| # taz.de -- Femizide in Guatemala: Der eigene Körper gegen die Gewalt | |
| > In Guatemala gab es in den letzten sechs Jahren 3.595 Femizide. Meist | |
| > blieben sie ungestraft. Feminist:innen kämpfen gegen diese | |
| > Straffreiheit. | |
| Bild: Demo in Guatemala-Stadt am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen 2021 | |
| Guatemala-Stadt taz | Luz María López Morales war auf dem Weg zur Arbeit, | |
| als sie am Morgen des 20. Januar 2021 verschwand. López Morales war 25 und | |
| Kriminalistin bei der guatemaltekischen Staatsanwaltschaft. Sie arbeitete | |
| vor allem mit Kindern, die Opfer von Gewalt geworden waren. Zwei Tage nach | |
| ihrem Verschwinden fand die Stadtreinigung ihre Leiche wenige Kilometer von | |
| ihrem Arbeitsort entfernt in einem Abwasserkanal in Guatemala-Stadt, | |
| eingepackt in Plastikfolie. | |
| Der Mord an Luz María López Morales ist laut Polizeistatistik einer von | |
| 3.595 Femiziden in Guatemala zwischen 2015 und 2021. [1][Femizide, das sind | |
| Morde an Frauen, die aufgrund ihres Geschlechts getötet werden]. Allein | |
| 2021 gab es hier mindestens 466 Femizide. Zum Vergleich: In Deutschland | |
| waren es laut einer Statistik des Bundeskriminalamts 139 Morde im gesamten | |
| Jahr 2020. | |
| Die Anzahl an weiteren Gewalttaten gegen Frauen in Guatemala ist noch viel | |
| höher: 2021 wurden bislang 57.899 Delikte gegen Frauen und Mädchen beim | |
| Ministerium für öffentliche Angelegenheiten gemeldet, darunter | |
| sexualisierte Gewalt, psychische und physische Gewalt. Etwa 230 | |
| Gewaltdelikte gegen Frauen zählt die Statistik pro Tag. Rund 20 Prozent | |
| davon richten sich gegen Kinder. | |
| Insbesondere für trans Frauen sind die Hürden einer Anzeige von | |
| geschlechtsspezifischer Gewalt gegen sie hoch. Denn in Guatemala werden sie | |
| nicht als Frauen anerkannt, ein entsprechendes Gesetz gibt es nicht. Laut | |
| der [2][Organisation Otrans] wurden 2021 bislang 179 Fälle der Gewalt gegen | |
| trans Frauen gemeldet. | |
| Die Dunkelziffer in all diesen Fällen ist zweifelsohne höher. Denn die | |
| Daten sind fehlerhaft. „Wir haben erschreckende Zahlen – aber in der | |
| Realität sind diese nur die Spitze des Eisbergs“, sagt Silvia Trujillo. | |
| Die in Uruguay geborene Soziologin ist eine der wichtigsten Stimmen der | |
| Frauenrechtsbewegung in Guatemala, wo sie seit 20 Jahren lebt. Trujillo hat | |
| zahlreiche Analysen zur Gewalt gegen Frauen verfasst, ist Redakteurin bei | |
| einem feministischen Magazin und lehrt an der Universität. | |
| ## Die Staatsanwaltschaft macht sich mitschuldig | |
| Sie erklärt, dass jede Behörde ihre eigenen Register hat: die Polizei, die | |
| Staatsanwaltschaft, Krankenhäuser, das forensische Institut. Was aber | |
| fehlt, ist ein zentrales Register, in dem die Taten zusammengezählt werden. | |
| Das Institut für Statistik bemüht sich zwar darum, kommt aber mit der | |
| Aufarbeitung der Daten nicht hinterher. | |
| Trujillo sagt, die Gewalt gegen Frauen in Guatemala sei zwar sehr explizit, | |
| weil es kaum eine Frau gebe, die sie nicht betreffe, aber sie werde | |
| gesellschaftlich noch immer geleugnet. „Es gibt ein sehr hohes Level an | |
| Straffreiheit.“ Letzte Berechnungen einer unabhängigen UN-Kommission gegen | |
| Straffreiheit stammen aus dem Jahr 2015. In dem Bericht steht: In 97 | |
| Prozent der Fälle wird die Gewalt gegen Frauen in Guatemala nicht bestraft. | |
| Bei sexualisierter Gewalt sind es sogar 99 Prozent. | |
| „Auch wenn es Strafgesetze gibt, die die Gewalt gegen Frauen anerkennen, | |
