# taz.de -- Nach illegalen Pushbacks: Alaa Hamoudi verklagt Frontex | |
> Der aus Syrien geflohene Alaa Hamoudi verklagt die Grenzschutzagentur | |
> beim Europäischen Gerichtshof auf eine halbe Million Euro Schadensersatz. | |
Bild: Frontex soll Personen auf unmenschliche Weise in die Türkei abgeschoben … | |
BERLIN taz | Es war der 28. April als Alaa Hamoudi, ein 22 Jahre alter | |
Syrer, an der Küste der griechischen Insel Samos ankam. Mit ihm im | |
Schlauchboot saßen 20 weitere Geflüchtete, auf dem Weg aus der Türkei in | |
die EU. Einheimische entdeckten die Gruppe, Hamoudi und die anderen | |
Flüchtenden baten sie, die Polizei zu rufen. Sie wollten in Griechenland | |
Asyl beantragen. | |
Doch das ließ die Polizei nicht zu. Sie brachten die Angekommenen mit | |
Gewalt zurück in die Türkei. Am Donnerstag verklagte Hamoudi deshalb die | |
[1][EU-Grenzschutzagentur Frontex] beim Europäischen Gerichtshof. Er | |
fordert eine halbe Million Euro Schadensersatz, weil Frontex an der | |
illegalen Rückschiebung der Gruppe in der Türkei maßgeblich beteiligt | |
gewesen sei, so die Klage. Es ist das erste Verfahren dieser Art. | |
„Sie haben uns auf ein Boot verfrachtet, als ob wir ein Verbrechen begangen | |
hätten“, sagt Hamoudi laut einer Mitteilung der Gruppe Front-Lex, die die | |
Klage organisiert. Bei Front-Lex handelt es sich um eine Stiftung mit Sitz | |
in Amsterdam, die sich auf strategische Prozessführung gegen Frontex | |
spezialisiert hat und bereits drei Verfahren gegen die Agentur führt. | |
Finanziert wird sie unter anderem vom deutschen Stiftungsfonds zivile | |
Seenotrettung und der Open Society Foundation. | |
Statt sie zur Asylantragstellung in eine Aufnahmeeinrichtung zu bringen, | |
setzten Uniformierte die Gruppe um Hamoudi in ein Boot – ohne | |
Schwimmwesten, Wasser, Lebensmittel, Navigations- oder | |
Kommunikationsmittel, wie Front-Lex schreibt. 17 Stunden trieb die Gruppe | |
im Wasser, während ein griechisches Schiff das Schlauchboot immer wieder in | |
türkisches Hoheitsgebiet zurückgedrängt habe. In dieser Zeit überwachte ein | |
Frontex-Flugzeug die Situation aus der Luft und überflog das Boot | |
mindestens zweimal. Schließlich wurde die Gruppe von der türkischen | |
Küstenwache aufgegriffen und festgenommen. Hamoudi lebt bis heute in der | |
Türkei und fürchtet eine mögliche Abschiebung nach Syrien. | |
## 43.000 solcher illegalen Pushbacks in der Ägäis in zwei Jahren | |
Den Vorfall hatten die NGO Bellingcat, das Medienprojekt Lighthouse | |
Reporters und der Spiegel minutiös rekonstruiert. Sie wiesen nach, dass | |
zwei Schiffe der griechischen Küstenwache und ein Frontex-Flugzeug an der | |
Aktion beteiligt waren und die von den Flüchtenden um Hamoudi erhobenen | |
Vorwürfe plausibel sind. | |
Front-Lex glaubt, dass der Fall exemplarisch für eine enorme Zahl | |
[2][solcher Pushbacks] steht. Sie verweist darauf, dass nach Angaben des | |
griechischen Ministers für Schifffahrt und Inselpolitik, Ioannis | |
Plakiotakis, die griechische Küstenwache 2021 rund 29.000 Flüchtlinge und | |
Migrant:innen in der Ägäis aufgegriffen habe. In jenem Jahr wurden | |
jedoch nur 3.900 Ankünfte an Land registriert. 2020 hatte die Diskrepanz | |
zwischen Aufgegriffenen und an Land Registrierten rund 18.000 betragen. Es | |
sei also von einer Größenordnung von etwa 43.000 solcher illegalen | |
Pushbacks in der Ägäis in zwei Jahren auszugehen, sagt Front-Lex Sprecherin | |
Josephine Valeske der taz. | |
Frontex war seit März 2020 über die Operation „Rapid Border Intervention | |
Aegean“ in der Ägäis aktiv. Die Mission war eine Reaktion auf Drohungen des | |
türkischen Präsidenten Erdogan, der im Februar 2020 den EU-Türkei-Deal | |
vorübergehend aufgekündigt und die Grenzkontrollen Richtung Griechenland | |
unterbrochen hatte. | |
Die EU habe seither Einreisen über die Ägäis nach Griechenland um jeden | |
Preis verhindern wollen, so Front-Lex. „Ohne Frontex wäre die griechische | |
Küstenwache aber gar nicht in der Lage gewesen, das durchzuführen. Frontex | |
ist die koordinierende Kraft hinter der Küstenwache“, sagt Valeske. | |
„Frontex muss sich gemäß den eigenen Richtlinien zurückziehen, wenn sie | |
Kenntnis von Menschenrechtsverletzungen durch nationale Grenzschützer | |
haben.“ Das sei nicht geschehen. Deshalb sei die ganze Frontex-Operation in | |
der Ägäis unrechtmäßig, so Valeske. „Wenn diese Klage erfolgreich ist, da… | |
ist das ein juristischer Präzedenzfall und öffnete den Weg für Tausende | |
Push-Back Betroffene, um kompensiert zu werden.“ | |
18 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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