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# taz.de -- Geflüchtete in Belarus: An die Grenze für 300 Euro
> In Minsk warten Hunderte Migranten darauf, in Richtung Polen weiterreisen
> zu können. Nicht nur für Taxifahrer ist das ein lukratives Geschäft.
Bild: Geflüchtete vor dem „Galereja“-Einkaufszentrum in Minsk
Minsk taz | Etwa 40 Menschen stehen im Zentrum der belarussischen
Hauptstadt Minsk vor dem Einkaufszentrum „Galereja“. Es sind hauptsächlich
Männer zwischen 20 und 45 Jahren, alle kommen aus Irak. Ab und zu gehen
einige von ihnen in das Gebäude, um sich aufzuwärmen. Polizei ist nicht zu
sehen. Niemand hält eine so große Ansammlung von Menschen für eine nicht
genehmigte Veranstaltung. Es handelt sich hier, nach den Worten der
Regierung, um „Individualtourismus“. Eine deutlich kleinere Ansammlung von
Belarussen würde sofort als Kundgebung gelten. Dafür drohen in Belarus
Haftstrafen.
Unabhängige Journalisten werden nicht ins Grenzgebiet gelassen.
Akkreditieren können sich nur Mitarbeiter der Staatsmedien, die so
berichten, wie es dem sogenannten Präsidenten Alexander Lukaschenko nützt.
Ein junger Mann erzählt in gebrochenem Englisch: „Ich bin schon seit
zwanzig Tagen hier. Mit meinem Bruder. Wir warten darauf, dass wir zur
Grenze gebracht werden. Wir wollen nach Deutschland. Hier ist es sehr kalt,
in Polen und Deutschland ist das Wetter besser.“ Auf die Frage, was sie in
Deutschland tun wollen, sagt er, das wisse er nicht. Aber er müsse trotzdem
nach Deutschland. Bei dem Wort „Deutschland“ nicken die anderen Männer, die
kein Englisch sprechen, zustimmend und schnalzen mit den Zungen.
Gefragt, ob sie Deutsch können, verneinen sie. „Vielleicht wollt ihr lieber
in Belarus bleiben? Für euch ist es hier sicher. Man kann Arbeit finden und
eine Wohnung, vielleicht eine Familie gründen“ – solche Vorschläge machen
die Minsker den vermutlich kurdischen Flüchtlingen. „Nein, nein, nein!“
Eine Rückkehr nach Irak ziehen sie nicht einmal in Betracht.
## Für die einen ist es Krieg, für die anderen ein gutes Geschäft
Das Angebot, ihnen Wasser und etwas zu essen zu kaufen. lehnen sie ab: „Wir
haben alles.“ Dann klingelt ein Handy. Der Angerufene zieht ein Modell aus
der Tasche, das sich viele Belarussen nicht leisten könnten.
In den Handyläden des Einkaufszentrums erzählen die Verkäufer, dass die
„Touristen“ oft Ladegeräte kauften. Sie zeigten mit dem Finger auf die
Kabel, Englisch sprächen sie nicht. „Sie kaufen gezielt SIM-Karten für
internationales Roaming.“ Während des Gesprächs vor dem Einkaufszentrum
gehen Promoter eines belarussischen Mobilfunkanbieters auf die Migranten zu
und sprechen sie an.
Für die einen ist das, was gerade passiert, ein Krieg. Für die anderen
[1][ein lukratives Geschäft,] zum Beispiel für die Taxifahrer. Sie freuen
sich über die Migranten. Eine Fahrt von Minsk zur Grenze bei Grodno kostet
mindestens 300 Euro. Für manche Belarussen ist das ein Monatsgehalt.