| wird der Staat dennoch nicht tätig“, sagt Trujillo. Mindestens zwei Jahre | |
| müsse eine Frau darauf warten, dass ihr Fall überhaupt von der | |
| Staatsanwaltschaft beantwortet wird. Und es gibt Frauen, die seit 30 Jahren | |
| auf eine Antwort warten. „Die Botschaft, die der guatemaltekische Staat | |
| damit inoffiziell an die Täter sendet, ist: Du hast die Genehmigung, denn | |
| dir wird nichts passieren.“ | |
| Die Straffreiheit gegen die Täter steht im Zentrum der Anklage | |
| feministischer Aktivist:innen. Einen Tag vor dem 25. November 2021, dem | |
| Internationalen Tag für die Abschaffung der Gewalt gegen Frauen, haben | |
| einige von ihnen das Gebäude der Staatsanwaltschaft mit roter Farbe und dem | |
| Satz „Ni una menos“, also „Nicht eine weniger“ beschmiert. Die Farbe so… | |
| das Blut der ermordeten Frauen symbolisieren. „Tatort“ wurde in großen | |
| Lettern auf den Asphalt geschrieben, der Eingang ist mit Absperrband | |
| umspannt. Die Botschaft: Die Staatsanwaltschaft macht sich mitschuldig, | |
| wenn sie die Täter nicht bestraft. | |
| Am 25. November 2021 selbst sind es die Mädchen, die die Demonstration in | |
| der Hauptstadt von Guatemala anführen. Die Jüngsten sind gerade mal neun | |
| Jahre alt, andere nicht älter als dreizehn. Einige laufen, die Faust | |
| kämpferisch in die Luft gestreckt, einige fahren auf Fahrrädern. Ein paar | |
| Mädchen tragen ein Transparent, auf dem Sätze stehen wie „Man fasst Kinder | |
| nicht an“. Sie rufen: „Wir wollen Frieden für die Kinder und das Land.“ | |
| ## Die Hotline für Betroffene funktioniert nicht richtig | |
| Die Mädchen sind hier, in der ersten Reihe, weil auch sie Opfer | |
| patriarchaler Gewalt sind. Im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt zählte | |
| im Jahr 2020 das Observatorium für sexuelle und reproduktive Gesundheit | |
| 4.814 Vergewaltigungen von Mädchen im Alter zwischen 10 und 14 Jahren, die | |
| in einer Schwangerschaft gipfelten. Bis Oktober 2021 waren es 1.644 | |
| Schwangerschaften im gleichen Altersbereich. | |
| Die Mädchen, indigene Frauen, trans Frauen, junge und alte Aktivist:innen, | |
| Arbeiter:innen, Mütter von Ermordeten: Sie alle kommen am Nachmittag auf | |
| dem zentralen Platz vor dem Nationalpalast zusammen. Maya-Frauen haben | |
| Gabenteppiche mit Früchten und Blumen auf dem Boden ausgebreitet und ein | |
| Feuer gemacht, während neben ihnen eine junge Performancegruppe einen Tanz | |
| aufführt und von einer großen Bühne das Lied „Canción sin miedo“ der | |
| mexikanischen Sängerin Vivir Quintana dröhnt. Es ist ein Lied gegen | |
| Femizide und für feministische Solidarität. | |
| Jaquel Roxana Perez ist 13 Jahre alt und in den ersten Reihen der Demo mit | |
| dabei. Sie trägt ein weißes T-Shirt, das an den internationalen Kindertag | |
| erinnert. „Ich habe Angst, wenn ich ohne meine Eltern auf die Straße gehe“, | |
| sagt sie. „Es gibt so viele Fälle, bei denen Kinder von Erwachsenen | |
| missbraucht werden. Es ist einfach zu gefährlich.“ | |
| Offiziell präsentiert sich der Staat als lösungsorientiert. Überall sieht | |
| man in Guatemala Plakate, die zur Anzeige von Gewalt gegen Frauen aufrufen. | |
| Der konservative [3][Präsident Alejandro Giammattei] beteuert öffentlich, | |
| dass man für den Schutz der Frauen arbeite, für eine Zukunft gegen Gewalt. | |
| Die Realität sieht jedoch anders aus. Als eine der ersten Amtshandlungen | |
| kündigte Giammattei im November 2020 noch vor seiner Machtübernahme an, das | |
