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# taz.de -- Prozess gegen Seenotretter auf Sizilien: Solidarität wird kriminal…
> Angeklagt sind 21 Personen wegen angeblicher Schlepperei. Es ist das
> bisher größte Verfahren, auch Ex-Innenminister Matteo Salvini ist
> mitverwickelt.
Bild: Aus der Seenot gerettete Menschen im September 2016 an Bord der Iuventa
Warum der erste Prozesstermin an einem Samstag stattfindet, weiß Gott
allein. Eile, das steht fest, kann nicht der Grund gewesen sein, warum die
Richter im sizilianischen Trapani den Beginn des Vorverfahrens [1][gegen 21
Seenotretter:innen] ausgerechnet am kommenden Wochenende anberaumt
haben. Die Ermittlungen in dem Fall reichen bis ins Jahr 2016 zurück, und
auch bis zu einem Urteil kann es noch Jahre dauern.
Es geht um die Rettung von 404 Migrant:innen im zentralen Mittelmeer,
zwischen Libyen, Italien und Malta, in den Jahren 2016 und 2017. Den
Angeklagten drohen bis zu 20 Jahre Haft, dazu bis zu 15.000 Euro Geldbuße
pro nach Italien gebrachter Person. Es ist der bisher größte Prozess dieser
Art vor einem europäischen Gericht. Beschuldigt sind insgesamt 21
Seenotretter:innen, der jüngste 36, der älteste 66 Jahre alt. 12
stammen aus Italien, 4 aus Deutschland, 2 aus Belgien, je eine:r aus
Großbritannien, Spanien und Frankreich. Auf der Anklageliste der
Staatsanwältinnen Brunella Sardoni und Giulia Mucaria stehen zudem die NGOs
Ärzte ohne Grenzen und Save the Children sowie das Charterunternehmen Vroon
Offshore Services.
An den nun vor Gericht verhandelten Einsätzen waren die Schiffe „Iuventa“
der deutschen NGO Jugend Rettet, „Vos Hestia“ von Save the Children und
„Vos Prudence“ von Ärzte ohne Grenzen beteiligt. Die Beschuldigten waren
auf diesen Schiffen als Crewmitglieder im Einsatz. Die Staatsanwaltschaft
wirft ihnen vor, „in krimineller Absicht […] Ausländer zum Zweck der
illegalen Einreise transportiert zu haben“. Dass sie Schiffbrüchige nach
Italien brachten, wird ihnen als Schlepperei ausgelegt. In den beiden
Jahren ertranken im Mittelmeer nach Zählung der UN-Migrationsorganisation
IOM insgesamt mindestens 8.270 Menschen. Ohne die Einsätze der privaten
NGOs wäre die Zahl zweifellos deutlich höher ausgefallen.
## Ein Exempel statuieren
„Es ist allzu offensichtlich, dass es darum geht, an uns ein Exempel zu
statuieren, um andere abzuschrecken – und von den
Menschenrechtsverletzungen der EU abzulenken“, heißt es in einer Erklärung
der „Iuventa 10“, einer Gruppe der Angeklagten. Sie sollen am 10. September
2016 insgesamt 140 Menschen aus einem Boot in libyschen Hoheitsgewässern
und am 18. Juni 2017 weitere 264 Menschen in internationalen Gewässern mit
der „Iuventa“ aufgenommen haben. Die Geretteten wurden später an die „Vos
Hestia“ und die „Vos Prudence“ übergeben, die sie nach Italien brachten.…
18. Juni 2017 soll sich die „Iuventa“-Crew zudem mit libyschen Schleppern
zu einer „regelrecht vereinbarten Übergabe“ der Flüchtlinge verabredet und
ihnen dabei drei Boote mit einem Seil aneinandergeknüpft „zurückgegeben“
haben, so die Staatsanwaltschaft. Diese seien in der folgenden Woche „bei
einem anderen Ereignis des Migrationsgeschehens wieder verwendet“ worden.
Am 1. August 2017 beordert die italienischen Rettungsleitstelle MRCC Rom
die „Iuventa“ nach Lampedusa, angeblich um gerettete Syrer, die ihnen die
italienische Küstenwache übergeben hatte, zu der Insel zu bringen. Die
Polizei verhört die 15-köpfige, überwiegend aus Deutschen bestehende Crew
und durchsucht das Schiff. Am Nachmittag wird es beschlagnahmt. Die NGO hat
es bis heute nicht zurückbekommen. Später stellt sich heraus, dass die
Behörden die „Iuventa“ bei einem Hafenaufenthalt im Mai 2017 verwanzt
hatten.
Die Vorwürfe in dem Verfahren stützen sich unter anderem auf Aussagen des
Ex-Polizisten Pietro Gallo, der als privater Wachmann für die Firma IMI
Security auf dem Save the Children-Schiff „Vos Hestia“ mitgefahren war. IMI
Security hatte Kontakte zum Anführer der Identitären Bewegung Italiens.
Gallo will am 10. September 2016 – dem Tag der ersten der nun in der
Anklage inkriminierten Rettungen – Verdächtiges beobachtet haben. Er wendet
sich zunächst an den Militärgeheimdienst, dann an Abgeordnete der Fünf-
Sterne-Bewegung und schließlich an den damaligen Vorsitzenden der extrem
rechten Lega, den späteren Innenminister Matteo Salvini. Der sprang sofort
auf die Geschichte an. [2][Die Zeit hat 2019 rekonstruiert], dass Gallo
wochenlang als „Privatspion“ Salvinis im Einsatz war, Visitenkarten,
Crewlisten und Gerettete fotografierte und Videos der Einsätze kopierte.
