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# taz.de -- Rigides Abtreibungsverbot in El Salvador: Wo Fehlgeburt ein Verbrec…
> El Salvador hat eines der schärfsten Abtreibungsgesetze weltweit. Bis zu
> 30 Jahre Haft droht Schwangeren. Doch es gibt Widerstand.
Bild: Demonstration für Frauenrechte am 8. März 2020 in San Salvador
Das Frauengefängnis von Ilopango in El Salvador, elf Kilometer von der
Hauptstadt San Salvador entfernt, ist ein rauer Ort. Hinter blauen
Gitterstäben sitzen die Frauen zu Dutzenden in Zellen auf dünnen
Metallpritschen, mit eingefrorenen Gesichtern. Eine [1][Fotoserie] zeigt
Einblicke in die „[2][Hölle“], wie einige Gefangene das Gefängnis nennen.
Die hygienischen Bedingungen sind schlecht, es gibt zu wenige Toiletten für
zu viele Häftlinge, und auch die medizinische Versorgung ist mangelhaft.
Doch das größte Problem ist die [3][Überbelegung]. Bis zu vierzig Frauen
teilen sich eine Zelle, einige müssen auf dem Boden schlafen. Für maximal
225 Gefangene ist das Gefängnis ausgelegt – [4][Medien berichten] jedoch
von bis zu 2.000 Inhaftierten, davon zahlreiche mit kleinen Kindern.
Die Frauen sitzen hier wegen Bandenkriminalität oder Diebstählen. Oder
wegen eines Verbrechens, das keines sein dürfte.
So wie Cinthia Marcela Rodríguez Ayala. Zehn Jahre und neun Monate ihres
Lebens hat sie im Frauengefängnis Ilopango verbracht. Sie war 19, als sie
blutend in ein Krankenhaus eingeliefert wurde, nachdem sie im achten Monat
ihr Baby verlor. Noch während man sie behandelte, sei sie an Beinen und
Armen gefesselt worden, erzählt Rodríguez der taz. Eine Krankenschwester
hatte sie an die Polizei verraten, das geht aus den Gerichtsakten hervor.
Der Tatvorwurf der Staatsanwaltschaft: schwerer Totschlag. Was jedoch
tatsächlich passiert war: Rodríguez hatte eine Fehlgeburt erlitten.
El Salvador ist eines der Länder mit den weltweit härtesten
Abtreibungsgesetzen. Unzählige Frauen müssen in El Salvador als Folge einer
Fehlgeburt oder eines gynäkologischen Notfalls jahrzehntelange Haftstrafen
absitzen. Laut einer [5][Studie der Heinrich-Böll-Stiftung] waren es
zwischen 2000 und 2019 allein 181 Frauen, die für Abtreibung oder
Fehlgeburt unter Anklage gestellt wurden. In vielen Ländern weltweit sind
Schwangerschaftsabbrüche illegal. Doch in kaum einem Land werden die
Strafen so hart durchgesetzt wie in dem stark konservativ-religiös
geprägten El Salvador.
Totgeburt, Fehlgeburt oder gynäkologischer Notfall – es ist egal, wie eine
Schwangerschaft beendet wird, ob gewollt oder ungewollt, ob freiwillig oder
unfreiwillig. Stirbt der Embryo oder Fötus, gilt es als Mord oder
Totschlag. Auch, wenn eine Frau vergewaltigt wurde, ihr Leben durch die
Schwangerschaft bedroht ist oder sie noch ein junges Mädchen ist. Die Tat
gilt als „[6][Verbrechen im Zusammenhang mit einem Menschenleben“], so
steht es im Gesetz.
Dieser Text erzählt die Geschichten von drei Frauen und ihren
Unterstützer:innen. Rodríguez, die ihr Kind im achten Monat verlor und
dafür ein Jahrzehnt im Gefängnis saß. Beatriz, die ihre Schwangerschaft
nicht überlebt hätte und mit ihrem öffentlichen Abbruch das Justizsystem
herausforderte. Und der Fall Manuela, der im Dezember 2021 zu einem
historischen Urteil des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs
geführt hat.
Es ist eine Geschichte von Hilflosigkeit und Ungerechtigkeit. Von einem
Justizsystem, das reproduktive Rechte missachtet, und einer Gesellschaft,
die dabei zusieht. Von Menschen, die sterben, weil das Gesetz sie nicht
schützt.
Aber es ist auch eine Geschichte von dem Kampf für Menschenrechte und der
Hoffnung auf Veränderung.
