| # taz.de -- Rigides Abtreibungsverbot in El Salvador: Wo Fehlgeburt ein Verbrec… | |
| > El Salvador hat eines der schärfsten Abtreibungsgesetze weltweit. Bis zu | |
| > 30 Jahre Haft droht Schwangeren. Doch es gibt Widerstand. | |
| Bild: Demonstration für Frauenrechte am 8. März 2020 in San Salvador | |
| Das Frauengefängnis von Ilopango in El Salvador, elf Kilometer von der | |
| Hauptstadt San Salvador entfernt, ist ein rauer Ort. Hinter blauen | |
| Gitterstäben sitzen die Frauen zu Dutzenden in Zellen auf dünnen | |
| Metallpritschen, mit eingefrorenen Gesichtern. Eine [1][Fotoserie] zeigt | |
| Einblicke in die „[2][Hölle“], wie einige Gefangene das Gefängnis nennen. | |
| Die hygienischen Bedingungen sind schlecht, es gibt zu wenige Toiletten für | |
| zu viele Häftlinge, und auch die medizinische Versorgung ist mangelhaft. | |
| Doch das größte Problem ist die [3][Überbelegung]. Bis zu vierzig Frauen | |
| teilen sich eine Zelle, einige müssen auf dem Boden schlafen. Für maximal | |
| 225 Gefangene ist das Gefängnis ausgelegt – [4][Medien berichten] jedoch | |
| von bis zu 2.000 Inhaftierten, davon zahlreiche mit kleinen Kindern. | |
| Die Frauen sitzen hier wegen Bandenkriminalität oder Diebstählen. Oder | |
| wegen eines Verbrechens, das keines sein dürfte. | |
| So wie Cinthia Marcela Rodríguez Ayala. Zehn Jahre und neun Monate ihres | |
| Lebens hat sie im Frauengefängnis Ilopango verbracht. Sie war 19, als sie | |
| blutend in ein Krankenhaus eingeliefert wurde, nachdem sie im achten Monat | |
| ihr Baby verlor. Noch während man sie behandelte, sei sie an Beinen und | |
| Armen gefesselt worden, erzählt Rodríguez der taz. Eine Krankenschwester | |
| hatte sie an die Polizei verraten, das geht aus den Gerichtsakten hervor. | |
| Der Tatvorwurf der Staatsanwaltschaft: schwerer Totschlag. Was jedoch | |
| tatsächlich passiert war: Rodríguez hatte eine Fehlgeburt erlitten. | |
| El Salvador ist eines der Länder mit den weltweit härtesten | |
| Abtreibungsgesetzen. Unzählige Frauen müssen in El Salvador als Folge einer | |
| Fehlgeburt oder eines gynäkologischen Notfalls jahrzehntelange Haftstrafen | |
| absitzen. Laut einer [5][Studie der Heinrich-Böll-Stiftung] waren es | |
| zwischen 2000 und 2019 allein 181 Frauen, die für Abtreibung oder | |
| Fehlgeburt unter Anklage gestellt wurden. In vielen Ländern weltweit sind | |
| Schwangerschaftsabbrüche illegal. Doch in kaum einem Land werden die | |
| Strafen so hart durchgesetzt wie in dem stark konservativ-religiös | |
| geprägten El Salvador. | |
| Totgeburt, Fehlgeburt oder gynäkologischer Notfall – es ist egal, wie eine | |
| Schwangerschaft beendet wird, ob gewollt oder ungewollt, ob freiwillig oder | |
| unfreiwillig. Stirbt der Embryo oder Fötus, gilt es als Mord oder | |
| Totschlag. Auch, wenn eine Frau vergewaltigt wurde, ihr Leben durch die | |
| Schwangerschaft bedroht ist oder sie noch ein junges Mädchen ist. Die Tat | |
| gilt als „[6][Verbrechen im Zusammenhang mit einem Menschenleben“], so | |
| steht es im Gesetz. | |
| Dieser Text erzählt die Geschichten von drei Frauen und ihren | |
| Unterstützer:innen. Rodríguez, die ihr Kind im achten Monat verlor und | |
| dafür ein Jahrzehnt im Gefängnis saß. Beatriz, die ihre Schwangerschaft | |
| nicht überlebt hätte und mit ihrem öffentlichen Abbruch das Justizsystem | |
| herausforderte. Und der Fall Manuela, der im Dezember 2021 zu einem | |
| historischen Urteil des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs | |
| geführt hat. | |
| Es ist eine Geschichte von Hilflosigkeit und Ungerechtigkeit. Von einem | |
| Justizsystem, das reproduktive Rechte missachtet, und einer Gesellschaft, | |
