# taz.de -- Flüchtlinge in Belarus: Toleranztest für Belarussen | |
> Lukaschenko versucht, die eigene Bevölkerung vom staatlichen Terror | |
> abzulenken. Janka Belarus über stürmische Zeiten in Minsk. Folge 108. | |
Bild: Eine Gruppe von Migranten im Stadtzentrum von Minsk am 9. November | |
Anna aus Minsk hat bei Facebook gepostet, wie sie warme Kleidung in den | |
Durchgang beim Einkaufszentrum gebracht hat. Dorthin, wo sich die Migranten | |
aufhalten. | |
„Dankbar und begierig, ohne zu zögern, nahmen sie die Kleidung an. Einer | |
Frau habe ich selber Wollhandschuhe übergezogen. Sie streckte mir ihre | |
kalte Hand entgegen, und als ich sie berührte, konnte ich nur mühsam die | |
Tränen zurückhalten. ‚Thank you‘, sagte sie. ‚Eat, eat‘, sagte eine a… | |
und zeigte auf ihren Mund. Mein Gott, sie sind HUNGRIG. Und wir hatten nur | |
Pralinen dabei…. Aber wir hatten ja keine Ahnung.“ | |
In den Kommentaren darunter war die Hölle los. Es sei toll, dass sie helfe, | |
schrieb jemand. Ein anderer bat, darauf zu achten, dass die Mehrheit dieser | |
„Touristen“ sehr teure Jacken und Handys habe. Sie würden durchschnittlich | |
für umgerechnet 100 Euro Lebensmittel im Supermarkt einkaufen. Und ein | |
Visum in Istanbul koste mehr als 2.300 Euro pro Person. Davon hätten die | |
Migranten selbst schon in Videos erzählt, die im Internet kursieren. | |
Ein Dritter fragte, [1][warum denn alle Migranten in die EU wollten] und | |
nicht nach Russland, wo sich doch auch viele Menschen zum Islam bekennen, | |
und es eine gut gehende Ölindustrie gebe. Und einer schrieb über eine | |
verschobene Agenda und dass „die Menschen in Isolationshaft auch keine | |
warme Kleidung haben, und man ihnen nicht einmal Seife und Toilettenpapier | |
schicken könne.“ Dass man doch zumindest so viel Selbstachtung bewahren | |
müsse, um sich selbst nicht völlig aufzugeben. Und dass man sich nicht | |
manipulieren lassen dürfe. | |
Besonders beliebt war ein Post von Petr Kusnezow, der in der Stadt Gomel | |
ein Nachrichtenportal betreibt. „Ich habe noch nie eine Kolonne | |
belarussischer Flüchtlinge gesehen, die ganz heiß darauf sind, durch Polen | |
zu reisen und im Chor ‚Deutschland, Deutschland‘ skandieren. Und das nur, | |
weil Deutschland einen ‚hohen Lebensstandard‘ hat, was bedeutet, dass man | |
500 Euro Sozialhilfe bekommt. Im Gegenteil, ich kenne eine ganze Menge | |
Belarussen, die über den nächstgelegenen Grenzübergang ausgereist sind, | |
[2][sei es nach Polen, Litauen, Russland, Georgien oder die Ukraine], und | |
dort bleiben, nur um ihrer Heimat nahe zu sein. Ich habe noch nicht davon | |
gehört, dass sie um Sozialhilfe gebeten hätten, aber weiß, dass sie auf | |
alle erdenklichen Arten versuchen, in diesen Ländern Arbeit zu finden. | |
Ich habe im Prinzip auch noch keine Belarussen kennengelernt, die vor der | |
‚Flucht vor Gefahr‘ planmäßig ihren gesamten Besitz verkauft hätten. Um | |
damit Schleuser bezahlen zu können, mit deren Hilfe sie dann illegal | |
Grenzen überqueren, weil sie unbedingt (!) in die EU müssen. Im Gegenteil, | |
ich kenne jede Menge Belarussen, die sich in der Emigration nicht mal | |
Besteck kaufen, weil sie DORT keinen Besitz haben wollen, immer in der | |
Hoffnung, in die Heimat zurückkehren zu können. | |
Ich habe noch keine Nachrichten über Belarussen gesehen, die gewaltsam | |
versucht hätten, die EU-Außengrenze zu durchbrechen, mit Holzstämmen, die | |
sie gesetzwidrig in den Wäldern eines ihnen fremden Landes abgeschlagen | |
haben. Ich kann mir keinen Belarussen vorstellen, der, um illegal nach | |
Europa einreisen zu können, öffentlich sein Kind vergiften würde. (Hier | |
bezieht sich der Schreiber auf ein Video, wo einem Jungen Zigarettenrauch | |
in die Augen geblasen wird, damit Tränen zu sehen sind. Später kursierte | |
eine andere Version zu diesem Video, nach der man auf diese Weise versuche, | |
die Wirkung des Tränengases zu neutralisieren; Anm. d. Autorin). | |
Entschuldigung, aber es gibt zahlreiche Videobeweise, die zeigen, dass | |
polnische Grenzschützer das Tränengas nur per Hand aus Dosen versprühen. | |
Und das bedeutet, dass der Kleine von dem Gas nur etwas abbekommen haben | |
kann, wenn irgendein Erwachsener ihn wie ein Schutzschild in unmittelbarer | |
Nähe des Grenzzaunes gehalten hat. Ich habe eine Menge gänzlich anderer | |
Geschichten gesehen. Die Chronik der vergangenen Tage gibt tonnenweise | |
Material zum Nachdenken. Aber ist das nötig?“ | |
Natürlich sollte jeder und jede selbst entscheiden, ob er oder sie | |
Migranten helfen möchte, die jetzt im Grenzgebiet festsitzen. Aber die | |
Migranten erweisen sich heute als Test für die berühmte belarussische | |
Toleranz. Und: menschlich ist es furchtbar, was passiert. Niemand sollte im | |
Wald frieren und sterben. | |
Aber ohne den Willen eines einzigen Menschen, der unbedingt erreichen will, | |
dass Europa seine Legitimität anerkennt, wäre es nie zu solch einer | |
Situation gekommen. | |
[3][Vielleicht ist dieser Mensch das Problem], und nicht die Migranten? | |
Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey] | |
17 Nov 2021 | |
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## AUTOREN | |
Janka Belarus | |
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