## Rodríguez: bestraft für eine Fehlgeburt
Die Geschichte von Cinthia Marcela Rodríguez Ayala beginnt am 3. Juli 2008.
Rodríguez, damals 19 Jahre alt, ist im achten Monat schwanger. Sie lebt in
armen Verhältnissen am Rande von San Salvador, arbeitet als Reinigungskraft
in einer Textilfabrik.
Die Schwangerschaft hatte sie nicht geplant, das Kind wollte sie trotzdem
behalten. Sie sei allein zu Hause gewesen, als das Baby kam. Aber, so
erzählt sie es, das Kind war tot. Vom Schock sei sie wie benebelt gewesen,
blutend habe sie Hilfe bei einer Nachbarin gesucht. Die bringt sie in die
Notaufnahme eines Krankenhauses. Dort wird sie betäubt. „Als ich wieder
aufwachte, wollte ich mein Baby sehen“, erinnert Rodríguez sich. „Aber ich
war gefesselt.“ Eine Krankenschwester hatte die Polizei gerufen: wegen
illegaler Abtreibung.
Drei Tage verbringt sie im Krankenhaus, bevor sie in das Frauengefängnis
von Ilopango gebracht wird. Dort beginnt ihre Befragung. Angezeigt ist sie
nun nicht mehr nur wegen Abtreibung, sondern, so steht es in den
Gerichtsakten, [7][nach Artikel 129-1 in Verbindung mit Artikel 20] des
Strafgesetzbuchs wegen „homicidio agravado“. Schwere Tötung.
Geld für eine:n Anwält:in hat sie nicht, und der ihr gestellte
öffentliche Anwalt, so sagt sie heute, habe ihr nicht geglaubt, dass sie
eine Totgeburt hatte. Er sei ihrer Bitte nicht nachgekommen, selbst vor
Gericht aussagen zu wollen. Und bei der nächsten Anhörung habe der Anwalt
bereits wieder gewechselt. „Niemand hat sich wirklich mit meinem Fall
beschäftigt“, sagt Rodríguez.
Die Prozessakten zeichnen das Bild einer Mörderin. Rodríguez habe das
Neugeborene beim Durchschneiden der Nabelschnur mit einer Schere tödlich
verletzt. Ein Beweis dafür sei, dass die Leiche des Babys später in einer
Tasche gefunden wurde. Aber: Die Nabelschnur war bereits bei der Geburt um
den Hals des Babys gewickelt. Rodríguez selbst sagt, das Neugeborene sei
bereits bleich gewesen, sie habe die Schnur durchgeschnitten, um dem Kind
zu helfen.
In den Akten wird sich auf die Obduktion der Leiche berufen. Demnach sei
das Baby an Verletzungen am Hals durch die Schere, mit der die Nabelschnur
durchtrennt wurde, verstorben.
Aber: Es gibt einen weiteren Bericht, den ein unabhängiger
Gerichtsmediziner auf Anfrage von Rodríguez’ Unterstützer:innen, denn diese
gibt es auch, verfasst hat. Auf Grundlage der Prozessakten und des
vorliegenden Obduktionsberichts hat er den Fall erneut bewertet. Beide
Berichte liegen der taz vor.
Der Verfasser, Professor und Direktor der Forensik an der Universität von
Kentucky, kommt darin zum Schluss, dass die im Obduktionsbericht
angeführten Gründe dafür, dass Rodríguez ihr Baby getötet haben soll,
medizinisch nicht haltbar sind. Ein sogenannter Float-Test der Lunge, der
klären sollte, ob das Baby bei der Geburt bereits tot war oder noch lebte,
sei „unzuverlässig“, so der Arzt. Der Obduktionsbericht aus El Salvador,
der eine Grundlage für Rodríguez’ Verurteilung war, komme zu falschen
Schlüssen.
Rodríguez selbst beteuert, dass sie ihr Kind nicht umgebracht hat. Sie ist
heute 33 Jahre alt. Eine lebensfrohe Frau, die sich liebevoll um ihre
kleine Tochter kümmert. „Wenn jemand einen Schwangerschaftsabbruch will,
dann wartet man doch nicht bis zum achten Monat damit.“
Am 20. August 2009 um 14 Uhr wird Rodríguez zu 30 Jahren Haft verurteilt.
Vor Gericht spielt es keine Rolle, ob sie das Kind willentlich getötet oder
eine unfreiwillige Totgeburt erlitten hat. Beides gilt in El Salvador vor
dem Gesetz als Mord.