| die dabei zusieht. Von Menschen, die sterben, weil das Gesetz sie nicht | |
| schützt. | |
| Aber es ist auch eine Geschichte von dem Kampf für Menschenrechte und der | |
| Hoffnung auf Veränderung. | |
| ## Rodríguez: bestraft für eine Fehlgeburt | |
| Die Geschichte von Cinthia Marcela Rodríguez Ayala beginnt am 3. Juli 2008. | |
| Rodríguez, damals 19 Jahre alt, ist im achten Monat schwanger. Sie lebt in | |
| armen Verhältnissen am Rande von San Salvador, arbeitet als Reinigungskraft | |
| in einer Textilfabrik. | |
| Die Schwangerschaft hatte sie nicht geplant, das Kind wollte sie trotzdem | |
| behalten. Sie sei allein zu Hause gewesen, als das Baby kam. Aber, so | |
| erzählt sie es, das Kind war tot. Vom Schock sei sie wie benebelt gewesen, | |
| blutend habe sie Hilfe bei einer Nachbarin gesucht. Die bringt sie in die | |
| Notaufnahme eines Krankenhauses. Dort wird sie betäubt. „Als ich wieder | |
| aufwachte, wollte ich mein Baby sehen“, erinnert Rodríguez sich. „Aber ich | |
| war gefesselt.“ Eine Krankenschwester hatte die Polizei gerufen: wegen | |
| illegaler Abtreibung. | |
| Drei Tage verbringt sie im Krankenhaus, bevor sie in das Frauengefängnis | |
| von Ilopango gebracht wird. Dort beginnt ihre Befragung. Angezeigt ist sie | |
| nun nicht mehr nur wegen Abtreibung, sondern, so steht es in den | |
| Gerichtsakten, [7][nach Artikel 129-1 in Verbindung mit Artikel 20] des | |
| Strafgesetzbuchs wegen „homicidio agravado“. Schwere Tötung. | |
| Geld für eine:n Anwält:in hat sie nicht, und der ihr gestellte | |
| öffentliche Anwalt, so sagt sie heute, habe ihr nicht geglaubt, dass sie | |
| eine Totgeburt hatte. Er sei ihrer Bitte nicht nachgekommen, selbst vor | |
| Gericht aussagen zu wollen. Und bei der nächsten Anhörung habe der Anwalt | |
| bereits wieder gewechselt. „Niemand hat sich wirklich mit meinem Fall | |
| beschäftigt“, sagt Rodríguez. | |
| Die Prozessakten zeichnen das Bild einer Mörderin. Rodríguez habe das | |
| Neugeborene beim Durchschneiden der Nabelschnur mit einer Schere tödlich | |
| verletzt. Ein Beweis dafür sei, dass die Leiche des Babys später in einer | |
| Tasche gefunden wurde. Aber: Die Nabelschnur war bereits bei der Geburt um | |
| den Hals des Babys gewickelt. Rodríguez selbst sagt, das Neugeborene sei | |
| bereits bleich gewesen, sie habe die Schnur durchgeschnitten, um dem Kind | |
| zu helfen. | |
| In den Akten wird sich auf die Obduktion der Leiche berufen. Demnach sei | |
| das Baby an Verletzungen am Hals durch die Schere, mit der die Nabelschnur | |
| durchtrennt wurde, verstorben. | |
| Aber: Es gibt einen weiteren Bericht, den ein unabhängiger | |
| Gerichtsmediziner auf Anfrage von Rodríguez’ Unterstützer:innen, denn diese | |
| gibt es auch, verfasst hat. Auf Grundlage der Prozessakten und des | |
| vorliegenden Obduktionsberichts hat er den Fall erneut bewertet. Beide | |
| Berichte liegen der taz vor. | |
| Der Verfasser, Professor und Direktor der Forensik an der Universität von | |
| Kentucky, kommt darin zum Schluss, dass die im Obduktionsbericht | |
| angeführten Gründe dafür, dass Rodríguez ihr Baby getötet haben soll, | |
| medizinisch nicht haltbar sind. Ein sogenannter Float-Test der Lunge, der | |
| klären sollte, ob das Baby bei der Geburt bereits tot war oder noch lebte, | |
| sei „unzuverlässig“, so der Arzt. Der Obduktionsbericht aus El Salvador, | |
| der eine Grundlage für Rodríguez’ Verurteilung war, komme zu falschen | |
| Schlüssen. | |
| Rodríguez selbst beteuert, dass sie ihr Kind nicht umgebracht hat. Sie ist | |
| heute 33 Jahre alt. Eine lebensfrohe Frau, die sich liebevoll um ihre | |