Gallos Name findet sich über 100-mal in den Ermittlungsakten.
## „Es gab keine Rettung ohne Autorisierung“
Insgesamt haben die Aktivist:innen auf der „Iuventa“ etwas mehr als
14.000 Menschen aus dem Wasser geholt. Sechzehnmal ist das Schiff dafür
ausgelaufen. Bei rund der Hälfte dieser Missionen waren die jetzt
Angeklagten beteiligt. Die Prozessakten umfassen mittlerweile rund 30.000
Seiten in italienischer Sprache. Den Angeklagten wurden sie lediglich als
Downloadlink von der Staatsanwaltschaft übermittelt. Die Dokumente wurden
dabei als Bild- nicht als Textdatei zur Verfügung gestellt, was eine
maschinelle Übersetzung extrem aufwändig macht. Die Iuventa 10 weisen den
Vorwurf, mit libyschen Schleppern zusammengearbeitet zu haben, zurück. Das
Ex-Crewmitglied Kathrin Schmidt verweist darauf, dass alle Einsätze von der
italienischen Rettungsleitstelle MRCC in Rom koordiniert wurden. „Es gab
keine Rettung ohne deren Autorisierung“, sagt Schmidt.
Wie der Prozess ausgeht, ist völlig offen. Klar ist: Selbst bei einem
Freispruch [3][sind die Beschuldigten bestraft]. Denn die Kosten für die
Vorbereitung sind schon jetzt enorm, der Zeitaufwand ebenso. „Jeden Tag“,
sagte Schmidt schon 2019, sei sie mit der Vorbereitung des Prozesses
beschäftigt: Akten lesen, mit Anwälten sprechen, Geld sammeln. „Wir machen
nichts anderes.“ Schmidt schätzt, dass Anwält:innen, Reisekosten und nötige
Gutachten mit rund 400.000 Euro zu Buche schlagen.
„Dieser Fall steht exemplarisch für den besorgniserregenden Trend, Recht zu
instrumentalisieren, um Solidarität zu kriminalisieren“, heißt es in einer
Stellungnahme vom Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte
(ECCHR) und Amnesty International. Seenotrettungsorganisationen würden
„immer wieder Opfer medialer Schmutzkampagnen, es wurde mit unangemessenen
Methoden – zum Beispiel Abhörung, auch von Journalist*innen und
Anwält*innen – gegen sie ermittelt.“
Viele werten schon den Umstand der Anklageerhebung durch die
Staatsanwaltschaft als Indiz für die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung.
Doch das ist nicht gesagt. Der Richter, der das Verfahren in Trapani führen
soll, gilt dem Vernehmen nach als sehr korrekt.
## Die Rolle von Matteo Salvini
Und auch ein anderes Verfahren zeigt dieser Tage, dass es vor Siziliens
Gerichten keineswegs nur gegen Flüchtlingshelfer:innen geht. In
Palermo wurde am Freitag ein Prozess um eine Seenotrettung durch die
spanische NGO Open Arms vor Libyen fortgesetzt. Angeklagt ist dabei der
extrem rechte Ex-Innenminister Matteo Salvini. Dem drohen wegen
Freiheitsberaubung und Amtsmissbrauch bis zu 15 Jahre Haft.
Salvini hatte im August 2019 [4][dem Rettungsschiff „Open Arms“] mit 147
Geretteten an Bord sechs Tage lang die Einfahrt in den Hafen von Lampedusa
verboten. Die Migranten konnten das Schiff erst verlassen, nachdem die
italienische Staatsanwaltschaft dies angeordnet hatte. Salvini verteidigte
sich damit, dass er Italien mit seiner restriktiven Politik der
„geschlossenen Häfen“ vor einem Ansturm von Migranten habe schützen wolle…
Italiens Senat hatte im vergangenen Jahr Salvinis parlamentarische
Immunität aufgehoben und damit den Weg für die Gerichtsverhandlung
freigemacht.
Bei der Anhörung am vergangenen Freitag hatte [5][Salvinis Verteidigung
behauptet], es gebe ein Video, das von einem italienischen U-Boot
aufgenommen wurde und zeige, dass die 147 Aufgenommenen gar nicht in einer
Seenotsituation waren, als die „Open Arms“ sie an Bord genommen hatte. Es
habe sich mithin gar nicht um eine Rettung gehandelt, weshalb Salvini dem
Schiff zurecht die Einfahrt verweigert habe. Sie unterschlug dabei, dass
die Flüchtlinge von den libyschen Schleppern in aller Regel in derart
seeuntaugliche und überladene Boote gesetzt werden, dass sie schon allein
deshalb als Notfall gelten müssen.
So oder so: Das Video sei der Staatsanwaltschaft zugeleitet worden, diese
habe es aber „unerklärlicherweise“ nicht in die Prozessakten aufgenommen.
Der Subtext dieser Behauptung lautet: Die Justiz wendet schmutzige Tricks
an, um dem Ex-Minister zu schaden. Zu Beginn der Verhandlung im Dezember
hatte Salvini das Verfahren als „von den Linken und den Anhängern der
illegalen Einwanderung gewollt“ bezeichnet. Die Anhörung wird am Dienstag
fortgesetzt.
21 May 2022
## LINKS
[1] /Seenotrettung-in-Italien/!5756088
[2] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-05/seenotrettung-iuvent…
[3] /Verfahren-gegen-Fluechtlingshelfer/!5847529
[4] /Rettungsschiff-Open-Arms/!5714887
[5] /Matteo-Salvini-droht-Haftstrafe/!5806599
## AUTOREN
Christian Jakob
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