Im Frauengefängnis von Ilopango ist ihr Ruf sofort klar: Rodríguez, eine
Kindermörderin. Wenn sie von der Zeit im Gefängnis erzählt, dann zittert
ihre sonst kraftvolle Stimme. Sie sagt, ihre Mithäftlinge hätten sie
geschlagen. Ihre Familie habe sie nicht besuchen können, weil sie sich die
notwendigen Ausweispapiere nicht leisten konnten. Sie sei einsam gewesen.
Ein psychologisches Gutachten attestiert: Sie war depressiv und
suizidgefährdet, litt unter postpartalem Trauma.
Erst als sie das „Colectiva Feminista para el Desarrollo Local“
kennenlernte, habe sie wieder Mut gefasst. Das feministische Kollektiv für
die lokale Entwicklung, wie die Gruppe zu Deutsch heißt, unterstützt seit
2006 Frauen, die wegen des Abtreibungsgesetzes in Haft sind.
Gemeinsam mit der „Zivilgesellschaftlichen Gruppe zur Dekriminalisierung
von Schwangerschaftsabbrüchen“ helfen sie Frauen, deren Rechte durch den
Staat beschnitten werden. Seit 2004 engagieren sie sich für die Freilassung
der Inhaftierten, finanzieren juristische Betreuung, schaffen
Öffentlichkeit für die Fälle, rollen sie vor Gericht neu auf. Ein
13-seitiger Bericht über den „Fall Cinthia“, gespickt mit Quellen und
Belegen, stützt Rodríguez’ Aussagen.
Das Kollektiv hat Rodríguez während ihrer Gefängniszeit unterstützt, sie
mit Hygieneartikeln versorgt, ihr juristische Unterstützung zugesagt. „Ich
habe neue Hoffnung bekommen“, sagt Rodríguez. „Dank dieser Menschen, die
draußen für unsere Freiheit gekämpft haben.“ Rodríguez ist motiviert, holt
ihr Abitur aus dem Gefängnis nach. Und wartet sehnsüchtig auf ein Leben
außerhalb des Gefängnis.
Am 8. März 2019, dem internationalen Frauentag, wird Rodríguez neben zwei
anderen Häftlingen aus dem Frauengefängnis Ilopango [8][entlassen]. Nachdem
das Colectiva Feminista ihren Fall mit Hilfe von Anwält:innen zur
Revision eingereicht hatte, reduzierte das Oberste Gericht die Haftstrafen
der drei Frauen jeweils von 30 Jahren auf etwa zehn Jahre und ordnete ihre
Freilassung an.
Es gibt ein Video dieser Freilassung. Rodríguez, [9][im weißen T-Shirt] und
Jeans, lächelt. Der Presserummel ist groß. Sie umarmt ihre Familie, das
Gesicht voller Freude und Erleichterung, vielleicht auch ein wenig Triumph.
Sogar der anwesende Minister für Justiz und Sicherheit sagt: „Der Staat
muss diese Gesetze evaluieren.“
## Morena Herrera kämpft für die Frauen
Morena Herrera ist die Vorsitzende des Colectiva Feminista und eine der
bekanntesten Frauenrechtsaktivistinnen des Landes. Im Dezember 2021 sitzt
die 62-Jährige mit rund einem Dutzend Aktivist:innen der Gruppe in
einem großen, hellen Saal eines alten Kolonialhauses in der Kleinstadt
Suchitoto und bilanziert das vergangene Jahr. Das Treffen findet geheim
statt.
Morena Herrera kämpft diesen Kampf schon seit vielen Jahrzehnten. Wenn sie
erzählt, dann tut sie das ohne Punkt und Komma. Sie kennt die feministische
Geschichte El Salvadors genau, kann sich an jedes Detail erinnern, an jede
Anhörung, jeden Meilenstein, sogar an die Gefühle, die sie damals hatte.
Insbesondere an den 27. April 1998. Es war der Tag, an dem die
Neugestaltung der Abtreibungsgesetze diskutiert wurde. Zuvor wurden
Abbrüche zwar bestraft, aber es gab Ausnahmen – wie gynäkologische Notfälle
oder Fehlbildungen des Fötus.
Dieses Gesetz sollte nun, nach den Vereinbarungen des Friedensvertrags und
durch den starken Einfluss der katholischen Kirche bei diesen, verschärft
werden. Bei der legislativen Versammlung war auch Herrera mit ihrer Gruppe
anwesend, sie war damals 36. „Es war eine lange Nacht“, erinnert sie sich.