| kleine Tochter kümmert. „Wenn jemand einen Schwangerschaftsabbruch will, | |
| dann wartet man doch nicht bis zum achten Monat damit.“ | |
| Am 20. August 2009 um 14 Uhr wird Rodríguez zu 30 Jahren Haft verurteilt. | |
| Vor Gericht spielt es keine Rolle, ob sie das Kind willentlich getötet oder | |
| eine unfreiwillige Totgeburt erlitten hat. Beides gilt in El Salvador vor | |
| dem Gesetz als Mord. | |
| Im Frauengefängnis von Ilopango ist ihr Ruf sofort klar: Rodríguez, eine | |
| Kindermörderin. Wenn sie von der Zeit im Gefängnis erzählt, dann zittert | |
| ihre sonst kraftvolle Stimme. Sie sagt, ihre Mithäftlinge hätten sie | |
| geschlagen. Ihre Familie habe sie nicht besuchen können, weil sie sich die | |
| notwendigen Ausweispapiere nicht leisten konnten. Sie sei einsam gewesen. | |
| Ein psychologisches Gutachten attestiert: Sie war depressiv und | |
| suizidgefährdet, litt unter postpartalem Trauma. | |
| Erst als sie das „Colectiva Feminista para el Desarrollo Local“ | |
| kennenlernte, habe sie wieder Mut gefasst. Das feministische Kollektiv für | |
| die lokale Entwicklung, wie die Gruppe zu Deutsch heißt, unterstützt seit | |
| 2006 Frauen, die wegen des Abtreibungsgesetzes in Haft sind. | |
| Gemeinsam mit der „Zivilgesellschaftlichen Gruppe zur Dekriminalisierung | |
| von Schwangerschaftsabbrüchen“ helfen sie Frauen, deren Rechte durch den | |
| Staat beschnitten werden. Seit 2004 engagieren sie sich für die Freilassung | |
| der Inhaftierten, finanzieren juristische Betreuung, schaffen | |
| Öffentlichkeit für die Fälle, rollen sie vor Gericht neu auf. Ein | |
| 13-seitiger Bericht über den „Fall Cinthia“, gespickt mit Quellen und | |
| Belegen, stützt Rodríguez’ Aussagen. | |
| Das Kollektiv hat Rodríguez während ihrer Gefängniszeit unterstützt, sie | |
| mit Hygieneartikeln versorgt, ihr juristische Unterstützung zugesagt. „Ich | |
| habe neue Hoffnung bekommen“, sagt Rodríguez. „Dank dieser Menschen, die | |
| draußen für unsere Freiheit gekämpft haben.“ Rodríguez ist motiviert, holt | |
| ihr Abitur aus dem Gefängnis nach. Und wartet sehnsüchtig auf ein Leben | |
| außerhalb des Gefängnis. | |
| Am 8. März 2019, dem internationalen Frauentag, wird Rodríguez neben zwei | |
| anderen Häftlingen aus dem Frauengefängnis Ilopango [8][entlassen]. Nachdem | |
| das Colectiva Feminista ihren Fall mit Hilfe von Anwält:innen zur | |
| Revision eingereicht hatte, reduzierte das Oberste Gericht die Haftstrafen | |
| der drei Frauen jeweils von 30 Jahren auf etwa zehn Jahre und ordnete ihre | |
| Freilassung an. | |
| Es gibt ein Video dieser Freilassung. Rodríguez, [9][im weißen T-Shirt] und | |
| Jeans, lächelt. Der Presserummel ist groß. Sie umarmt ihre Familie, das | |
| Gesicht voller Freude und Erleichterung, vielleicht auch ein wenig Triumph. | |
| Sogar der anwesende Minister für Justiz und Sicherheit sagt: „Der Staat | |
| muss diese Gesetze evaluieren.“ | |
| ## Morena Herrera kämpft für die Frauen | |
| Morena Herrera ist die Vorsitzende des Colectiva Feminista und eine der | |
| bekanntesten Frauenrechtsaktivistinnen des Landes. Im Dezember 2021 sitzt | |
| die 62-Jährige mit rund einem Dutzend Aktivist:innen der Gruppe in | |
| einem großen, hellen Saal eines alten Kolonialhauses in der Kleinstadt | |
| Suchitoto und bilanziert das vergangene Jahr. Das Treffen findet geheim | |
| statt. | |
| Morena Herrera kämpft diesen Kampf schon seit vielen Jahrzehnten. Wenn sie | |
| erzählt, dann tut sie das ohne Punkt und Komma. Sie kennt die feministische | |
| Geschichte El Salvadors genau, kann sich an jedes Detail erinnern, an jede | |
