# taz.de -- Repression gegen Oppositionelle: Treiber des Wandels | |
> Je freier die Zivilgesellschaft agieren kann, desto fortschrittlicher die | |
> Gesellschaft. Doch wie steht es um die Freiheit des „Civic Space“ | |
> weltweit? | |
Bild: Die Wet’suwet’en-Indigenen kämpfen gegen den Bau einer Gaspipeline d… | |
Mal landet eine Droh-E-Mail im Postfach, mal kommen nachts Bewaffnete ins | |
Haus. Mal werden Demonstrierende vor laufenden Kameras zusammengeschlagen, | |
mal geschieht dies im Verborgenen. Es trifft weltberühmte Künstler genauso | |
wie Kleinbauern, die außerhalb ihres Dorfs niemand kennt. Es passiert in | |
Staaten, in denen nie ernsthaft eine Wahlurne aufgestellt wird, aber auch | |
in Brüssel, Rom und Budapest. Manche der Opfer lesen in der Zeitung, sie | |
seien „ausländische Agenten“, bei anderen bleibt die Bankkarte im Automaten | |
stecken, weil ihr Konto gesperrt wird. Wieder andere werden angeklagt, am | |
Handy bedroht oder verschwinden und tauchen nie wieder auf. | |
Repression ist so vielfältig wie uferlos. Sie kann tödlich sein, auch wenn | |
Menschen Selbstverständliches einfordern: den Rücktritt korrupter | |
Politiker, Klimaschutz, Wahlen. Oder das Land, auf dem eine Familie lebt, | |
nicht für eine zerstörerische Pipeline hergeben zu müssen. | |
Wie die [1][Wet’suwet’en-Indigenen in Kanada]: Durch deren Territorium soll | |
die Coastal-GasLink-Pipeline führen, um Erdgas nach Asien zu exportieren. | |
Als die Indigenen sich weigerten, dafür eine ihrer Siedlungen zu räumen, | |
rückten am 26. November Sondereinheiten mit Kettensäge und Automatikgewehr | |
an, um sie aus ihren Hütten zu holen und ins Gefängnis zu bringen. | |
„Aktivisten zum Schweigen zu bringen, ist eine Taktik der Regierenden, um | |
Maßnahmen gegen den Klimawandel zu umgehen“, sagt Marianna Barreto von der | |
NGO Civicus. Die dokumentiert, wie es um die Freiheit der globalen | |
Zivilgesellschaft bestellt ist. Klimabezogene Proteste sind demnach zu | |
einem der wichtigsten Ziele von Repression geworden. Das kommt nicht von | |
ungefähr. „Die Zivilgesellschaft ist der einzige verlässliche Motor, der | |
die Institutionen dazu bringt, sich im erforderlichen Tempo zu verändern“, | |
schrieb schon 2018 der UN-Weltklimarat. | |
Hierzulande gehen „Querdenker“ auf die Straße, getrieben vom Hass [2][auf | |
eine halluzinierte „Corona-Diktatur“]. Echte Diktaturen wissen Corona | |
derweil für sich zu nutzen. Als in Niger ein gigantischer | |
Korruptionsskandal beim Militär ruchbar wurde, verbot die Regierung | |
Proteste mit Verweis auf Corona – während das übrige öffentliche Leben | |
ungehindert weiterlief. Als dennoch demonstriert wurde, griff das Militär | |
ein, vier Menschen starben. „Durch die Pandemie haben repressive | |
Regierungen einen weiteren Vorwand gefunden, um ihre Angriffe auf die | |
Zivilgesellschaft fortzusetzen“, sagt Theresa Bergmann von Amnesty | |
International. | |
## 331 ermordete Aktivisten | |
Schon vor der Pandemie hatten soziale Bewegungen es auch deshalb schwer, | |
weil nationalistische, autoritäre Regierungen auf dem Vormarsch waren. Ob | |
dies anhält, ist offen. In Südamerika deutet sich [3][nicht erst seit der | |
Wahl in Chile] ein Linksschwenk an. In Afrika haben Massenproteste den | |
Wunsch nach demokratischer Veränderung immer deutlicher gemacht, in Europa | |
ist der Kampf zwischen Populisten und liberaleren Akteuren weiter | |
unentschieden. | |
Wie wird es 2022 weitergehen? Welche Formen werden Repression und | |
Überwachung annehmen, wenn sich die sozialen Folgen der Pandemie noch | |
schärfer zeigen und die Konflikte um die Bewältigung der Klimakrise | |
zunehmen? | |