„Und ich hatte das Gefühl, dass heute Nacht eine Entscheidung fällt, die
schwere Konsequenzen für die Frauen in diesem Land hat.“
Sie sollte recht behalten. In jener Nacht wurde die Grundlage geschaffen
für die bis heute existierende Kriminalisierung von
Schwangerschaftsabbrüchen.
Noch während Herrera eine Rede darüber hielt, warum die Verschärfung der
Gesetze einen massiven Einschnitt in die Rechte von Frauen bedeute, wurde
die Live-Übertragung der Versammlung im Fernsehen abgebrochen, so erzählt
sie. Nur wenige Minuten später sei die Entscheidung gefallen. „Und wir
gingen hinaus und weinten.“
Die Entscheidung schwächte die feministische Bewegung nachhaltig. „Es gab
zwar eine kraftvolle Demonstration im Anschluss“, sagt Herrera, „aber
danach folgte für mehrere Jahre eine Stille.“ Warum? „Ich denke, es gab
eine Selbstzensur, aus Angst, dass wir selbst verurteilt werden.“
Morena Herrera ließ sich jedoch nicht entmutigen. Sie untersuchte weiter
Fälle, schloss Netzwerke und trieb zusammen mit internationalen
Unterstützer:innen Untersuchungen voran.
So lernte sie 2006 erstmals eine Frau kennen, die eine 30-jährige
Haftstrafe aufgrund eines Schwangerschaftsabbruchs verbüßte. Mithilfe einer
argentinischen Anwältin und Untersuchungen der Universität von Granada
konnten sie den Fall vor Gericht neu aufrollen und juristisch darlegen,
dass es sich nicht um Mord, sondern um einen gynäkologischen Notfall
handelte. Die Frau wurde 2009 vorzeitig entlassen. Es war der erste große
Durchbruch.
Die Gruppe um Herrera wuchs danach stetig, der Großteil des rund
15-köpfigen Teams arbeitet ehrenamtlich, bis auf eine Festangestellte.
Mithilfe der Unterstützung des Kollektivs wurden inzwischen 181 Frauen
betreut und davon 77 aus der Haft befreit.
Ihr größter Erfolg: Das Urteil im Fall „Manuela und andere vs. El
Salvador“. Ein Fall, der in den vergangenen Jahren zum Symbol für
Frauenrechte in dem zentralamerikanischen Land wurde.
## Manuela stirbt im Gefängnis an Krebs
Manuela, der zum Schutz öffentlich ein anderer Name gegeben wurde, ist eine
Frau, die aus einer armen, ländlichen Gegend kam. Sie war Analphabetin,
lebte mit ihrer Familie in prekären Verhältnissen. Auch sie war zuvor wegen
schwerer Tötung an ihrem Neugeborenen inhaftiert worden. Am 28. Februar
2008 hatte die Polizei die Leiche des Babys in einer Klärgrube nahe ihrem
Haus gefunden. Umgebracht hatte sie es nicht, das Kind war bereits tot, als
es auf die Welt kam. Dennoch wurde auch Manuela zu 30 Jahren Gefängnis
verurteilt. Noch zwei Jahre lebte sie in Gefangenschaft, bevor sie 2010,
mit Handschellen an das Krankenhausbett gefesselt, an Lymphkrebs verstarb.
Im [10][November 2021] urteilte der Interamerikanische
Menschenrechtsgerichtshof nach einer über zweijährigen Prüfung: Der Staat
hat sich schuldig gemacht in der Verletzung persönlicher Freiheit, der
Gleichheit vor dem Gesetz, des Rechts auf Leben und Persönlichkeit sowie
der Verletzung der Unversehrtheit, des Privatlebens und der Gesundheit von
Manuela. Zum ersten Mal wird der Staat von einem internationalen Gericht
für die Verletzung der Menschenrechte durch das rigide Abtreibungsgesetz
verurteilt. [11][Die BBC spricht] von einem „historischen Urteil“.
In dem dreizehnseitigen [12][Urteil] des Interamerikanischen
Menschenrechtsgerichtshofs zum Fall Manuela heißt es, die
Sicherheitsverwahrung sei „willkürlich“ gewesen und habe das Recht auf
Unschuldsvermutung verletzt. Außerdem sei das Fehlen einer ordnungsgemäßen
Prüfung des Falles auf „Vorurteile und negative Geschlechtsstereotype“
zurückzuführen. Weiter heißt es, „Manuela wird ab dem Moment, ab dem sie
medizinische Versorgung braucht, diskriminiert. Vom Staat erhält sie weder
medizinische Behandlung noch widerfährt ihr Gerechtigkeit“.