| Anhörung, jeden Meilenstein, sogar an die Gefühle, die sie damals hatte. | |
| Insbesondere an den 27. April 1998. Es war der Tag, an dem die | |
| Neugestaltung der Abtreibungsgesetze diskutiert wurde. Zuvor wurden | |
| Abbrüche zwar bestraft, aber es gab Ausnahmen – wie gynäkologische Notfälle | |
| oder Fehlbildungen des Fötus. | |
| Dieses Gesetz sollte nun, nach den Vereinbarungen des Friedensvertrags und | |
| durch den starken Einfluss der katholischen Kirche bei diesen, verschärft | |
| werden. Bei der legislativen Versammlung war auch Herrera mit ihrer Gruppe | |
| anwesend, sie war damals 36. „Es war eine lange Nacht“, erinnert sie sich. | |
| „Und ich hatte das Gefühl, dass heute Nacht eine Entscheidung fällt, die | |
| schwere Konsequenzen für die Frauen in diesem Land hat.“ | |
| Sie sollte recht behalten. In jener Nacht wurde die Grundlage geschaffen | |
| für die bis heute existierende Kriminalisierung von | |
| Schwangerschaftsabbrüchen. | |
| Noch während Herrera eine Rede darüber hielt, warum die Verschärfung der | |
| Gesetze einen massiven Einschnitt in die Rechte von Frauen bedeute, wurde | |
| die Live-Übertragung der Versammlung im Fernsehen abgebrochen, so erzählt | |
| sie. Nur wenige Minuten später sei die Entscheidung gefallen. „Und wir | |
| gingen hinaus und weinten.“ | |
| Die Entscheidung schwächte die feministische Bewegung nachhaltig. „Es gab | |
| zwar eine kraftvolle Demonstration im Anschluss“, sagt Herrera, „aber | |
| danach folgte für mehrere Jahre eine Stille.“ Warum? „Ich denke, es gab | |
| eine Selbstzensur, aus Angst, dass wir selbst verurteilt werden.“ | |
| Morena Herrera ließ sich jedoch nicht entmutigen. Sie untersuchte weiter | |
| Fälle, schloss Netzwerke und trieb zusammen mit internationalen | |
| Unterstützer:innen Untersuchungen voran. | |
| So lernte sie 2006 erstmals eine Frau kennen, die eine 30-jährige | |
| Haftstrafe aufgrund eines Schwangerschaftsabbruchs verbüßte. Mithilfe einer | |
| argentinischen Anwältin und Untersuchungen der Universität von Granada | |
| konnten sie den Fall vor Gericht neu aufrollen und juristisch darlegen, | |
| dass es sich nicht um Mord, sondern um einen gynäkologischen Notfall | |
| handelte. Die Frau wurde 2009 vorzeitig entlassen. Es war der erste große | |
| Durchbruch. | |
| Die Gruppe um Herrera wuchs danach stetig, der Großteil des rund | |
| 15-köpfigen Teams arbeitet ehrenamtlich, bis auf eine Festangestellte. | |
| Mithilfe der Unterstützung des Kollektivs wurden inzwischen 181 Frauen | |
| betreut und davon 77 aus der Haft befreit. | |
| Ihr größter Erfolg: Das Urteil im Fall „Manuela und andere vs. El | |
| Salvador“. Ein Fall, der in den vergangenen Jahren zum Symbol für | |
| Frauenrechte in dem zentralamerikanischen Land wurde. | |
| ## Manuela stirbt im Gefängnis an Krebs | |
| Manuela, der zum Schutz öffentlich ein anderer Name gegeben wurde, ist eine | |
| Frau, die aus einer armen, ländlichen Gegend kam. Sie war Analphabetin, | |
| lebte mit ihrer Familie in prekären Verhältnissen. Auch sie war zuvor wegen | |
| schwerer Tötung an ihrem Neugeborenen inhaftiert worden. Am 28. Februar | |
| 2008 hatte die Polizei die Leiche des Babys in einer Klärgrube nahe ihrem | |
| Haus gefunden. Umgebracht hatte sie es nicht, das Kind war bereits tot, als | |
| es auf die Welt kam. Dennoch wurde auch Manuela zu 30 Jahren Gefängnis | |
| verurteilt. Noch zwei Jahre lebte sie in Gefangenschaft, bevor sie 2010, | |
| mit Handschellen an das Krankenhausbett gefesselt, an Lymphkrebs verstarb. | |
| Im [10][November 2021] urteilte der Interamerikanische | |
| Menschenrechtsgerichtshof nach einer über zweijährigen Prüfung: Der Staat | |
