| # taz.de -- Die Metamorphose des Olaf Scholz: Unter totaler Kontrolle | |
| > Als Juso war er einst unberechenbar. Als Neukanzler zeigt er sich glatt | |
| > geschliffen und floskelbewehrt. | |
| Bild: Kaum tauchte er auf, verbreitete sich nervöse Unruhe im Saal. Olaf Schol… | |
| Der Lockenschopf. Das war früher das Erkennungszeichen von Olaf Scholz. | |
| Wann immer der freche Juso aus Hamburg im Bundesvorstand der | |
| [1][SPD-Jugendorganisation] oder auf ihren hitzigen | |
| Bundesdelegiertenversammlungen auftauchte, war er schnell zu erkennen an | |
| seiner verwuschelten Haartracht. Die irgendwie auch ein Symbol für seine | |
| politische Unberechenbarkeit war. Und für die verschlungenen Wege, die er | |
| einschlug, um an sein politisches Ziel zu kommen. | |
| Kaum tauchte er auf, verbreitete sich nervöse Unruhe im Saal. Entweder | |
| wegen der Intrigen und Bündnisse, die dann geschmiedet wurden oder längst | |
| geschmiedet waren. Wegen der ironischen Bemerkungen, die er um sich herum | |
| verspritzte wie feinste Dosen unmerklich wirkenden Gifts. Oder wegen der | |
| Debatten, die er Backstage anzettelte, während sich vorne am Rednerpult die | |
| Gralsritter der Doppelstrategie noch dabei abwechselten, graues | |
| Recyclingpapier durch den Floskelkopierer zu schieben. | |
| Dass Olaf Scholz keine Locken mehr hat, wird man ihm nicht vorwerfen | |
| können. Wenn das nicht einen aufschlussreichen Rollenwechsel signalisierte. | |
| Wo [2][Ole von Beust, der flamboyant gelockte Großbürger und Scholz’ | |
| Vorvorgänger als Hamburger Bürgermeister], sich und seine konservativen | |
| Stammwähler so sehr öffnete, dass sie Schwarz-Grün feierten, versteinerte | |
| der libertäre [3][Stamokapler] Scholz zu einem Opfer des somatischen | |
| Disziplinarregimes, als das Politik eben auch immer wirkt: streng, glatt | |
| geschliffen, floskelbewehrt. | |
| Auch dieses politische Urgestein schrumpfte nach vierzig finessenreichen | |
| Jahren auf das für den sozialistischen Nachwuchs vorgesehene Format: ein | |
| Kiesel im Mahlstrom der Demokratie. | |
| Der [4][berüchtigte Scholzomat] eben. Was neben der rhetorischen Stanze | |
| auch meinte: ein Mann, der sich selbst unter totaler Kontrolle und alle | |
| juristischen Regularien sofort bei der Hand hat. Höchstens noch bei | |
| Hintergrundgesprächen ironisch gluckst. Ein Mann, für den Fantasie offenbar | |
| ein Fremdwort ist. | |
| Sein Auftritt im [5][Cum-Ex-Ausschuss] demonstrierte, dass er es in Sachen | |
| Elefantenhaut und Pokerface mit dem US-Polit-Reptil Mitch McConnell | |
| aufnehmen kann. Sein Bekenntnis, „in Hamburg habe ich mich unsterblich in | |
| meine Frau verliebt“, steht in seltsamen Gegensatz zu der maskenhaften | |
| Starre, mit der man ihn im Fond seines Dienstwagens in die Kameras blicken | |
| sieht. Kurzum: ein Mann wie sein eigener Dienstwagen. Als Bundeskanzler | |
| fährt er jetzt passenderweise ein neues, besonders sicheres Exemplar, das | |
| schussfeste Reifen hat und widerstandsfähig gegen Sprengladungen ist. | |
| ## Die Pathologie des Politischen | |
| Dass Olaf Scholz nach den Hamburger Jahren im blauen Business-Panzer nun | |
| den obersten Knopf seines blütenweißen Hemdes aufgeknöpft hat, ist kein | |
| Zeichen der Öffnung. Warum er sich im Laufe seiner politischen Karriere | |