| Frauensekretariat der Regierung abschaffen zu wollen und gegen eine | |
| Institution zu ersetzen, die noch weniger Befugnisse hat. Nur durch | |
| Proteste der Zivilgesellschaft konnte das verhindert werden. Außerdem gab | |
| es Bestrebungen der Regierung, die Gewalt gegen Frauen als „innerfamiliäre | |
| Gewalt“ zu bezeichnen. „Ein enormer Rückschritt, das die spezifische Gewalt | |
| unsichtbar macht“, sagt Trujillo. | |
| Eine Hotline für Betroffene von Gewalt, die von der Staatsanwalt | |
| eingerichtet wurde, kritisiert Trujillo als „nicht funktionsfähig“. Denn | |
| die Hotline ist nur in 4 von 25 in Guatemala gesprochenen Sprachen | |
| verfügbar, also insbesondere für die ländliche, zumeist indigene | |
| Bevölkerung nicht erreichbar. Viele Menschen in den ländlichen Regionen | |
| haben kein Telefon. Untersuchungen haben außerdem gezeigt, dass mehrere | |
| Anrufe nötig sind, bis sich bei der Hotline überhaupt jemand meldet. | |
| ## Es braucht vor allem Prävention und Aufklärung | |
| „Das alles sind kosmetische Mittel, weil sie nicht an die Wurzel des | |
| Problems gehen“, sagt Trujillo. Die Institutionalisierung des Themas | |
| existiere schon. „Aber es funktioniert nicht.“ | |
| Im Falle von Luz María López Morales gab es Warnzeichen und Hinweise auf | |
| häusliche Gewalt. Immer wieder hatten Nachbar:innen laute Schreie aus | |
| ihrem Haus gehört. Ihr Mann soll sie geschlagen haben. Nun sitzt er als | |
| Angeklagter vor Gericht, ihm drohen bis zu 50 Jahre Haft. Das Urteil wird | |
| in einigen Wochen erwartet. Der Fall könnte einer von wenigen werden, bei | |
| dem der Täter tatsächlich verurteilt wird. | |
| Fragt man Trujillo, was es braucht, um die Situation in Guatemala zu | |
| ändern, sagt sie, vor allem Prävention und Aufklärung. Räume, in denen über | |
| die Gewalt gesprochen wird und es Begriffe dafür gibt, damit Betroffene | |
| sich trauen, ihre Erlebnisse auszusprechen. Und dass Täter bestraft werden. | |
| Der [4][Tag gegen Gewalt an Frauen] ist in Guatemala auch deshalb ein | |
| wichtiger Tag, weil er in den Fokus rückt, was sonst unsichtbar bleibt. | |
| Weil der Staat die Betroffenen im Stich lässt und die Kämpfe um eine | |
| Institutionalisierung des Problems ins Leere laufen, hat sich die | |
| feministische Bewegung anderen Formen des Protests zugewandt. Feministische | |
| Medien, Netzwerke und eigene Hilfsangebote. Um den 25. November haben sie | |
| ein 16-tägiges Aktionsprogramm zusammengestellt. | |
| Die Aktionen der Bewegung geben Silvia Trujillo Hoffnung. Es seien zwar | |
| noch nicht so viele, [5][wie beispielsweise in Argentinien], aber sie habe | |
| Hoffnung. „Es gibt eine neue Generation an jungen Feminist:innen, die nicht | |
| um Erlaubnis fragen.“ „Que ponen el cuerpo“, sagt Trujillo und meint damit | |
| eine feministische Praxis aus dem lateinamerikanischen Raum, die wörtlich | |
| übersetzt „den Körper hinstellen“ heißt. Sinngemäß bedeutet das: Sich … | |
| nehmen, sichtbar sein, Widerstand leisten. Mit dem eigenen Körper gegen die | |
| alltägliche patriarchale Gewalt. | |
| Transparenzhinweis: Die Autorin ist derzeit IJP-Stipendiatin in Guatemala. | |
| 15 Dec 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Prozess-um-versuchten-Femizid/!5821599 | |
| [2] http://reinasdelanoche.org.gt/main.asp?clc=1555 | |
| [3] /Protest-in-Guatemala/!5727169 | |
| [4] https://frauen.verdi.de/aktionstage/tag-gegen-gewalt | |
| [5] /Feminismus-in-Argentinien/!5808917 | |
| ## AUTOREN | |
| Sarah Ulrich | |
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