| hat sich schuldig gemacht in der Verletzung persönlicher Freiheit, der | |
| Gleichheit vor dem Gesetz, des Rechts auf Leben und Persönlichkeit sowie | |
| der Verletzung der Unversehrtheit, des Privatlebens und der Gesundheit von | |
| Manuela. Zum ersten Mal wird der Staat von einem internationalen Gericht | |
| für die Verletzung der Menschenrechte durch das rigide Abtreibungsgesetz | |
| verurteilt. [11][Die BBC spricht] von einem „historischen Urteil“. | |
| In dem dreizehnseitigen [12][Urteil] des Interamerikanischen | |
| Menschenrechtsgerichtshofs zum Fall Manuela heißt es, die | |
| Sicherheitsverwahrung sei „willkürlich“ gewesen und habe das Recht auf | |
| Unschuldsvermutung verletzt. Außerdem sei das Fehlen einer ordnungsgemäßen | |
| Prüfung des Falles auf „Vorurteile und negative Geschlechtsstereotype“ | |
| zurückzuführen. Weiter heißt es, „Manuela wird ab dem Moment, ab dem sie | |
| medizinische Versorgung braucht, diskriminiert. Vom Staat erhält sie weder | |
| medizinische Behandlung noch widerfährt ihr Gerechtigkeit“. | |
| Es sind vor allem Frauen in Armut, die unter dem Gesetz leiden. Oftmals | |
| leben sie in ländlichen Gebieten, sind unterernährt, ohne Zugang zu | |
| fließendem Wasser. Private Krankenversicherungen sind teuer, die staatliche | |
| Versorgung ist mangelhaft. Weil sie kaum Zugang zu medizinischer Versorgung | |
| haben, erleiden sie öfter gynäkologische Notfälle oder Fehlgeburten. | |
| [13][Die wenigsten können sich eine medizinische Betreuung] der | |
| Schwangerschaft überhaupt leisten. | |
| Und auch Frauen, die eine Schwangerschaft bewusst abbrechen wollen, haben | |
| es schwer. Unbegleitete Abbrüche können lebensgefährlich ein. [14][Laut der | |
| WHO zählen illegalisierte Abtreibungen] zu den Gründen, die am häufigsten | |
| zu Müttersterblichkeit führen. Jedes Jahr sterben demnach bis zu 13,2 | |
| Prozent der Schwangeren wegen unsicherer Abtreibungen. Für El Salvador gibt | |
| es keine Statistik, die die Toten zählt. Zu oft passieren die Eingriffe im | |
| Geheimen. Zum Beispiel mit einem verbogenem Kleiderbügel, die sich die | |
| Schwangeren vaginal einführen. Viele verbluten dabei. | |
| Es gebe zwar klandestine Netzwerke, um an Medikamente für | |
| Schwangerschaftsabbrüche zu kommen, aber die wenigsten Frauen hätten zu | |
| diesen überhaupt Zugänge, sagt Morena Herrera. Die Eingriffe seien teuer, | |
| oftmals mehr als tausend Dollar. Solange Schwangerschaftsabbrüche verboten | |
| bleiben, zwingt es die Frauen daher in eine gefährliche Illegalität. | |
| Herrera sagt: „Das Abtreibungsverbot in El Salvador tötet Frauen.“ | |
| El Salvador ist ein extrem konservatives Land, in dem sowohl die | |
| katholische Kirche als auch evangelikale Fundamentalisten massiven Einfluss | |
| auf die Politikgestaltung des Landes haben. Etwa [15][die Hälfte der | |
| Bevölkerung] identifiziert sich als katholisch, rund 33 Prozent als | |
| evangelisch. | |
| Anhänger der sogenannten Lebensschutzbewegung und Anti-Abtreibungs-Lobby | |
| sind auch im Parlament breit vertreten. Schwangerschaftsabbrüche, so der | |
| Glaube, seien in jedem Fall der Mord an ungeborenem Leben. Egal, ob das | |
| Leben der Schwangeren dabei selbst gefährdet ist oder sie das Kind gegen | |
| ihren Willen verliert. | |
| Erst im Oktober 2021 hatte die gesetzgebende Versammlung einen [16][Antrag | |
| auf eine Reform] des Abtreibungsgesetzes abgelehnt, die die | |
| Zivilrechtsgruppe rund um Morena Herrera eingereicht hatte. Es war die | |
| vierte Initiative, die dem Kongress seit 1998 vorgelegt wurde. Von 84 | |
| Abgeordneten lehnten 73 die Reform ab. | |
