| # taz.de -- Volle Gläser und große Reden: Der Krieg am Küchentisch | |
| > Der Küchentisch unserer Autorin, ein ehemaliger Wirtshaustisch, hat schon | |
| > viel gesehen. Dieser Tage erlebt er hitzige Debatten, Rachefantasien und | |
| > Hilflosigkeit. | |
| Bild: Die Erwachsenen sortieren Kleiderspenden, die Kinder backen Muffins für … | |
| Unser Küchentisch hat schon viel gesehen. Als Wirtshaustisch in Bayern war | |
| er Unterlage für schwere Mahlzeiten, große Bierkrüge und simple Argumente. | |
| Im Haus meines Onkels gab er dann einem bürgerlichen Privathaushalt einen | |
| gediegenen Rahmen. Seit der Tisch unsere Berliner Küche ausfüllt, ist er | |
| regelmäßig Schauplatz kleinfamiliärer Essensscharmützel und ausgedehnter | |
| Spieleabende. Doch seit dem 24. Februar steht auch er zwar an demselben | |
| Ort, aber doch in einer anderen Welt. | |
| Drei Wochen dauert der Krieg in der Ukraine jetzt schon. So lang wie ein | |
| durchschnittlicher Sommerurlaub, bemerkte eine polnische Kollegin bitter. | |
| Euer Sommerurlaub, meinte sie damit. Und ja, haben wir Deutschen uns nicht | |
| seit vielen Jahren eine Art Urlaub vom Krieg geleistet? Immer vermitteln, | |
| Angela Merkel spricht mit Putin, Angela Merkel spricht mit Erdoğan und | |
| Heiko Maas bereist den Nahen Osten. | |
| Deutschland berät und mäßigt und wartet ab, [1][während sie es in Polen und | |
| der Ukraine schon hatten kommen sehen]. Wir nicht. Und deshalb sitzen nicht | |
| nur wir seit drei Wochen morgens und abends an diesem Küchentisch, | |
| konsumieren mit Entsetzen Nachrichten, diskutieren und trinken und suchen | |
| nach Wegen aus der blutigen Schockstarre, die ein Mann mit einem | |
| bekanntlich sehr langen und obszön hässlichen Tisch über die Ukraine und | |
| ganz Europa gebracht hat. | |
| ## Bataillone und Rachefantasien | |
| An manchen Tagen wird unser Küchentisch zum Schachbrett: Über Nacht zu | |
| Hilfsgenerälen geworden, studieren wir Truppenbewegungen, reden uns die | |
| Köpfe heiß über Putins vorrückende Einheiten und Nachschubwege, türkische | |
| Drohnen, Nato-Sicherheitsgarantien und geforderte Flugverbotszonen. Wie | |
| schnell sich [2][die neue Wehrfähigkeit, die das Land ergriffen hat,] in | |
| der Sprache festsetzt: Bataillon, Korridor, Stinger-Raketen. Rachefantasien | |
| fühlen sich besser an, als Bilder von Kindern zu sehen, die in | |
| U-Bahn-Stationen kauern, von alten Frauen, die mit der Katze im Arm vor | |
| zerschossenen Häusern stehen. | |
| An anderen Tagen findet der Tisch zu seiner ursprünglichen | |
| Stammtischbestimmung zurück: große Getränke, Tränen der Hilflosigkeit, der | |
| Verzweiflung, des Mitleids und große Reden: Wenn du und die Kinder nicht | |
| wärt, ich würde kämpfen. | |
| Unser Tisch steht allerdings doch weit weg von Mariupol oder Charkiw – | |
| dafür recht nah am Hauptbahnhof. Zehntausend Ankömmlinge an einem Tag, | |
| zwölftausend. Für ein paar Stunden ziehe ich eine gelbe Weste an und | |
| sortiere Kleiderspenden, die Kinder backen Muffins für ihre | |
| Altersgenoss:innen, deren Alltag sich in einen Albtraum verwandelt hat. Es | |
| reicht alles nicht. | |
| Die Sprache reicht nicht, die Übernachtungsplätze in Berlin reichen nicht, | |
| die Sanktionen sind nicht hart oder nicht schnell genug. Und wenn | |
| erneuerbare Energien Friedensenergien sind, warum packt dann keiner in der | |
| Regierung die grüne Bazooka aus? Solaranlagen auf alle Gebäude, | |
| Megasubventionen für Wärmepumpen, autofreier Sonntag, Tempolimit! Ach nö, | |
| das gibt bloß wieder Ärger mit der FDP, den Autofahrern. Lieber Benzin | |
| subventionieren und weiter auf Arschlochenergien setzen. | |
| ## Her mit der grünen Bazooka | |
| Meine Faust ist in dieser Woche ein paar Mal auf unseren armen Küchentisch | |
| niedergegangen. Über den aber auch wieder ein paar Lachsalven hinwegfegten: | |
| über das Antiheldenpaar Schröder-Kim, betend im Moskauer Hotelzimmer auf | |
| Friedensmission. Und über den zunehmend wirren US-Tech-Pionier Elon Musk, | |
| der Putin zum Zweikampf herausforderte. Einsatz: die Ukraine. [3][Mehr | |
| toxisch-männliche Selbstüberschätzung geht womöglich nicht]. Wobei Putin in | |
| seiner jüngsten Rede da locker noch eins draufsetzte: „Die Sonderoperation | |
| entwickelt sich erfolgreich, in strikter Übereinstimmung mit vorab | |
| genehmigten Plänen“, ließ der Feldherr wissen. Ein Witz angesichts der | |
| hohen russischen Verluste, aber kein lustiger. | |
| Wer am längeren Tisch sitzt, ist noch lang nicht ausgemacht. In der | |
| Zwischenzeit haben wir beschlossen, dass an unserem auch noch Platz für ein | |
| paar mehr Leute ist. | |
| 20 Mar 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Publizist-Fuecks-ueber-Putins-Krieg/!5839957 | |
| [2] /Aufruestung-der-Bundeswehr/!5841077 | |
| [3] /Putins-Krieg-als-Propagandaschlacht/!5836668 | |
| ## AUTOREN | |
| Nina Apin | |
| ## TAGS | |
| Kolumne Der rote Faden | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Solidarität | |
| Stammtisch | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Podcast „Bundestalk“ | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Sprechen über Flucht: Wer flieht, hat Gründe | |
| Eine sprachliche Unterscheidung zwischen Vertriebenen und Migranten steht | |
| uns nicht zu. Solche Begriffe suggerieren Dringlichkeiten und schaffen | |
| Kluften. | |
| Willkommensklassen für Geflüchtete: Jetzt bloß nicht sparen | |
| Berlins Schulen müssen jetzt schnell Strukturen für die Integration | |
| ukrainischer Kinder schaffen – auch wenn Vieles unklar ist. Ein | |
| Wochenkommentar. | |
| Podcast „Bundestalk“: Geflüchtete: ja! Gas: nein? | |
| Tausende Menschen aus der Ukraine kommen täglich in Deutschland an. Was | |
| wird aus ihnen? Und könnte ein europäisches Energieembargo den Krieg | |
| stoppen? |