Es sind vor allem Frauen in Armut, die unter dem Gesetz leiden. Oftmals
leben sie in ländlichen Gebieten, sind unterernährt, ohne Zugang zu
fließendem Wasser. Private Krankenversicherungen sind teuer, die staatliche
Versorgung ist mangelhaft. Weil sie kaum Zugang zu medizinischer Versorgung
haben, erleiden sie öfter gynäkologische Notfälle oder Fehlgeburten.
[13][Die wenigsten können sich eine medizinische Betreuung] der
Schwangerschaft überhaupt leisten.
Und auch Frauen, die eine Schwangerschaft bewusst abbrechen wollen, haben
es schwer. Unbegleitete Abbrüche können lebensgefährlich ein. [14][Laut der
WHO zählen illegalisierte Abtreibungen] zu den Gründen, die am häufigsten
zu Müttersterblichkeit führen. Jedes Jahr sterben demnach bis zu 13,2
Prozent der Schwangeren wegen unsicherer Abtreibungen. Für El Salvador gibt
es keine Statistik, die die Toten zählt. Zu oft passieren die Eingriffe im
Geheimen. Zum Beispiel mit einem verbogenem Kleiderbügel, die sich die
Schwangeren vaginal einführen. Viele verbluten dabei.
Es gebe zwar klandestine Netzwerke, um an Medikamente für
Schwangerschaftsabbrüche zu kommen, aber die wenigsten Frauen hätten zu
diesen überhaupt Zugänge, sagt Morena Herrera. Die Eingriffe seien teuer,
oftmals mehr als tausend Dollar. Solange Schwangerschaftsabbrüche verboten
bleiben, zwingt es die Frauen daher in eine gefährliche Illegalität.
Herrera sagt: „Das Abtreibungsverbot in El Salvador tötet Frauen.“
El Salvador ist ein extrem konservatives Land, in dem sowohl die
katholische Kirche als auch evangelikale Fundamentalisten massiven Einfluss
auf die Politikgestaltung des Landes haben. Etwa [15][die Hälfte der
Bevölkerung] identifiziert sich als katholisch, rund 33 Prozent als
evangelisch.
Anhänger der sogenannten Lebensschutzbewegung und Anti-Abtreibungs-Lobby
sind auch im Parlament breit vertreten. Schwangerschaftsabbrüche, so der
Glaube, seien in jedem Fall der Mord an ungeborenem Leben. Egal, ob das
Leben der Schwangeren dabei selbst gefährdet ist oder sie das Kind gegen
ihren Willen verliert.
Erst im Oktober 2021 hatte die gesetzgebende Versammlung einen [16][Antrag
auf eine Reform] des Abtreibungsgesetzes abgelehnt, die die
Zivilrechtsgruppe rund um Morena Herrera eingereicht hatte. Es war die
vierte Initiative, die dem Kongress seit 1998 vorgelegt wurde. Von 84
Abgeordneten lehnten 73 die Reform ab.
Gestützt werden diese Fundamentalisten von Präsident Bukele. Nachdem er
wegen Spaltungsvorwürfen aus der linken FMLN-Partei rausgeworfen wurde,
trat der 40-Jährige in die Mitte-rechts-Partei Gana ein – und gewann mit
ihr den Wahlkampf. Er präsentiert sich als liberaler Reformer des Landes,
regiert jedoch mit autoritärem Politikstil und konservativen Ansichten.
Im September 2021 postete Bukele auf [17][seiner offiziellen
Facebook-Seite], ein klares Statement zur Reformdebatte: „Ich habe mich
entschieden, damit es KEINEN ZWEIFEL gibt, keinerlei Reformen für KEINEN
ARTIKEL vorzuschlagen, der mit dem RECHT AUF LEBEN (ab dem Moment der
Empfängnis) zu tun hat, mit der Ehe (dem klassischen Konzept folgend, EIN
MANN UND EINE FRAU) oder mit Euthanasie“ (frei übersetzt, Hervorhebungen im
Original, Anm. d. Autorin).
Doch das Urteil im Fall Manuela zwingt Bukeles Regierung nun erstmals zum
Handeln. Das Gericht wies den Staat an, die internationale Verantwortung in
einem öffentlichen Akt anzuerkennen. Außerdem soll er sich zur
Vertraulichkeit von Krankenakten verpflichten, Leitfäden für gynäkologische
Behandlungen entwickeln. Und: Er muss seine Abtreibungsgesetze nun doch
reformieren. Gynäkologische Notfälle, so das Gericht, dürften nicht
automatisch strafrechtliche Konsequenzen haben.
