| # taz.de -- Neues von Julian Reichelt: Achtung, fragile Männlichkeit | |
| > Julian Reichelt gibt der „Zeit“ das erste Interview seit seiner | |
| > Entlassung und sieht sich als Opfer der Cancel Culture. Widerspruch | |
| > erhält er kaum. | |
| Bild: Männlich gekränkt: Julian Reichelt, hier noch Chefredakteur der Bild | |
| Manchmal sind es die Details, die die eigentliche Geschichte erzählen. | |
| [1][Julian Reichelt ist zurück]. Nicht als Chef der Bild-Zeitung, sondern | |
| als neuestes Opfer der grassierenden Cancel Culture. | |
| So zumindest präsentiert er sich selbst im Interview mit der Zeit. Das | |
| entscheidende Detail dieser Geschichte findet sich nicht in der Zeitung, | |
| sondern auf Twitter. Dort hat Cathrin Gilbert, die Zeit-Redakteurin, die | |
| Reichelt interviewt hat, ein Foto aus dem Interview geteilt. Sie sitzt auf | |
| einem Hocker, er auf einem Sofa, hinter ihm ein Haufen Pappkartons. | |
| „Fragile – Do not Crush“ steht auf einem Karton über Reichelts Kopf. Man | |
| könnte diesen Satz lesen wie eine Art Gebrauchsanleitung zu dem Interview: | |
| Achtung, hier lesen Sie gleich fragile Männlichkeit. | |
| [2][Anfang dieses Jahres war öffentlich geworden, dass Julian Reichelt | |
| Beziehungen und Affären mit Praktikantinnen, Volontärinnen und Kolleginnen | |
| gehabt haben soll.] Es ging um schmutzige Details und um den Vorwurf des | |
| Machtmissbrauchs. Mit dem Interview in der Zeit äußert er sich nun zum | |
| ersten Mal, seit er im Oktober seinen Posten als Bild-Chef verlor. Die | |
| Beziehungen bestreitet er nicht, [3][den Machtmissbrauch schon]. Der | |
| Begriff „Metoo“ sei für seine Geschichte eine Verleumdung. | |
| Angriff als Strategie | |
| Reichelts Strategie ist also Angriff. Das ist nicht verwunderlich für | |
| jemanden, der mal Kriegsreporter war und die Bild zum Kampfblatt umgebaut | |
| hat. Aber in ihrer Konsequenz überrascht Reichelts Erzählung dann doch. | |
| Reichelt sieht sich selbst als Opfer eines „Vernichtungsfeldzugs“. Er, ein | |
| politisch unbequemer Geist, ein Förderer und Forderer, der brillante | |
| Journalist, sei „gecancelt“ worden, getilgt aus der öffentlichen | |
| Wahrnehmung. Die Liste derer, die er verantwortlich macht, ist lang: Die | |
| Tagesthemen, den Spiegel, die Berliner Blase aus Politikern und | |
| Redakteuren, den Springer-Vorstand, Bild-Kollegen, einen Partyveranstalter, | |
| einen Schriftsteller, die Demokratie, die „Woke-Wahnsinnigen“. | |
| Diese Erzählung ist besonders paradox, weil Reichelt selbst im Interview | |
| fragt: „Woher kommt dieser Wahn, Menschen als Opfer sehen zu wollen, und | |
| woher kommt dieser Wahn, dass manche Menschen sich so gern selbst als Opfer | |
| sehen?“ Damit meint er natürlich nicht sich selbst, sondern zum Beispiel | |
| die Frauen, mit denen er Affären hatte. | |
| Opfer sieht Reichelt auch in seinem privaten Umfeld. Dem hätte er gern die | |
| „abscheuliche“ Berichterstattung über sich erspart, sagt er. Auf die | |
| Entgegnung, dass gerade die Bild es sei, die Menschen bloßstelle, sagt er, | |
| den Journalismus, der in die Privatsphäre von Menschen eindringe, habe er | |
| „vor Jahren“ beendet. | |
| Meint er das wirklich ernst? | |
| Falls ja, hilft vielleicht eine Zahl: Allein im Jahr 2021 hat der Presserat | |
| 20 Rügen gegen die Bild ausgesprochen, die allermeisten, weil die | |
| Berichterstattung gegen den Persönlichkeitsschutz verstoßen hatte, von | |
