| # taz.de -- Sprechen über Flucht: Wer flieht, hat Gründe | |
| > Eine sprachliche Unterscheidung zwischen Vertriebenen und Migranten steht | |
| > uns nicht zu. Solche Begriffe suggerieren Dringlichkeiten und schaffen | |
| > Kluften. | |
| Bild: Kein Weiterkommen: Ein Junge an der belarussisch-polnischen Grenze im Dez… | |
| In unserem Sprechen und Denken über Flucht taucht ein alter Begriff gerade | |
| wieder neu auf: die Vertriebenen. So spricht etwa die Bundespolizei | |
| inzwischen konsequent von Vertriebenen, wenn es um die Flüchtlinge aus der | |
| Ukraine geht. Ähnlich – allerdings weniger konsequent – Brandenburgs | |
| Innenminister Michael Stübgen (CDU). Sein Bundesland behelfe sich gerade | |
| [1][„mit pragmatischen Lösungen“ bei der „Unterbringung und Versorgung d… | |
| Vertriebenen“], erklärte er Anfang März, als täglich mehr Menschen aus der | |
| Ukraine auch nach Brandenburg flohen. | |
| Dass nun von Vertriebenen die Rede ist, hat einen schädlichen Effekt. Es | |
| suggeriert einen Unterschied zwischen dieser Gruppe von Flüchtlingen und | |
| Flüchtlingen aus anderen Regionen. Damit entsteht eine tiefe Kluft. Es | |
| lässt die [2][Fluchtgründe jener anderen Gruppen, die andere Grenzen | |
| überwinden] (müssen), weniger dringlich erscheinen. Allen, die sich für | |
| eine grundsätzliche Gleichbehandlung geflüchteter Menschen einsetzen, muss | |
| das gegen den Strich gehen. | |
| Noch schärfer zutage tritt diese Kluft im Sprechen über die Menschen, die | |
| [3][seit dem vergangenen Herbst versuchen, über Belarus nach Polen und | |
| Deutschland zu kommen]. Viele mit dem Ziel, Asyl zu beantragen. Für sie | |
| setzte sich der Begriff Migranten durch – nicht nur [4][in Mitteilungen der | |
| Bundespolizei], sondern [5][zunehmend auch in den Medien]. Das Wort | |
| schwappte auch auf andere Gruppen über. „Migranten“ sind im öffentlichen | |
| Diskurs nun zunehmend auch die Menschen, die unter Todesgefahr über das | |
| Mittelmeer Richtung Europa fliehen. | |
| Wer von Flüchtlingen als Migranten spricht, entpolitisiert ihr Anliegen und | |
| lässt ihr Schutzbedürfnis als wenig berechtigt erscheinen. Wenn bei | |
| Vertriebenen ein Zwang hinter ihrem Schicksal angedeutet wird – wer | |
| „vertrieben“ wird, kann schließlich kaum etwas anderes tun, als seine | |
| Sachen zusammenzuraufen und zu fliehen –, dann lassen Begriffe wie Migrant | |
| und stärker noch der [6][besonders abwertende Begriff | |
| Wirtschaftsflüchtling] die Flucht als frei gewählt oder selbst verschuldet | |
| erscheinen. Doch das ist eine Bewertung, die uns hier im globalen Norden | |
| nicht zusteht. | |
| ## Massenzustromsrichtlinie spricht von „Vertriebenen“ | |
| Ein zusätzlicher Effekt des Begriffs Vertriebene ist, dass er die als | |
| solche bezeichneten Flüchtlinge aus der Ukraine näher heranrückt an die | |
| deutsche Geschichte. Sie gehören zu einer Gruppe, mit der sich auch | |
| diejenigen gut identifizieren können, die ihre Großeltern oder Eltern als | |
| Vertriebene des Zweiten Weltkriegs sehen. Denn von rechtlicher Bedeutung | |
| war der Begriff Vertriebene bisher nur im Zusammenhang mit dem | |
| Bundesvertriebenengesetz von 1953. Es fasste unter Vertriebene deutsche | |
| „Staatsangehörige“ oder sogenannte „Volkszugehörige“, die ihren Wohns… | |
| Zusammenhang mit den „Ereignissen des Zweiten Weltkriegs“ verloren hatten. | |
| Dass Flüchtlinge aus der Ukraine überhaupt einigen als Vertriebene gelten, | |
| hat einen rechtlichen Grund. In der am 3. März von der EU in Kraft | |
| gesetzten „Massenzustromsrichtlinie“, nach der Menschen aus der Ukraine nun | |
| in der EU aufgenommen werden, ist – in der deutschen Fassung – schon im | |
| ersten Artikel tatsächlich von „Vertriebenen aus Drittländern“ die Rede �… | |
| und nicht etwa von Zugeströmten. So begründet auch die Bundespolizei ihre | |
| Verwendung dieses Begriffs. | |
| Trotzdem bleibt es problematisch. Solche juristischen Feinheiten bügeln wir | |
| auch sonst in der Alltagssprache und in den Medien oft glatt. Flüchtlinge | |
| dürften sich streng genommen nur die nennen, denen ein | |
| [7][Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention] zugesprochen | |