Der Staat hat bislang jedoch nicht auf das Urteil reagiert. Präsident Nayib
Bukele schweigt. Und das Gesetz bleibt.
Für Morena Herrera ist das Urteil dennoch ein Meilenstein. „Die Kommission
hat anerkannt, dass Manuela einen gynäkologischen Notfall hatte“, sagt sie.
„Außerdem wird anerkannt, dass das Problem in der Anwendung der Gesetze
liegt.“ Es sei ein großer Erfolg, dass das Bild von Manuela, die zuvor als
untreue Kindermörderin galt, bereinigt wird – auch für ihre Familie sei
diese Entkriminalisierung wichtig.
Der Fall eröffne Möglichkeiten für andere Frauen, um ihre Rechte zu
kämpfen. „Auch wenn es der Regierung nicht gefällt: Hier wurde der Staat
als Ganzes verurteilt. Er ist verantwortlich und wird handeln müssen.“
## Beatriz: Ihr Fall kann das Land verändern
Ein weiterer Fall gibt Herrera Grund zur Hoffnung. Im Fall „Beatriz“ prüft
der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof derzeit, ob El Salvador
sich auch in diesem Fall am Verstoß gegen Menschenrechte schuldig gemacht
hat. Wie kein anderer forderte dieser das salvadorianische Justizsystem
heraus. Ein Urteil gegen den Staat könnte den Wendepunkt in der
Gesetzgebung bedeuten.
Beatriz selbst lebt nicht mehr. Doch der Arzt, der sie behandelte, spricht
bereitwillig über den Fall. Doktor Guillermo Ortiz Opas hat inzwischen das
Land verlassen. Zu massiv waren die Anfeindungen gegen ihn und seine
Familie, zu sehr zweifelte er an dem medizinischen Ethos im Land. Als er
ein Jobangebot in den USA bekam, überlegte er nicht lange und wanderte aus.
Das Interview findet per Zoom statt. In einem roten Poloshirt, mit grauem
Bart und schwarzer Hornbrille sitzt er in seinem neuen Zuhause in North
Carolina vor dem Computer.
Ortiz ist ein erfahrener Arzt. 25 Jahre lang arbeitete er als Gynäkologe in
der Frauenklinik in San Salvador, war zuletzt Chef der Geburtshilfe.
Außerdem lehrte er als Professor an der Universität. Viele Schwangere kamen
in seine Klinik und baten um Hilfe. Junge Frauen, die vergewaltigt worden
waren, minderjährige Mädchen, Frauen, die kein Kind hätten versorgen
können. Aber auch gynäkologische Notfälle. „Ich wusste, was ich hätte tun
müssen, um ihnen zu helfen“, sagt Ortiz. „Aber das Gesetz hat es mir
verboten.“ Er fühlte sich wie ein Krimineller, versuchte, einen Teil seiner
Arbeit zu verstecken, erzählt er.
Ob er verbotene Abtreibungen vorgenommen hat? „Ich habe versucht, Frauen zu
helfen, egal in welcher Situation“, sagt Ortiz. „Sonst wären viele Frauen
gestorben.“ Mehr will er nicht sagen.
Noch bevor er Beatriz behandelte, prägte ihn ein anderer Fall. Es ist 2012,
als ein 17-jähriges Mädchen mit einer Nierenkrankheit zu ihm in die Klinik
kommt. Sie ist in der 22. Woche ungewollt schwanger, ihr Körper in
schlechter Verfassung. „Ich wusste: Wenn sie nicht abtreibt, wird sie
sterben“, erzählt Ortiz. Die Eltern jedoch entscheiden sich dagegen, aus
Angst, ins Gefängnis zu kommen. Wenn Ortiz diese Geschichte erzählt, dann
kommen ihm die Tränen. Am nächsten Morgen, es war ein Freitag, daran
erinnert er sich genau, wird er früh ins Krankenhaus gerufen. Ihr Zustand
ist schlecht. „Sie ist in meinen Armen gestorben“, sagt Ortiz. „Und sie
würde noch leben, wenn sie abgetrieben hätte.“
Für Ortiz war es ein Wendepunkt. Nie wieder dürfe so etwas passieren,
dachte er.
2013 kam Beatriz in das Krankenhaus. Ihr eigentlicher Name ist anders, zu
ihrem Schutz wird auch sie öffentlich anders genannt. Der taz liegt der
richtige Name vor, ihr Facebook-Profil ist noch immer online. Inzwischen
ist Beatriz an den Folgen eines Verkehrsunfalls gestorben.
