen von der | |
NRW-SPD positive Impulse für die Reformarbeit der SPD im Bund aus. | |
Ein weiterer gewichtiger Faktor für das SPD-Ergebnis dürfte auch auf die | |
unzureichende Adressierung der schwächeren Teile der Gesellschaft durch | |
soziale und materielle Themenangebote zurückzuführen sein. In diesem Sinne | |
hat die SPD selbst einen Anteil an der schwachen Wahlbeteiligung, der ihr | |
selbst am meisten geschadet hat. Zudem war die Unterstützung durch die | |
Bundes-SPD kein wirklich mobilisierender Faktor. | |
Viertens: Die Grünen profitieren von der Beteiligung in der Ampelregierung | |
und den dringlicher werdenden Impulsen zur Umsetzung der Verkehrs- und | |
Klimawende. Die Energie- und Klimapolitik wurde besonders von jungen | |
Menschen unter 30 als unzureichend verurteilt. Mit 25 Prozent wären die | |
Grünen bei den unter 30-Jährigen Wahlsieger. | |
Im insgesamt starken Votum für die Partei von rund 18 Prozent spiegelt sich | |
also auch die immer stärkere Manifestierung des klimaschützenden | |
Zeitgeistes der jüngeren und kommenden Generationen wider. Mit der | |
zusätzlich erfolgreichen Profilierung im Bundesministerium für Wirtschaft | |
und Klimaschutz sowie dem Außenministerium konnten sie die Themenkonjunktur | |
nutzen. | |
Fünftens: AfD, FDP und [3][Linkspartei scheinen zu Überflüssigen] zu | |
werden. Jedenfalls sind nicht nur ihre Wahlergebnisse dramatisch | |
eingebrochen, sondern auch ihre strategischen Rollen für die | |
Weiterentwicklung des Parteienwettbewerbs. Es scheint so zu sein, dass man | |
sie – so der Befund der letzten drei Landtagswahlen – nicht mehr braucht, | |
um Regierungen zu bilden. Dafür sind zum Teil innerparteiliche Verwerfungen | |
(AfD, Linke) verantwortlich. | |
Es fehlt aber offenbar auch an ernsthafte Antworten auf die großen Fragen | |
der Zukunft. Dies schwächt die Attraktivität und Integrationskraft | |
ungemein. So sind von der FDP die meisten Stimmen an die Union, die Grünen | |
und die Nichtwähler abgewandert. Linke und AfD verlieren ihre Anteile | |
insbesondere an Letztere, was auch mit der kritischen Russlandpolitik | |
beider Parteien zusammenhängen könnte. | |
Sechstens: [4][Die geringste Wahlbeteiligung bei einer NRW-Wahl] seit 1947 | |
macht auf eine soziale Schieflage in der Gesellschaft aufmerksam, auf die | |
die Parteien keine Antworten haben. Bezeichnend für dieses Problem sind | |
Wahlbeteiligungen von gerade mal 38 Prozent in einkommensschwachen | |
Wahlkreisen wie Duisburg III. Demgegenüber stehen hohe Wahlbeteiligungen | |
von über 68 Prozent in sozial besser gestellten Kreisen wie Münster und | |
Coesfeld. Die Wahlen tendieren also immer mehr zu einer Wahl der | |
privilegierten Gesellschaft, was ein demokratisches Defizit abbildet. | |
## Sicherer Hafen Volksparteien | |
Fazit: Der Wahlausgang deutet darauf hin, dass wir auf einen neuen Zyklus | |
im Parteienwettbewerb zusteuern, der weniger von den Rändern getragen, | |
sondern in der Mitte entschieden wird. Es scheint eine Rückbesinnung auf | |
den sicheren Hafen der alten und neuen Volksparteien stattzufinden, während | |
sich die Bedeutung des Umweltthemas verfestigt. Man könnte vermuten, dass | |
den kleinen Parteien nur Spartenkompetenzen zugeordnet werden, die aber | |
nicht fähig sind, die großen Gesellschaftsprobleme zu lösen. | |
Der Klimawandel indes ist die größte Gesellschaftsfrage, die aber nur | |
gelöst werden kann, wenn sie zugleich als soziale Frage verstanden wird, | |
womit in Zukunft ein parteipolitischer Dreierwettbewerb durch ein neu | |
konstituiertes Feld sozialer Bewegungen ergänzt werden könnte. | |
20 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Wolfgang Schröder | |
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