| immer mehr geschlossen hat, hat er uns nie anvertraut. Dabei wäre es | |
| wichtig, diesem politsomatischen Kipppunkt auf die Spur zu kommen. Schon, | |
| um Kevin Kühnert oder Annalena Baerbock vor einem ähnlichen Schicksal zu | |
| bewahren. | |
| Aber die Pathologie des Politischen reicht tief, bleibt begraben im | |
| Geheimnis. Stumm schlägt sie sich im Körper nieder, im Habitus. Die | |
| fröhliche Angela Merkel der Wendezeit panzerte sich, wie der von ihr auf | |
| das Altenteil geschickte Helmut Kohl, mit Leibesfülle und | |
| undurchdringlichen Zügen. Nicht umsonst hat Franziska Giffey, die | |
| Weltmeisterin der scheinoffenen Fröhlichkeit, ihre | |
| 50er-Jahre-American-Suburb-Kostüme einmal ihre „Uniform“ genannt. | |
| Das Gegenbeispiel wäre Claudia Roth. Die Goldparmäne des Unbotmäßigen ist | |
| aus einem ähnlich politischen Milieu nach oben gestiegen wie Scholz – ohne | |
| dabei etwas von ihrer subversiven Energie und ihrem eruptiven Temperament | |
| zu verlieren. Mag sie heute auch noch so elegant und bourgeoisiekompatibel | |
| auf dem Grünen Hügel in Bayreuth auftauchen. | |
| ## Graumäusigkeit ästhetischer Wesenskern der Demokratie | |
| Repräsentiert Roth gleichsam den stets ausbruchsbereiten Vesuv des | |
| progressiven Lagers, wirkt der oft versteinert daherkommende Scholz wie | |
| dessen Pompeji: Das wilde Leben, das hier einst stattgefunden haben mag, | |
| ist nur noch durch eine Schicht erkalteter Sedimente zu erkennen. | |
| Nun ist Graumäusigkeit der ästhetische Wesenskern der Demokratie. Und | |
| dürfte die Stimmung der „normalen, einfachen Menschen“, die Scholz | |
| beschwört, eher treffen als die sarkastische Exzentrik Wowereit’schen | |
| Angedenkens. Wenn sich mit der steifen Geradlinigkeit und der hölzernen | |
| Rhetorik, mit der sich Scholz seinen Weg durch die Fußgängerzonen, | |
| Plenarsäle und Seniorenheime bahnt, nicht zugleich eine gewisse | |
| Friedhofsruhe breitmachen würde. | |
| Der Neukanzler [6][sprach in seiner Regierungserklärung von einer | |
| „gigantischen Aufgabe“]. Trotzdem heißt Berlin im Dezember: kein Diskurs, | |
| nirgends. Und diese hermetische Mischung aus Führen durch Einschläfern wird | |
| nun als Erfolgsmodell verkauft. Gegen den „denkenden Redner“ Willy Brandt, | |
| den der Verleger Klaus Wagenbach einst bewunderte, wirkt sein Enkel, der | |
| auf den roten Wahlkampfplakaten kurz und bündig „Respekt“ verspricht, wie | |
| ein wortkarger Buddha. | |
| ## Fleischgewordenes Adenauer-Motto | |
| Ein paar soziale Wohltaten hat er aufgetischt, um die Stammwähler | |
| zurückzuholen, die Hartz IV vergraulte. Den Grünen hat er bedeutet, dass | |
| Wende-Essentials wie das Tempolimit oder das Wohnungseigentum nicht zur | |
| Debatte stehen. Der Chef der Sozialdemokraten „im Hintergrund“ tritt auf | |
| wie eine Mischung aus dem „leitenden Angestellten“, als den sein Vorgänger | |
| Helmut Schmidt den Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland GmbH einmal | |
| beschrieben hat, und dem fürsorglichen Belagerer aus dem Jobcenter. | |
| Habituell gesehen repräsentiert Scholz das fleischgewordene Adenauer-Motto: | |
| Keine Experimente. Doch der Aufbruch zu einer anderen Gesellschaft drückt | |
| sich in einem anderen Körper aus. | |
| 30 Dec 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ingo Arend | |
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