| Kindern zum Beispiel oder von Mord- und Unfallopfern. Kein anderes Medium | |
| kassiert so viele Presserats-Rügen wie die Bild. Und kein anderes Medium | |
| ignoriert sie so hartnäckig wie die Bild. | |
| Kaum Widerspruch | |
| Was Reichelt da also behauptet, ist gelogen. Das muss man als Leserin aber | |
| wissen, denn aufgeklärt wird es in dem Interview nicht. Zwar setzt die | |
| Zeit-Redakteurin Reichelt hier und da etwas entgegen, harten Widerspruch | |
| kriegt er aber kaum. | |
| Ein anderes Beispiel dafür, wie Reichelt das Interview nutzt, um seinen | |
| eigenen Spin zu setzen: Der Spiegel hatte im März über die Vorwürfe gegen | |
| Julian Reichelt berichtet. Ein Hamburger Gericht hat diesen Artikel | |
| kürzlich verboten, der Spiegel musste ihn offline nehmen. Der Grund dafür | |
| ist, dass Reichelt behauptet, vor der Veröffentlichung nicht ausreichend | |
| Gelegenheit zur Stellungnahme bekommen zu haben. Vor Gericht hat er | |
| eidesstattlich erklärt, dass die Fragen, die der Spiegel der | |
| Verlags-Pressestelle geschickt hatte, ihn nicht erreicht hätten. | |
| Reichelt legt im Interview nun nahe, der Spiegel-Text sei verboten worden, | |
| weil er falsch war. Er wurde aber verboten, weil Axel Springer seine | |
| internen Kommunikationswege offenbar nicht im Griff hat. | |
| Auch das fängt die Interviewerin nicht ein. Vielleicht auch, weil ein | |
| Interview die falsche Form ist, um Reichelt zu begegnen? Es ist sicher kein | |
| Zufall, dass Julian Reichelt sich in einem Interview äußert und dann auch | |
| noch bei der Zeit. Dort durfte auch schon Uli Hoeneß Buße tun nach seinen | |
| Steuersünden. | |
| Kontrollierbare Form | |
| Ein Interview ist die am besten kontrollierbare Form für den Interviewten – | |
| kritischen Fragen kann man ausweichen, Fakten widersprechen und die eigenen | |
| Aussagen vor der Veröffentlichung weichspülen. Viele Medien interviewen | |
| deshalb AfD-Politiker*innen nicht mehr direkt, auch die Bild macht | |
| das übrigens nicht mehr. Sie berichten und recherchieren über die AfD, | |
| drucken ihre Statements, aber keine Interviews mit | |
| AfD-Politiker*innen. Weil Aussagen, vor allem gedruckte, schwer zu | |
| kontrollieren sind. | |
| Nun hatte Julian Reichelt mit seiner Bild bis vor Kurzem zwar viel Macht, | |
| [4][zum Beispiel, um gegen Wissenschaftler*innen zu hetzen.] Das macht | |
| ihn aber noch nicht zum Rechtsradikalen, weshalb prinzipiell nichts dagegen | |
| spricht, ihn zu interviewen. Denn dieses Interview erzählt ja auch viel | |
| über ihn. Es zeigt, wie weit sich Reichelt von der Realität entfernt hat, | |
| wie er sich einmauert in seiner Opfer- und Dissidenten-Erzählung. | |
| Man kennt diese Erzählung von anderen Abgedrifteten der Medienbranche: | |
| Matthias Matussek zum Beispiel, der ehemalige Spiegel-Redakteur, der seine | |
| Geburtstage mittlerweile mit Nazis feiert. Oder Eva Herman, die frühere | |
| „Tagesschau“-Sprecherin, oder Roland Tichy, der früher mal die | |
| Wirtschaftswoche geleitet hat. Sie alle haben ihre neuen Plattformen | |
| gefunden, auf denen sie politisch fragwürdig irrlichtern. | |
| Reichelts Zukunft jedenfalls könnte gar nicht so weit entfernt sein von | |
| diesen Leuten. „Journalismus für die Massen“ wolle er machen, sagt er im | |
| Interview. Zur Not schaffe er sich den Job selbst. | |
| 9 Dec 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anne Fromm | |
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