# taz.de -- Steigende Lebenshaltungskosten: Wider die Verzichtslogik | |
> Abstriche müssen nur die machen, die sich keinen Urlaub mehr leisten | |
> können. Wer Solidarität will, muss den Kampf für höhere Löhne | |
> vorantreiben. | |
Bild: Die Erhöhung der Preise könnte die Gesellschaft noch stärker spalten | |
Ob Sie es wussten oder nicht. Sie haben im vergangenen Jahr etwa einen | |
Monat umsonst gearbeitet. Tag für Tag ohne Bezahlung. Das jedenfalls | |
bedeutet die [1][Inflationsrate von 7,3] Prozent ganz real – ohne | |
Lohnerhöhung und nach offizieller Statistik, die mit Vorsicht zu genießen | |
ist. Sicher, wer ausreichend Immobilien, Aktien oder Kryptowährung besitzt, | |
zuckt jetzt womöglich mit den Schultern, denn diesen Vermögenswerten macht | |
die Inflation meist wenig aus. | |
Preise von [2][Immobilien] etwa steigen in der Regel mit dem allgemeinen | |
Preisanstieg in der Gesellschaft, und Kapital lässt sich in lukrativere | |
Anlageoptionen verschieben, Aktien von Rheinmetall zurzeit beispielsweise. | |
Wenn Sie zu den glücklichen Besitzenden gehören, sind Sie im Gegensatz zum | |
Rest der Bevölkerung unter Umständen um einige zusätzliche Monatsgehälter | |
reicher geworden, ohne dafür mehr zu arbeiten. | |
Im Kapitalismus gibt es kein „Wir“ – weder beim Thema Inflation noch beim | |
Umgang mit ihr. Bei [3][höheren Gas-, Öl und Flugpreisen] verzichten nicht | |
alle, sondern nur jene, die sich dann kein Auto, keinen Urlaub und keine | |
Flüge mehr leisten können. Wer etwa Preissteigerung als Mittel im Kampf | |
gegen den Klimawandel anpreist, sollte sich nicht wundern, wenn jener | |
Bevölkerungsteil, der davon wirklich betroffen ist, demnächst rechts wählt. | |
Für Reiche ist jede Krise eine lukrative Investmentmöglichkeit, für den | |
Rest ohne Kapital eine Gelegenheit sich nolens volens zu überlegen, wo man | |
Abstriche macht. Die Erhöhung des Leitzinses bei der US-Notenbank Fed und | |
die Vorbereitung der EZB auf einen ähnlichen Schritt bedeuten, dass man | |
sich auf eine längerfristige Inflation einstellt und womöglich – ähnlich | |
wie bei der Stagflation in den 1970er Jahren – einen sinkenden | |
Lebensstandard weiter Teile der Bevölkerung in Kauf nimmt. | |
Angesichts der [4][100 Milliarden], die mal eben für die Aufrüstung | |
lockergemacht werden, ist das Entlastungspaket der Bundesregierung | |
bestenfalls Aktionismus. Schlimmstenfalls aber gibt sie damit zu verstehen, | |
nichts wirklich gegen Inflation und ihre andauernden Auswirkungen tun zu | |
wollen. Nach dem Krieg wird die Inflation allerdings das bestimmende Thema | |
bleiben. Für die Mittel- und Unterschicht schürt sie schon jetzt | |
Unsicherheit und Zukunftsängste. | |
## Die Inflation kam vor dem Krieg | |
Die Inflation ist dem Krieg vorangegangen und wird auch nicht so schnell | |
wieder verschwinden. Bereits Mitte letzten Jahres war weltweit ein | |
merklicher Preisanstieg zu spüren, befeuert durch die Lockdown-Politik | |
vieler Staaten während der Pandemie, die Produktivitätsrückgänge und | |
Probleme bei den weltweiten Lieferketten verursacht hat. Jetzt scheinbar | |
tugendhaft Verzicht zu predigen, ist zynisch. [5][Verzichten] muss die | |
Mehrheit der Bevölkerung sowieso – kurzfristige Entlastungen hin oder her. | |
Dass „gemeinsamer“ Verzicht solidarisch mache, könnte weltfremder nicht | |
sein. Spätestens die letzten beiden Jahre sollten vom Gegenteil überzeugt | |
haben. Der französische Soziologe Émile Durkheim hätte sich während der | |
Coronapandemie, in der schon ausreichend „solidarischer“ Verzicht verordnet | |
wurde, auf traurige Weise in seiner Annahme zunehmender gesellschaftlicher | |
Anomie oder, um es salopp auszudrücken, Asozialität in der Moderne | |
bestätigt gesehen: | |
Die weltweit angestiegene Selbstmordrate, die psychischen Krankheiten und | |
der Alkohol- und Drogenmissbrauch wären ihm Indikatoren gesellschaftlicher | |
Desintegration gewesen, vom gegenseitigen Hass, den Befürworter wie Gegner | |
der Impfkampagne aufeinander gerichtet haben, ganz zu schweigen. | |
Solidarität wäre nur im gemeinsamen Eintreten für bessere Lebensbedingungen | |
für alle zu haben, angefangen durch zivilgesellschaftliche Organisierung im | |
Kampf um höhere Löhne und niedrigere Mieten. | |
Das aber ist nur möglich wider jede Verzichtslogik. Verzicht oder gar ein | |
„Ende des endlosen Wachstums“ wie [6][Greta Thunberg] auf Grundlage des | |
Kapitalismus zu fordern, bedeutet für Verelendung einzutreten und | |
buchstäblich auf die Freiheit zu verzichten, Gesellschaft über ihren | |
mangelhaften Istzustand hinauszutreiben. Kapitalismus ist eine Tretmühle, | |
in der es ohne Wachstum nicht gleich bleibt, sondern rückwärts geht. | |
1 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Jan Schroeder | |
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