| Gestützt werden diese Fundamentalisten von Präsident Bukele. Nachdem er | |
| wegen Spaltungsvorwürfen aus der linken FMLN-Partei rausgeworfen wurde, | |
| trat der 40-Jährige in die Mitte-rechts-Partei Gana ein – und gewann mit | |
| ihr den Wahlkampf. Er präsentiert sich als liberaler Reformer des Landes, | |
| regiert jedoch mit autoritärem Politikstil und konservativen Ansichten. | |
| Im September 2021 postete Bukele auf [17][seiner offiziellen | |
| Facebook-Seite], ein klares Statement zur Reformdebatte: „Ich habe mich | |
| entschieden, damit es KEINEN ZWEIFEL gibt, keinerlei Reformen für KEINEN | |
| ARTIKEL vorzuschlagen, der mit dem RECHT AUF LEBEN (ab dem Moment der | |
| Empfängnis) zu tun hat, mit der Ehe (dem klassischen Konzept folgend, EIN | |
| MANN UND EINE FRAU) oder mit Euthanasie“ (frei übersetzt, Hervorhebungen im | |
| Original, Anm. d. Autorin). | |
| Doch das Urteil im Fall Manuela zwingt Bukeles Regierung nun erstmals zum | |
| Handeln. Das Gericht wies den Staat an, die internationale Verantwortung in | |
| einem öffentlichen Akt anzuerkennen. Außerdem soll er sich zur | |
| Vertraulichkeit von Krankenakten verpflichten, Leitfäden für gynäkologische | |
| Behandlungen entwickeln. Und: Er muss seine Abtreibungsgesetze nun doch | |
| reformieren. Gynäkologische Notfälle, so das Gericht, dürften nicht | |
| automatisch strafrechtliche Konsequenzen haben. | |
| Der Staat hat bislang jedoch nicht auf das Urteil reagiert. Präsident Nayib | |
| Bukele schweigt. Und das Gesetz bleibt. | |
| Für Morena Herrera ist das Urteil dennoch ein Meilenstein. „Die Kommission | |
| hat anerkannt, dass Manuela einen gynäkologischen Notfall hatte“, sagt sie. | |
| „Außerdem wird anerkannt, dass das Problem in der Anwendung der Gesetze | |
| liegt.“ Es sei ein großer Erfolg, dass das Bild von Manuela, die zuvor als | |
| untreue Kindermörderin galt, bereinigt wird – auch für ihre Familie sei | |
| diese Entkriminalisierung wichtig. | |
| Der Fall eröffne Möglichkeiten für andere Frauen, um ihre Rechte zu | |
| kämpfen. „Auch wenn es der Regierung nicht gefällt: Hier wurde der Staat | |
| als Ganzes verurteilt. Er ist verantwortlich und wird handeln müssen.“ | |
| ## Beatriz: Ihr Fall kann das Land verändern | |
| Ein weiterer Fall gibt Herrera Grund zur Hoffnung. Im Fall „Beatriz“ prüft | |
| der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof derzeit, ob El Salvador | |
| sich auch in diesem Fall am Verstoß gegen Menschenrechte schuldig gemacht | |
| hat. Wie kein anderer forderte dieser das salvadorianische Justizsystem | |
| heraus. Ein Urteil gegen den Staat könnte den Wendepunkt in der | |
| Gesetzgebung bedeuten. | |
| Beatriz selbst lebt nicht mehr. Doch der Arzt, der sie behandelte, spricht | |
| bereitwillig über den Fall. Doktor Guillermo Ortiz Opas hat inzwischen das | |
| Land verlassen. Zu massiv waren die Anfeindungen gegen ihn und seine | |
| Familie, zu sehr zweifelte er an dem medizinischen Ethos im Land. Als er | |
| ein Jobangebot in den USA bekam, überlegte er nicht lange und wanderte aus. | |
| Das Interview findet per Zoom statt. In einem roten Poloshirt, mit grauem | |
| Bart und schwarzer Hornbrille sitzt er in seinem neuen Zuhause in North | |
| Carolina vor dem Computer. | |
| Ortiz ist ein erfahrener Arzt. 25 Jahre lang arbeitete er als Gynäkologe in | |
| der Frauenklinik in San Salvador, war zuletzt Chef der Geburtshilfe. | |
| Außerdem lehrte er als Professor an der Universität. Viele Schwangere kamen | |
| in seine Klinik und baten um Hilfe. Junge Frauen, die vergewaltigt worden | |
| waren, minderjährige Mädchen, Frauen, die kein Kind hätten versorgen | |