Als sie zu Doktor Ortiz kommt, ist Beatriz 20 Jahre alt und in der 12.
Woche schwanger. Der Fötus jedoch ist unterentwickelt, ohne Gehirn. Es ist
klar, dass er außerhalb des Uterus nicht überleben würde.
Und auch Beatriz war in Lebensgefahr. Mit 18 wurde bei ihr die
Autoimmunerkrankung Lupus diagnostiziert. [18][Ihr Körper war schwach,]
schon ihre erste Schwangerschaft löste bei ihr die lebensbedrohliche
Erkrankung Präeklampsie mit Bluthochdruck aus. Damals überlebte ihr Sohn,
doch diesmal war es anders. Ein medizinisches Komitee aus 13
Fachärzt:innen unter der Leitung von Doktor Ortiz war sich sicher: Der
Fötus würde eine Geburt nicht überleben. Und Beatriz würde während der
Schwangerschaft sterben.
Aber sie wollte leben.
„Eine geheime Abtreibung war nicht möglich, weil alle von dem Fall
wussten“, sagt Doktor Ortiz. Der juristische Weg war der einzig mögliche.
Ortiz überredete den Klinikdirektor und andere Kolleg:innen, ihn zu
unterstützen. Sie schrieben Briefe, an den Gesundheitsminister, an das
Menschenrechtsbüro. Die einzige Antwort, so erzählt es Ortiz: „Wir können
euch nicht helfen.“
Deshalb riet er Beatriz, ihn auf unterlassene Hilfeleistung zu verklagen.
Er und die Anwälte sahen darin den einzigen juristischen Weg, sie zu
retten. Wenn das Gericht entschied, dass Dr. Ortiz ihr helfen müsse, dann
müsste es auch anordnen, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen. „Es
war eine schlimme Zeit für mich“, erzählt der Arzt heute. „Ich wurde
angegriffen, im Krankenhaus wollte niemand mit mir sprechen, weil niemand
mit dem Fall zu tun haben wollte.“
Am 11. April 2013 reicht Beatriz die Klage ein. Sie fühlt sich immer
schwächer. Die Zeit wird knapp, denn es ist klar, dass der
Gesundheitszustand ab der 28. Schwangerschaftswoche noch schlechter würde.
81 Tage später die Entscheidung: Eine Abtreibung ist und bleibt illegal.
Er will ihr helfen – also entscheidet er sich für einen minimal invasiven
Kaiserschnitt, um den Fötus zu entfernen. Der Eingriff gelingt. Beatriz
überlebt, der Fötus stirbt fünf Stunden später. Verurteilt wird niemand.
Ortiz hatte, in dem er das Baby durch Kaiserschnitt lebend zur Welt
brachte, einen Weg gefunden, die Illegalität zu umgehen.
„Ich mache nichts Falsches“, sagt Ortiz, als würde er sich das selbst
versichern müssen. Ortiz hat diese Geschichte schon Dutzende Male erzählt.
Und dennoch wühlt sie ihn noch immer auf. „Ich weiß, dass ich Frauen helfe.
Sie würden sonst sterben.“
Der Fall Beatriz erweckte internationale Aufmerksamkeit. [19][Am 29.
November 2013] reicht sie Beatriz mit der Unterstützung des Colectiva
Feminista beim Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof Klage gegen
den Staat El Salvador ein. Sie fordert Wiedergutmachung für das, was sie
aufgrund des verzögerten Schwangerschaftsabbruchs hat erleiden müssen. Und
sie will eine Reform des Abtreibungsgesetzes.
Am 7. September 2017 erklärt die Internationale Menschenrechtskommission,
die die Fälle für das Gericht prüft, die Klage für zulässig. In dieser Zeit
plant Beatriz auch, das Land, das ihr so viel Sorge und Leid angetan hat,
zu verlassen. Einen Monat später jedoch stirbt sie an den Folgen eines
Motorradunfalls.
Ihr Fall aber geht weiter, bis heute. Vier Jahre und vier Monate später, am
12. Januar 2022, veröffentlichte die Interamerikanische
Menschenrechtskommission eine Meldung: Sie habe die Klage an den
Gerichtshof weitergeleitet. [20][Die Begründung:] El Salvador hat das Recht
auf Leben, menschliche Behandlung, juristischen Schutz, Privatsphäre,
Gleichheit vor dem Gesetz und Gesundheit verletzt. Außerdem habe der Staat
Artikel 1 und 6 der Interamerikanischen Konvention zum Schutz vor Folter
und Artikel 7 der Belém-Konvention zum Schutz der Frauenrechte verletzt.
