# taz.de -- Scholz eröffnet nächsten Wahlkampf: Die Kalküle des Kanzlers | |
> Die SPD setzt auf Respekt und „normale“ Menschen – in Abgrenzung gegen | |
> Eliten und den „woken“ Mainstream. Das ist ein gefährliches Spiel. | |
Bild: Glitzern für die Arbeiterklasse: Olaf Scholz und Manuela Schwesig bei de… | |
Direkt nach der Bundestagswahl sah die politische Landschaft noch anders | |
aus. Damals erschienen die kleinen Parteien als die Großen. Grüne und FDP | |
inszenierten sich selbstbewusst, fast überheblich, mit Robert Habeck und | |
Christian Lindner als Königsmacher in den Hauptrollen. [1][Olaf Scholz] | |
schwieg dazu. Er dürfte das eitle Theater mit Amüsement betrachtet haben. | |
Wie die Rollenverteilung heute aussieht, kann man an den ersten | |
Übereinkünften der Ampel gut ablesen, im Sondierungspapier, im | |
Koalitionsvertrag und an der Verteilung der Etatmittel. Die Dokumente sind | |
mit einer sozialdemokratischen Melodie unterlegt, [2][in der neuen | |
Regierung] haben die Sozialdemokrat:innen Geld zu verteilen: 227,2 | |
Milliarden Euro [3][für die SPD-Ministerien], 65,8 Milliarden für die FDP | |
und nur 39,1 Milliarden für die Grünen. Die Kernthemen der anderen, Klima | |
und Finanzen, sind nur die Begleitmusik. | |
Dass die stärkste Partei den Ton bestimmt, kann nicht überraschen. Aber | |
Scholz trägt seine Melodie schon seit dem Sommer mit einem Unterton vor, | |
der hellhörig macht und der jetzt von symbolträchtigen Entscheidungen | |
begleitet wird. Die Rede ist viel von sogenannten normalen Menschen, in | |
Abgrenzung gegen die Eliten und im Kern damit gegen jenes aufgeklärte | |
bürgerliche Klientel, das Grüne und FDP repräsentieren. | |
Im Sommer rang Scholz darum, diese normalen Menschen mit dem Begriff des | |
„Respekts“ für sich zu gewinnen und hatte damit hinreichend Erfolg. Er | |
verband den Begriff mit der handfesten Versprechung von 12 Euro | |
Mindestlohn. Etwa für die „Anerkennung auch für die, die fleißig sind im | |
Warenlager oder die einen Truck fahren“. | |
## Für „NYT“ der Retter der Sozialdemokratie | |
Und er flocht gerade genug Klimaschutz ein, um zu den Grünen hin wählbar zu | |
bleiben. Scholz versucht, auf diese Weise eine neue sozialdemokratische | |
Koalition zu formen, mit Arbeiter:innen und Angestellten im Zentrum. | |
Die New York Times feierte ihn schon als Retter der europäischen | |
Sozialdemokratie. | |
Die Sozialdemokratie verdient es, gerettet zu werden, und nichts ist | |
dagegen zu sagen, einen Teil der abwandernden Arbeiterklasse wieder | |
einzufangen. Die Frage ist nur, zu welchem Preis und was das für die | |
rot-grün-gelbe Koaltion bedeutet. | |
Von der Formulierung, „Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind nicht | |
bei denen, die sich für was Besseres halten“, ist der Weg nicht weit zu | |
einer Erzählung von der elitären neuen Mittelklasse, die sich auf Kosten | |
der arbeitenden Bevölkerung bereichert und den Mainstream diktiert, einen | |
woken, natürlich. | |
Es gibt ein Medium in Deutschland, das dieses Narrativ seit einigen Jahren | |
mit großer Lust bedient und es zum Widerstandsmotiv stilisiert: die | |
Bild-Zeitung. Wie der neue Kanzler seine Politik ausrichtet, ließ sich | |
innerhalb kurzer Zeit gleich zweimal beobachten: Eine Woche vor seiner Wahl | |
stellte sich Scholz zu Bild-TV, um ausgerechnet dort die Impfpflicht | |
anzukündigen. Es war ein Anklang an das alte Motto seines alten Bosses | |
Gerhard Schröder: „Zum Regieren brauche ich nur Bild, BamS und Glotze.“ | |
Und an dem Wochenende, an dem Bild drei prominente Virolog:innen als | |
eine Bande von „Lockdown-Machern“ an den Pranger stellte, war Scholz erneut | |
zu Besuch bei Springer. Er trat dort samt Ampelpartnerinnen für die | |
Spendengala „Ein Herz für Kinder“ auf. Ein kritisches Wort zur infamen | |
Kampagne der Bild? Blieb aus. Merkel wäre das nie passiert. Anders als | |
Scholz hat Merkel den Mindestabstand eingehalten. | |
Scholz ist kein Rechter, genauso wenig aber ein Instinktpolitiker. Er | |
kalkuliert, er weiß, was er tut. Scholz hat soeben den Wahlkampf für 2025 | |
begonnen, für die SPD und gegen seine Koalitionspartnerinnen. | |
Darin liegt die erste große Bruchlinie der neuen Koalition: Denn es ist ja | |
die Kernklientel der Grünen und der Liberalen, die Scholz da verbal wie | |
nonverbal beschießt. Wenn nicht alles täuscht, wird es nicht ein rot-grünes | |
Lager mit einem liberalen Farbtupfer geben, sondern zwei kleinere Parteien, | |
die hart zu kämpfen haben, um sich gegen den Chef im Kanzleramt zu | |
behaupten. | |
Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass vor allem die in kurzer | |
Zeit mehrfach gedemütigten und desillusionierten Grünen daran schwer zu | |
kauen haben werden. | |
11 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Junge | |
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