| können. Aber auch gynäkologische Notfälle. „Ich wusste, was ich hätte tun | |
| müssen, um ihnen zu helfen“, sagt Ortiz. „Aber das Gesetz hat es mir | |
| verboten.“ Er fühlte sich wie ein Krimineller, versuchte, einen Teil seiner | |
| Arbeit zu verstecken, erzählt er. | |
| Ob er verbotene Abtreibungen vorgenommen hat? „Ich habe versucht, Frauen zu | |
| helfen, egal in welcher Situation“, sagt Ortiz. „Sonst wären viele Frauen | |
| gestorben.“ Mehr will er nicht sagen. | |
| Noch bevor er Beatriz behandelte, prägte ihn ein anderer Fall. Es ist 2012, | |
| als ein 17-jähriges Mädchen mit einer Nierenkrankheit zu ihm in die Klinik | |
| kommt. Sie ist in der 22. Woche ungewollt schwanger, ihr Körper in | |
| schlechter Verfassung. „Ich wusste: Wenn sie nicht abtreibt, wird sie | |
| sterben“, erzählt Ortiz. Die Eltern jedoch entscheiden sich dagegen, aus | |
| Angst, ins Gefängnis zu kommen. Wenn Ortiz diese Geschichte erzählt, dann | |
| kommen ihm die Tränen. Am nächsten Morgen, es war ein Freitag, daran | |
| erinnert er sich genau, wird er früh ins Krankenhaus gerufen. Ihr Zustand | |
| ist schlecht. „Sie ist in meinen Armen gestorben“, sagt Ortiz. „Und sie | |
| würde noch leben, wenn sie abgetrieben hätte.“ | |
| Für Ortiz war es ein Wendepunkt. Nie wieder dürfe so etwas passieren, | |
| dachte er. | |
| 2013 kam Beatriz in das Krankenhaus. Ihr eigentlicher Name ist anders, zu | |
| ihrem Schutz wird auch sie öffentlich anders genannt. Der taz liegt der | |
| richtige Name vor, ihr Facebook-Profil ist noch immer online. Inzwischen | |
| ist Beatriz an den Folgen eines Verkehrsunfalls gestorben. | |
| Als sie zu Doktor Ortiz kommt, ist Beatriz 20 Jahre alt und in der 12. | |
| Woche schwanger. Der Fötus jedoch ist unterentwickelt, ohne Gehirn. Es ist | |
| klar, dass er außerhalb des Uterus nicht überleben würde. | |
| Und auch Beatriz war in Lebensgefahr. Mit 18 wurde bei ihr die | |
| Autoimmunerkrankung Lupus diagnostiziert. [18][Ihr Körper war schwach,] | |
| schon ihre erste Schwangerschaft löste bei ihr die lebensbedrohliche | |
| Erkrankung Präeklampsie mit Bluthochdruck aus. Damals überlebte ihr Sohn, | |
| doch diesmal war es anders. Ein medizinisches Komitee aus 13 | |
| Fachärzt:innen unter der Leitung von Doktor Ortiz war sich sicher: Der | |
| Fötus würde eine Geburt nicht überleben. Und Beatriz würde während der | |
| Schwangerschaft sterben. | |
| Aber sie wollte leben. | |
| „Eine geheime Abtreibung war nicht möglich, weil alle von dem Fall | |
| wussten“, sagt Doktor Ortiz. Der juristische Weg war der einzig mögliche. | |
| Ortiz überredete den Klinikdirektor und andere Kolleg:innen, ihn zu | |
| unterstützen. Sie schrieben Briefe, an den Gesundheitsminister, an das | |
| Menschenrechtsbüro. Die einzige Antwort, so erzählt es Ortiz: „Wir können | |
| euch nicht helfen.“ | |
| Deshalb riet er Beatriz, ihn auf unterlassene Hilfeleistung zu verklagen. | |
| Er und die Anwälte sahen darin den einzigen juristischen Weg, sie zu | |
| retten. Wenn das Gericht entschied, dass Dr. Ortiz ihr helfen müsse, dann | |
| müsste es auch anordnen, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen. „Es | |
| war eine schlimme Zeit für mich“, erzählt der Arzt heute. „Ich wurde | |
| angegriffen, im Krankenhaus wollte niemand mit mir sprechen, weil niemand | |
| mit dem Fall zu tun haben wollte.“ | |
| Am 11. April 2013 reicht Beatriz die Klage ein. Sie fühlt sich immer | |
| schwächer. Die Zeit wird knapp, denn es ist klar, dass der | |
| Gesundheitszustand ab der 28. Schwangerschaftswoche noch schlechter würde. | |
| 81 Tage später die Entscheidung: Eine Abtreibung ist und bleibt illegal. | |