Eine öffentliche Anhörung des Interamerikanischen
Menschenrechtsgerichtshofs im Fall Beatriz wird für die kommenden Monate
erwartet, eine Entscheidung kann noch einige Jahre dauern. Sollte El
Salvador verurteilt werden, wäre es das zweite Mal, dass sich das Land an
Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig macht. Der Handlungsdruck
steigt.
Auch der Kampf um die Rechte der Inhaftierten geht weiter. Unter dem Slogan
„#NosFaltanLas17“, zu Deutsch „Uns fehlen noch 17“, machen die
feministischen Aktivistinnen und Aktivisten auf die noch immer
unrechtmäßig Inhaftierten aufmerksam. [21][Auch Prominente wie Milla
Jovovich] beteiligen sich an der Kampagne zur Freilassung der Betroffenen.
Immer wieder verzeichnen sie Erfolge.
Die befreiten Frauen leiden jedoch noch immer an den Folgen ihrer
Verurteilung. Cinthia Marcela Rodríguez Ayala verkauft heute T-Shirts am
Straßenrand. „So wie dieses hier“, sagt sie und zeigt auf das weiße Shirt,
das sie trägt, mit dem Minnie-Maus-Aufdruck. Sie hätte gerne einen anderen
Job. Aber sie darf nicht. Weil sie noch immer als Straftäterin gilt.
Die aus der Haft befreiten Frauen werden nicht vom Staat entschädigt. Vor
dem Gesetz bleiben sie alle Kindermörderinnen. „Aber dieses Gesetz wird
sich ändern“, ist sich Frauenrechtsaktivistin Morena Herrera sicher. „Es
ist rückschrittlich, unfair und menschenrechtswidrig.“
5 Feb 2022
## LINKS
[1] https://elpais.com/elpais/2021/06/27/album/1624807111_694936.html#foto_gal_1
[2] http://www.womeninandbeyond.org/?p=19983
[3] http://www.womeninandbeyond.org/?p=19983mens-prison-el-salvador
[4] https://www.nytimes.com/2012/03/14/world/americas/in-latin-america-prisons-…
[5] https://sv.boell.org/sites/default/files/2020-12/Del%20hospital%20a%20la%20…
[6] https://cyber.harvard.edu/population/abortion/Elsalvador.abo.htm
[7] https://vidaelsalvador.files.wordpress.com/2019/06/8-expediente-cinthia-mar…
[8] /Urteil-wegen-Abtreibung-in-El-Salvador/!5579086
[9] https://www.dw.com/es/el-salvador-liberadas-tras-casi-diez-a%C3%B1os-encarc…
[10] https://www.corteidh.or.cr/docs/tramite/manuela_y_otros.pdf
[11] https://www.bbc.com/mundo/noticias-america-latina-59486278
[12] https://www.corteidh.or.cr/docs/casos/articulos/seriec_441_esp.pdf
[13] https://www.nytimes.com/2015/03/03/opinion/el-salvador-and-las-17.html
[14] http://xn--Laut%20der%20WHO%20zhlen%20illegalisierte%20Abtreibungen-y3d
[15] https://sv.usembassy.gov/es/our-relationship-es/official-reports-es/sv-iil…
[16] https://www.vozdeamerica.com/a/elsalvador-cierra-puertas-legalizar-aborto/…
[17] https://www.facebook.com/photo?fbid=410998683718274&set=a.286130496205…
[18] https://colectivafeminista.org.sv/2017/11/01/beatriz-cambio-la-sociedad-sa…
[19] https://cejil.org/comunicado-de-prensa/corte-interamericana-de-derechos-hu…
[20] https://www.oas.org/en/iachr/jsForm/?File=%2Fen%2Fiachr%2Fmedia_center%2Fp…
[21] https://www.youtube.com/watch?v=-4in_mdTC44
## AUTOREN
Sarah Ulrich
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Lesestück Recherche und Reportage
El Salvador
Reproduktive Rechte
Schwerpunkt Abtreibung
Fehlgeburt
Menschenrechte
Frauenrechte
Gefängnis
GNS
Podcast „Vorgelesen“
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Anti-Feminismus
Schwerpunkt Abtreibung
El Salvador
Guatemala
El Salvador
Schwerpunkt Paragraf 219a
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ein Drittel.
Angeklagt wegen einer Abtreibung: Freispruch für Imelda Cortez
El Salvador hat eines der strengsten Abtreibungsverbote der Welt. Eine
junge Frau, die deshalb wegen versuchten Mordes angeklagt war, wurde nun
freigesprochen.
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