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# taz.de -- Entlastungspläne der Bundesregierung: Vielleicht mal verzichten
> Viele Menschen werden sich einschränken müssen, dank Inflation,
> Energiekrise, Kriegsfolgen, Alterung. Das sollte die Ampelregierung
> ehrlich sagen.
Bild: Was hat Gemüse mit Gerechtigkeit zu tun?
Nehmen wir die Avocado. Das begehrte Gemüse ist durch den hohen
Wasserverbrauch beim Anbau unökologisch, teuer und steht vor allem bei
Besserverdiener:innen auf dem Speiseplan. Würde man die
Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse abschaffen, würden auch Avocados
billiger. Muss das sein? Die Frage klingt nebensächlich. Ist sie aber
nicht.
Eine mögliche Mehrwertsteuersenkung für Obst und Gemüse ist einer der
Vorschläge in der Debatte, wer eigentlich wie entlastet werden soll oder
nicht, [1][wo doch alle unter der Inflation leiden]. An dem Vorschlag sieht
man, wie schwer es ist, zielgenaue Maßnahmen zu konzipieren, die einem
allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden entsprechen, obwohl sie Löcher in die
Haushaltskassen reißen und Mitnahmeeffekte produzieren. Das betrifft auch
die bereits angekündigten oder beschlossenen Entlastungspakete der
Ampelregierung.
Beschlossen sind Zuschüsse für Hartz-IV-Empfänger:innen und Familien,
Energiepauschalen für Erwerbstätige, ein befristetes Billigticket für den
öffentlichen Nahverkehr, ein befristeter Tankrabatt, Heizkostenhilfen für
Wohngeldbezieher:innen und steuerliche Erleichterungen. Dabei gibt es jede
Menge Mitnahmeffekte, von denen Besserverdienende profitieren. Braucht
wirklich jeder ein Nahverkehrsticket für monatlich neun Euro? Müssen
SUV-Fahrer:innen unbedingt billiger tanken können, wenn sie mit ihrem
Wagen durch die Innenstädte cruisen? Und warum kriegen Rentner:innen
keine Energiepauschale?
Die Maßnahmen sind nicht zielgenau und können es auch nicht sein. Denn in
Deutschland überlagern sich derzeit die Krisen durch Pandemie, Krieg, Klima
und Alterung und schaffen alte und neue Gruppen, die staatliche Hilfen
einfordern. Dazu gehören Hartz-IV-Empfänger:innen, Niedrigverdienende,
[2][Rentner:innen], Pflegebedürftige, Flüchtlinge, [3][Familien,]
Wohnungssuchende, Soloselbstständige, Autopendler:innen – die Liste
wächst beständig an. Leider genügt es nicht, vonseiten der Ampelregierung
einfach nur neue, möglichst flächendeckende Hilfen zu versprechen.
Staatliche finanzielle Kompensationen auch für die Mittelschicht werden
immer auch von derselben finanziert. Es stellt sich ein unbestimmtes
Unbehagen ein, wenn man von immer neuen milliardenschweren staatlichen
Hilfspaketen hört, und dann kommen noch die Aufrüstungspläne der Bundeswehr
dazu. Wer bezahlt das am Ende?
Dass es immer mehr Betroffene gibt, die inflationsbedingt unter Einbußen
leiden, hat aber einen Vorteil: Wenn viele Menschen gleichzeitig
Preissteigerungen und Einschränkungen erleben, ist klar, dass es nicht um
persönlichen sozialen Abstieg geht, denn schließlich sind ja fast alle
betroffen. Es könnte sogar ein solidarisches Gefühl wachsen, im Sinne von:
Wir stehen die Krisen gemeinsam durch. In der Pandemie hat sich eine
erstaunliche Anpassungsfähigkeit an Konsumverzicht gezeigt. [4][Wobei die
Grundbedürfnisse aber natürlich erfüllt sein müssen.]
Die rot-grün-gelbe Koalition sollte daher vermitteln, dass auch Verzicht
mal drin sein muss, wenn die Preise steigen, und dass Abgabenbereitschaft
im Sozialstaat eine gute Sache ist. Das Versprechen von allgemeinen
„Entlastungen“ und flächendeckende staatliche Subventionen für alle sind
hingegen keine gute Idee. Solche staatlichen Kompensationen produzieren
Mitnahmeeffekte bei Leuten, die eigentlich keine Subvention nötig haben.
Das betrifft eine Abschaffung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel
oder auch das billige subventionierte Nahverkehrsticket für alle und erst
recht den geplanten Tankrabatt. Es ist moralisch auch ein bisschen heikel,
durch staatliche Hilfen etwa für den Obst- und Gemüsekonsum ein bestimmtes
erwünschtes Ernährungsverhalten zu privilegieren. Statt allgemein
Entlastungen zu versprechen, sollte die Koalition vielmehr Prioritäten
benennen, welche Errungenschaften man im Sozialstaat unbedingt bewahren
muss. Denn darum wird man vielleicht kämpfen müssen.
Das Ausland beneidet uns um die freien Zugänge zu Bildung und
Gesundheitsversorgung. Für die einkommensunabhängige Gesundheitsversorgung
werden demnächst wohl höhere gesetzliche Kranken- und vielleicht auch
höhere Pflegekassenbeiträge fällig werden müssen. Das ist völlig o. k.
Unentgeltliche Bildung ist genauso wichtig. Wenn Steuergelder für die
Bildung junger Geflüchteter ausgegeben werden, ist das nur vernünftig. Die
jungen Leute werden womöglich später die Arbeitskräftelücke füllen, die
durch die Demografie in Deutschland wächst. Das Gerechtigkeitsempfinden
politisch zu managen heißt aber auch, vor extremen Notlagen zu schützen,
also da staatlich einzugreifen, wo es nicht um Konsumverzicht geht, sondern
darum, Grundbedürfnisse nicht mehr erfüllen zu können. Zuschüsse für
Grundsicherungsempfänger:innen, wie sie das Entlastungspaket vorsieht, sind
daher angebracht.
Es ist auch richtig, dass die Ampelregierung daran arbeitet, dass
betroffene Empfänger:innen von Grundsicherung nicht mehr dauerhaft
einen Teil ihres Hartz-IV-Regelsatzes für die Miete abknapsen müssen, wenn
die Wohnung über irgendwelchen Angemessenheitsgrenzen liegt und keine
Möglichkeit eines Umzuges besteht.
Zum Gerechtigkeitsempfinden gehört auch, in Zeiten des Verzichts Vermögende
stärker zu belasten. Laut [5][DIW-Rechnung] könnten eine Reform der
Erbschaftsteuer und die Wiedereinführung einer Vermögensteuer rund 22
Milliarden Euro mehr im Jahr erbringen. Die Mitbeteiligung der Reichen
einzufordern hätte positive Auswirkungen auch auf die Abgabenbereitschaft
der Mittelschichtmilieus. Die Menschen sind bereit zu teilen, aber nur,
wenn alle mitmachen. Verteilungspolitik ist komplexer geworden. Man muss
über Prioritäten reden dürfen und über Zumutungen auch.
28 Apr 2022
## LINKS
[1] /Hoehere-Preise-und-Hartz-IV/!5807459
[2] /Mitbestimmung-in-der-Pflege/!5842447
[3] https://www.imk-boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-008303
[4] /Rekord-bei-Geldentwertung-in-Eurozone/!5846638
[5] https://www.diw.de/de/diw_01.c.831678.de/publikationen/wochenberichte/2021_…
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
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