| Er will ihr helfen – also entscheidet er sich für einen minimal invasiven | |
| Kaiserschnitt, um den Fötus zu entfernen. Der Eingriff gelingt. Beatriz | |
| überlebt, der Fötus stirbt fünf Stunden später. Verurteilt wird niemand. | |
| Ortiz hatte, in dem er das Baby durch Kaiserschnitt lebend zur Welt | |
| brachte, einen Weg gefunden, die Illegalität zu umgehen. | |
| „Ich mache nichts Falsches“, sagt Ortiz, als würde er sich das selbst | |
| versichern müssen. Ortiz hat diese Geschichte schon Dutzende Male erzählt. | |
| Und dennoch wühlt sie ihn noch immer auf. „Ich weiß, dass ich Frauen helfe. | |
| Sie würden sonst sterben.“ | |
| Der Fall Beatriz erweckte internationale Aufmerksamkeit. [19][Am 29. | |
| November 2013] reicht sie Beatriz mit der Unterstützung des Colectiva | |
| Feminista beim Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof Klage gegen | |
| den Staat El Salvador ein. Sie fordert Wiedergutmachung für das, was sie | |
| aufgrund des verzögerten Schwangerschaftsabbruchs hat erleiden müssen. Und | |
| sie will eine Reform des Abtreibungsgesetzes. | |
| Am 7. September 2017 erklärt die Internationale Menschenrechtskommission, | |
| die die Fälle für das Gericht prüft, die Klage für zulässig. In dieser Zeit | |
| plant Beatriz auch, das Land, das ihr so viel Sorge und Leid angetan hat, | |
| zu verlassen. Einen Monat später jedoch stirbt sie an den Folgen eines | |
| Motorradunfalls. | |
| Ihr Fall aber geht weiter, bis heute. Vier Jahre und vier Monate später, am | |
| 12. Januar 2022, veröffentlichte die Interamerikanische | |
| Menschenrechtskommission eine Meldung: Sie habe die Klage an den | |
| Gerichtshof weitergeleitet. [20][Die Begründung:] El Salvador hat das Recht | |
| auf Leben, menschliche Behandlung, juristischen Schutz, Privatsphäre, | |
| Gleichheit vor dem Gesetz und Gesundheit verletzt. Außerdem habe der Staat | |
| Artikel 1 und 6 der Interamerikanischen Konvention zum Schutz vor Folter | |
| und Artikel 7 der Belém-Konvention zum Schutz der Frauenrechte verletzt. | |
| Eine öffentliche Anhörung des Interamerikanischen | |
| Menschenrechtsgerichtshofs im Fall Beatriz wird für die kommenden Monate | |
| erwartet, eine Entscheidung kann noch einige Jahre dauern. Sollte El | |
| Salvador verurteilt werden, wäre es das zweite Mal, dass sich das Land an | |
| Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig macht. Der Handlungsdruck | |
| steigt. | |
| Auch der Kampf um die Rechte der Inhaftierten geht weiter. Unter dem Slogan | |
| „#NosFaltanLas17“, zu Deutsch „Uns fehlen noch 17“, machen die | |
| feministischen Aktivistinnen und Aktivisten auf die noch immer | |
| unrechtmäßig Inhaftierten aufmerksam. [21][Auch Prominente wie Milla | |
| Jovovich] beteiligen sich an der Kampagne zur Freilassung der Betroffenen. | |
| Immer wieder verzeichnen sie Erfolge. | |
| Die befreiten Frauen leiden jedoch noch immer an den Folgen ihrer | |
| Verurteilung. Cinthia Marcela Rodríguez Ayala verkauft heute T-Shirts am | |
| Straßenrand. „So wie dieses hier“, sagt sie und zeigt auf das weiße Shirt, | |
| das sie trägt, mit dem Minnie-Maus-Aufdruck. Sie hätte gerne einen anderen | |
| Job. Aber sie darf nicht. Weil sie noch immer als Straftäterin gilt. | |
| Die aus der Haft befreiten Frauen werden nicht vom Staat entschädigt. Vor | |
| dem Gesetz bleiben sie alle Kindermörderinnen. „Aber dieses Gesetz wird | |
| sich ändern“, ist sich Frauenrechtsaktivistin Morena Herrera sicher. „Es | |
| ist rückschrittlich, unfair und menschenrechtswidrig.“ | |
| 5 Feb 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sarah Ulrich | |
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