[4][Im neuen Ampel-Koalitionsvertrag] sind Menschenrechte als Orientierung | |
für ihre Innen- und Außenpolitik festgeschrieben. Rüstungsexporte sollen | |
konsequenter kontrolliert, der Export von Überwachungssoftware an | |
„repressive Regime“ gestoppt werden. Es wäre kein schlechtes Signal. | |
Denn dass autoritäre Regime sich oft halten können, liegt auch am höchst | |
disparaten Verhalten des Westens. „Würde ich nur mit Demokraten reden, wäre | |
meine Arbeitswoche immer schon Dienstag zu Ende“, sagte | |
Ex-EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker einmal. Die Frage ist, was | |
man den Übrigen im Rest der Woche sagt – und wie die Ampel dies in Zukunft | |
halten wird. | |
Unter dem bisherigen SPD-Außenminister Heiko Maas variierte Deutschlands | |
Linie – ebenso wie jene der EU – stark, je nach Interessenlage. Die | |
Diktatur in Belarus etwa wird sanktioniert, Russland nach der Annektion der | |
Krim ebenso. Die Türkei hingegen bekommt Waffen für ihren Feldzug gegen die | |
Kurden, Saudi-Arabien darf Journalisten im Konsulat ohne jede Spur von | |
Konsequenzen zersägen. In Togo regiert die älteste Diktatur Afrikas. Als | |
die Herrscherfamilie 2020 monatelange Protesten aussaß und sich weigerte, | |
die Macht nach 53 (!) Jahren abzugeben, gratulierten Staaten wie | |
Deutschland und Frankreich zur „Wiederwahl“ – und verwiesen auf | |
„Stabilität“. | |
All das hat Folgen für die Zivilgesellschaft vor Ort. Wo internationaler | |
Druck fehlt, geht es ihr umso schneller an den Kragen. | |
2020 registrierte [5][die NGO Frontline Defenders] weltweit mindestens 331 | |
ermordete Menschenrechtsaktivisten – rund 70 Prozent waren im Bereich | |
Ökologie und Landrechte aktiv. Neben Staaten sind auch Unternehmen, mafiöse | |
Banden oder islamistische Gruppen für diese Morde verantwortlich – die | |
wiederum umso eher mit dem Staat verwoben sind, je geschwächter Justiz, | |
Medien und soziale Bewegungen sind. | |
## Diktaturen und semiautoritäre Staaten | |
Für den Raum, in dem all dies sich abspielt, hat sich ein Begriff | |
etabliert: Civic Space, der „Raum der Zivilgesellschaft“. Zu dieser zählt | |
alles, was weder dem Staat, wirtschaftlichen Unternehmen noch dem Privaten | |
zuzurechnen ist. Der Civic Space ist ein Raum politischer Freiheit. Und so | |
amorph die globale Zivilgesellschaft ist: Sie ist der Treiber politischen | |
Wandels. Schrumpft ihre Handlungsfreiheit, erstarrt die Gesellschaft, | |
Mächtige werden nicht zur Verantwortung gezogen. Dann bleiben oder werden | |
Regierungen korrupt, autoritär, dysfunktional, mafiös. | |
„Der Ruf nach Veränderung bringt soziale Bewegungen weltweit in die | |
Schusslinie“, sagt Lysa John, die Generalsekretärin von [6][Civicus]. Die | |
NGO klassifiziert die Staaten der Welt laufend nach dem Grad politischer | |
Freiheit. Insgesamt lebten 2021 demnach nur etwa 250 Millionen Menschen in | |
40 Staaten, die uneingeschränkte Freiheiten gewähren, darunter Deutschland | |
oder Portugal. | |
Sechs von zehn Menschen leben in Ländern, die staatsbürgerliche Freiheiten | |
teils stark einschränken – darunter Polen und Ungarn. Vollständig | |
„geschlossen“ ist der Civic Space für 2,1 Milliarden Menschen in 25 | |
Staaten, in denen zivilgesellschaftliches Handeln fast komplett unterbunden | |
wird – darunter China, Syrien oder Ägypten, wo Protestierende mit langer | |
Haft oder Ermordung rechnen müssen. | |
Diktaturen kennzeichnet, den Civic Space zu schließen. Semiautoritäre | |
Staaten lassen manches laufen und zerschlagen nur, was der Regierung nicht | |
passt. Demokratien hingegen begreifen Zivilgesellschaft als Teil ihrer | |
selbst und fördern sie. So die Theorie. Doch die Civicus-Daten zeigen auch: | |