Anna, die in der Nähe des Einkaufszentrums wohnt, erzählt: „Soweit ich von
meinen Nachbarn weiß, sitzen die Leute bis nachts um drei in unserem
Innenhof, dann holt man sie ab und bringt sie an die Grenze. Ich selbst
habe noch nicht mit ihnen geredet, denn sie sprechen nur Arabisch oder
Kurdisch. Sie wissen, warum sie hier sind, und interessieren sich nicht für
uns Belarussen. Ich glaube, man hat sie angewiesen, mit niemandem zu reden
und sich einfach dumm zu stellen.“ Einige von ihnen lebten hier in der Nähe
im Hotel. Andere schliefen in Schlafsäcken in den Durchgängen und sogar auf
der Straße. Es seien gerade ziemlich viele. „Mir scheint, dass diese Woche
eine Rekordzahl an Menschen hergebracht wird. Aber das Lager hier in der
Nachbarschaft bleibt immer gleich groß. Das bedeutet, dass einige
dazukommen und andere wegfahren“, sagt Anna.
## Auf Tiktok kursieren etliche Videos der „Touristen“
In der Zwischenzeit kommen kontinuierlich weitere Migranten nach Belarus.
Auf dem Videoportal Tiktok kursieren viele aktuelle Videos dieser
„Touristen“. [2][Zum Beispiel, wie sie in Flugzeugen der staatlichen
Fluggesellschaft Belavia posieren]. Auf Facebook posten sie Videos aus dem
Einkaufszentrum „Galereja“, einige davon haben schon 6.400 Likes und 3.000
Kommentare, die meisten in arabischer Schrift.
Auf einem Telegram-Kanal mit 6.000 Mitgliedern gibt es eine lebhafte
Diskussion, vor allem auf Arabisch oder Kurdisch. Aber ab und zu tauchen
dazwischen auch warnende Kommentare auf Englisch auf: „No need to fly to
Belarus. You will lose money, and you will never get to Europe.“ Als
Antwort gibt es dann Äußerungen wie: „If f you want to help, then go to the
borders and offer aid to the poor immigrants and not telling lies … just
get out … this is our kurdish room.“
Es ist ein offenes Geheimnis, dass an der Grenze auf belarussischer Seite
jetzt viele bewaffnete Soldaten sind. Es wird erzählt, dass diese Soldaten
die Menschen in die Wälder jagten, damit sie illegal die Grenze passierten.
An den offiziellen Grenzübergängen, wo man legal um politisches Asyl bitten
könnte, seien bislang nach Aussagen der polnischen Seite so gut wie keine
Menschen aufgetaucht.
Interessant ist Artikel 371 des belarussischen Strafgesetzbuches. Dieser
Vorschrift zufolge wird das vorsätzliche illegale Übertreten der
Staatsgrenze einer organisierten Personengruppe mit Freiheitsentzug von
drei bis sieben Jahren bestraft.
Während des Zweiten Weltkriegs hatte die UdSSR so genannte
Sperrabteilungen. Das waren NKWD-Mitarbeiter (das NKWD war das sowjetische
Innenministerium, das neben klassischer Ministeriumsarbeit auch Aufgaben
der Geheimpolizei und des Geheimdienstes übernahm; Anm. d. Redaktion).
## Sie wissen noch nicht, dass sie Kanonenfutter sind
Die verzweifelten Iraker haben noch nicht begriffen, dass sie Kanonenfutter
sind. Für Lukaschenko wäre es besser, wenn sie in den belarussischen
Wäldern erfrieren würden. Dann könnte man Europa für ihren Tod
verantwortlich machen.
Die bewaffneten Sicherheitskräfte lassen kranke Menschen nicht aus den
Wäldern in die Städte zurückkehren, um dort auf besseres Wetter zu warten.
Ein Migrant erklärte gegenüber der Redaktion eines Telegram-Kanals, dass es
in Belarus als extremistisch angesehen werde, dass sie nicht „über die
Grenzzäune klettern“ wollten. Wortwörtlich sagt er dort: „Wir warten, dass
die Europäische Union uns die Grenze öffnet und wir nach Deutschland
können.“
Aus dem Russischen [3][Gaby Coldewey]
13 Nov 2021
## LINKS
[1] /Migration-aus-dem-Irak/!5814547
[2] /Flucht-ueber-Belarus-in-Richtung-EU/!5810970
[3] /Gaby-Coldewey/!a23976/
## AUTOREN
Janka Belarus
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