| wurde – es wäre also ständig zu unterscheiden zwischen Geduldeten, | |
| Asylsuchenden und subsidiär Schutzberechtigten. Das passiert teils auch. | |
| Tatsächlich wird der Begriff Flüchtlinge aber viel breiter verwendet, als | |
| es rein juristisch gesehen angemessen wäre. | |
| So hat etwa auch die Flüchtlingshilfsorganisation [8][Pro Asyl 2016 | |
| dargelegt, warum sie den Begriff Flüchtling bevorzugt] – auch im Vergleich | |
| zu Geflüchtete*r. Denn hier ginge es eben um einen Begriff, der die | |
| politische Dimension offenlege und der es den Gegnern der Flüchtlinge | |
| schwer mache, deren Anliegen abzuwerten. | |
| ## Alltagssprache ist ungenauer | |
| Vertriebene ist überdies nicht der einzige Begriff, mit in dem die | |
| Flüchtlinge aus der Ukraine sprachlich abgesetzt werden. Denn auffällig oft | |
| sind sie außerdem Kriegsflüchtlinge. So spricht etwa | |
| [9][Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD)] genauso wie die [10][Berliner | |
| Integrationssenatorin Katja Kipping (Linke)] von „Kriegsflüchtlingen“ aus | |
| der Ukraine, wenn sie ihre Anstrengungen schildern, sie auf die | |
| Bundesländer zu verteilen. Auch das wertet ihr Anliegen rein sprachlich | |
| gegenüber dem anderer Flüchtlinge auf. | |
| Im juristischen Kontext ist es berechtigt, je nach Status der Flüchtlinge | |
| auch begrifflich zu differenzieren. In unser Alltagssprache ist das nicht | |
| immer sinnvoll und sollte sich auch in den Medien nicht durchsetzen. Oft | |
| ist auch ein einmal vergebener Status nur zeitweise gültig. Entscheidungen | |
| des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge werden vor Gericht nicht | |
| selten korrigiert. So wird Menschen, die zunächst vielleicht nur geduldet | |
| waren, eine andere Schutzform zugesprochen. Wer aus der Ukraine nach | |
| Deutschland kommt, könnte hier theoretisch Asyl beantragen und wäre damit – | |
| rein rechtlich gesehen – ein*e Asylsuchende*r. Das zeigt, wie volatil die | |
| rechtliche Lage der Menschen ist, die alles hinter sich lassen, um ihr | |
| eigenes und das Leben ihrer Lieben zu retten. | |
| In der [11][englischen Fassung der Massenzustromsrichtlinie geht es | |
| übrigens um displaced persons] – ein Begriff, der international viel | |
| allgemeiner verwendet und der nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu der | |
| Gegenbegriff zu den Vertriebenen war. Selbst wenn Vertriebene aus | |
| rechtlicher Sicht passend wäre, werde ich diesen Begriff aus diesen Gründen | |
| nicht verwenden. Und es ist richtig, dass er bisher eher in Mitteilungen | |
| von Behörden auftaucht. In unsere Alltagssprache sollte er sich besser | |
| nicht einschleichen und im Sprechen der Medien sich nicht durchsetzen. | |
| Wer flieht, hat Gründe. [12][Darauf sollten wir uns einigen]. Es steht uns | |
| nicht zu, diese im Einzelnen oder pauschal zu bewerten. Und persönlich | |
| möchte ich mich solidarisch mit den [13][Menschen aus der Ukraine] zeigen | |
| und diejenigen, die von dort fliehen unterstützen können, ohne dafür andere | |
| Menschen und ihre Fluchtgründe abzuwerten. | |
| 21 Mar 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://mik.brandenburg.de/mik/de/detail-pm-und-meldungen/~04-03-2022-ukrai… | |
| [2] /Sterben-zwischen-Belarus-und-Polen/!5814280 | |
| [3] /Grenze-zwischen-Polen-und-Belarus/!5816565 | |
| [4] https://www.bundespolizei.de/Web/DE/04Aktuelles/01Meldungen/2021/10/staendi… | |
| [5] https://www.youtube.com/watch?v=ugFlXymAPVE | |
| [6] /Kommentar-Fluechtlingspolitik/!5020517 | |
| [7] https://glossar.neuemedienmacher.de/glossar/fluechtlinge/ | |
| [8] https://www.proasyl.de/hintergrund/sagt-man-jetzt-fluechtlinge-oder-gefluec… | |
| [9] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2022/02/eu-rat.html | |
| [10] https://www.inforadio.de/rubriken/interviews/2022/03/14/katja-kapping-sozi… | |
| [11] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/ALL/?uri=CELEX%3A32001L0055 | |
| [12] /Kommentar-EU-Fluechtlingspolitik/!5200489 | |
| [13] /Flucht-aus-Kiew-per-Bahn/!5837041 | |
| ## AUTOREN | |
| Uta Schleiermacher | |
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