In 16 der 27 EU-Staaten werden die Freiheitsrechte eingeschränkt – etwa in | |
Italien, das gegen Seenotretter vorgeht, oder in Polen, das die Justiz zum | |
Erfüllungsgehilfen einer Partei degradiert. Dreizehn Staaten rutschten 2021 | |
im Civicus-Ranking stark ab, darunter Polen, die USA, Belarus, Hongkong und | |
Südafrika. In dem Land starben im Sommer über 350 Menschen, als das Militär | |
Massenproteste auflöste. | |
Wo die zivilgesellschaftliche Freiheit erodiert, wachsen Armut und | |
Ungleichheit. Kämpfe um gerechte Löhne, Arbeitsrechte, gegen Korruption und | |
für funktionierende staatliche Dienstleistungen sind umso wirksamer, je | |
freier die Zivilgesellschaft ist. | |
Das ist messbar: Wo der Civic Space „offen“ ist, liegt der Human | |
Development Index – ein statistisches Maß für die soziale Entwicklung – im | |
Schnitt bei 0,82. In Staaten mit „unterdrückter“ Zivilgesellschaft fällt … | |
meist Richtung 0,5. Ebenso verhält es sich mit der Einkommensverteilung: Je | |
mehr politische Freiheit, desto gleichmäßiger ist das Einkommen innerhalb | |
einer Gesellschaft verteilt. | |
536 Meldungen über Angriffe auf die Zivilgesellschaft hat Civicus zuletzt | |
ausgewertet. Sie sind nicht repräsentativ, zeigen aber klare Muster der | |
Repression. Besonders verbreitet ist demnach die staatliche Zensur von | |
Medien – einschließlich der Kontrolle des Internets und der sozialen | |
Medien. | |
2021 wurden laut Reporter ohne Grenzen 44 Journalisten, deren Mitarbeiter | |
und Blogger getötet, 489 sitzen in Haft. Donald Trumps | |
„Kommunikationsmodell, Journalisten als ‚Staatsfeinde‘ zu betrachten, wur… | |
durch den Aufstieg des Populismus in Europa neu belebt“, schreibt die | |
serbische Kommunikationswissenschaftlerin Milica Kulić. Kürzlich wurde | |
bekannt, dass die „Pegasus“ genannte Spionagesoftware des israelischen | |
Unternehmens NSO Group an viele Staaten verkauft wurde, um Journalisten | |
auszuforschen. Auch das BKA und der BND setzen sie ein. | |
Front Line Defenders berichtete jüngst, wie Aktivisten, die gegen ein | |
Wasserkraftwerksprojekt in Chile protestieren, überwacht werden. Der | |
Kraftwerksbetreiber beauftragte eine „Sicherheitsfirma“, Whatsapp- und | |
Facebook-Chats zu infiltrieren. Sie rechtfertigte dies damit, dass die | |
Aktivisten „Ökoterroristen“ seien. „Den Terrorismusbegriff missbrauchen | |
Regierungen und Konzerne, um jene zu diffamieren, die Sozialabbau und | |
Umweltzerstörung nicht hinnehmen wollen“, schreibt Civicus. Der Begriff | |
„Ökoterrorist“ bringe Klimaaktivisten monatelang für Dinge in Haft, die | |
sonst mit einem Bußgeld erledigt wären, schreibt die kanadische | |
Klimastreikorganisatorin Aliénor Rougeot. Der Umgang mit den | |
Pipeline-Protesten der Wet’suwet’en-Indigenen etwa sei ein | |
„Lehrbuchbeispiel für Kriminalisierung“ nach dem Muster: Diffamierung – | |
Kriminalisierung – Entrechtung. | |
Werden solche Strategien die globalen Kämpfe um Demokratie, Ökologie, | |
soziale und Geschlechtergerechtigkeit am Ende niederschlagen? Kaum. Die | |
historische Erfahrung zeigt, dass auch die härteste Repression Wandel immer | |
nur herausgezögert hat. Die italienische Arbeiterbewegung der 1970er Jahre | |
hatte dafür eine einleuchtende Erklärung: Die Handlungen des Kapitals seien | |
nur als Reaktionen auf den Kampf der Arbeiter zu begreifen, nicht | |
umgekehrt. Soziale Kämpfe sind demnach naturgemäß in der Offensive. Ein | |
ermutigender Gedanke. | |
27 Dec 2021 | |
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[5] https://www.frontlinedefenders.org/ | |
[6] https://www.civicus.org/ | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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