# taz.de -- Ausbildungssuche während Corona: Unvermittelt und unausgebildet | |
> Mit der Pandemie stürzt die Zahl der Ausbildungsverträge auf ein | |
> Rekordtief. Wer sind die Menschen, die auf der Strecke bleiben? Und was | |
> hilft? | |
Bild: Azubi an der Werkzeugmaschine | |
BERLIN taz | Mahdi N. beginnt seinen Arbeitstag morgens um sechs. In einem | |
Fünfsternehotel auf der Berliner Friedrichstraße bereitet er das Frühstück | |
vor. Im Februar hat der 28-Jährige aus dem Iran seine Ausbildung zur | |
Fachkraft Gastgewerbe begonnen. Gerade ist er für die Handwerker zuständig, | |
die einen Teil des Hotels renovieren. „Buletten mögen die Bauarbeiter am | |
liebsten“, weiß Mahdi. „Und Rührei. Butter und Brötchen, das reicht ihnen | |
nicht.“ Mahdi möchte später Koch werden. Die Ausbildung zur Fachkraft | |
Gastgewerbe ist der erste Schritt auf dem Weg dorthin. | |
Die Pandemie hat ein Loch in die Umsätze der Gastronomie- und | |
Tourismusbranche gerissen, auch im Hotel auf der Friedrichstraße. Das | |
spiegelt sich in den Zahlen der Azubis wider: Knapp ein Drittel weniger | |
[1][Ausbildungsverträge] wurden laut Statistischem Bundesamt in der | |
Hotelbranche unterzeichnet. Insgesamt fingen im Jahr 2020 465.700 Personen | |
eine duale Ausbildung an, das waren 9,3 Prozent weniger als im Jahr 2019. | |
Doch weniger Ausbildungsplätze sind nicht der einzige Grund für sinkende | |
Vertragsabschlüsse in der dualen Ausbildung, also bei Ausbildungen, die in | |
Schule und Betrieb stattfinden. Ende September 2020 standen den knapp | |
60.000 unbesetzten Ausbildungsstellen laut Berufsbildungsbericht fast | |
30.000 gänzlich unversorgte Bewerber*innen gegenüber – und damit knapp | |
20 Prozent mehr als im Vorjahr. Wer sind die Menschen, die auf der Strecke | |
bleiben? | |
Volkswirt Clemens Wieland befasst sich seit Jahren mit beruflicher Bildung | |
und schulischer Berufsorientierung. „Wer genau die Jugendlichen sind, die | |
unvermittelt bleiben, wissen wir nicht“, sagt der Bildungsexperte der | |
Bertelsmann Stiftung. „Aber wir können davon ausgehen, dass sie überwiegend | |
schwächere Schulabschlüsse haben, was oft mit sozialer Benachteiligung, | |
Migrationshintergrund und unterschiedlichen Vermittlungshemmnissen | |
einhergeht.“ | |
## Wo sind die Jugendlichen hin? | |
Für Wieland gibt es noch ein weiteres Rätsel: Wo die Jugendlichen bleiben, | |
die sich nicht einmal um eine Bewerbung bemüht haben. Auch deren Zahl ist | |
seit der Pandemie gestiegen. Während sich im Ausbildungsjahr 2018/19 noch | |
rund 480.000 Schulabgänger*innen um einen Ausbildungsplatz bemühten, | |
waren es den Zahlen der Arbeitsagentur zufolge im Juli 2021 nur noch | |
404.400. | |
An demografischen Entwicklungen liege das nicht, so Wieland. „Die Vermutung | |
liegt schon sehr nahe, dass sie sich nicht einmal trauen, sich zu bewerben, | |
und ihre Chancen schlecht einschätzen.“ Darauf deutet eine Jugendstudie der | |
Bertelsmann Stiftung aus dem Frühjahr 2021 hin. Ihr zufolge schätzen mehr | |
als 70 Prozent der Befragten ihre Chancen bei der Ausbildungsplatzsuche | |
schlechter ein als vor Corona. | |
Eine Einschätzung, die ihnen während der Pandemie schwer genommen werden | |
konnte. „Während Corona lagen viele Angebote der Berufsorientierung | |
schlicht und ergreifend brach“, sagt Markus Kiss, Leiter des Referats | |
Ausbildungspolitik beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag. „Messen, | |
Schülerpraktika, Besuche von Beratern der Kammern oder Agenturen für Arbeit | |
in den Schulen waren nicht möglich.“ Das erschwere den Jugendlichen nun die | |
Berufsorientierung. | |
Besonders stark wirken sich die wegbrechenden Angebote laut | |
Bildungsforscher Wieland auf die Jugendlichen aus, die ohnehin | |
benachteiligt sind. Aus unterschiedlichen Studien wisse man schon lange, | |
dass Eltern die entscheidende Beratungsrolle spielten. „Wenn der familiäre | |
Background nicht so da ist und dann auch noch externe | |
Beratungsmöglichkeiten ausfallen, sieht es finster aus“, sagt Wieland. | |
## Schwächere Schüler*innen besonders getroffen | |
Ralf Becker von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) stellt | |
fest, dass durch die Pandemie nicht nur viele Berufsorientierungsangebote | |
ausgeblieben sind. Auch gerade die Ausbildungsplätze in Hotellerie und | |
Gaststätten, in denen in der Vergangenheit junge Menschen mit schwächeren | |
Schulabschlüssen untergekommen sind, brechen weg. Und genau bei diesen | |
dürfte die Pandemie Leistungsrückstände noch verstärkt haben, was ihre | |
Vermittlung an Ausbildungsbetriebe erschwert. | |
An Mahdis Schule, der Berliner ASIG Berufsfachschule, versuchen die | |
Lehrer*innen das aufzufangen. Ihre Schüler*innen besuchen kleine | |
Klassen und bekommen individuelle Förderung. Manchmal aber sind die | |
Vorkenntnisse in den Lerngruppen enorm unterschiedlich: So hat Mahdi an der | |
Berufsfachschule zum ersten Mal in seinem Leben Deutschunterricht, während | |
andere Schüler*innen Muttersprachler*innen sind. „Unsere Lehrkräfte | |
stehen da wirklich vor Herausforderungen“, sagt Schulvorstand Arno | |
Schelzke. | |
Zu den Förderangeboten gehörten zu Lockdown-Zeiten eine | |
Telefonsprechstunde, in den Sommerferien Nachhilfeunterricht, erzählt | |
Schelzke. Hinzu kommt das pädagogische Geschick von Lehrer*innen wie | |
Petra Ludwig. „Unsere Schüler*innen hatten alle ihre Frusterlebnisse“, | |
sagt die pensionierte Lehrerin, die so viel Spaß an der Arbeit mit den | |
jungen Menschen hat, dass sie gerne noch eine Weile weitermachen möchte. | |
„Wir müssen sie erst mal wieder zum Lernen motivieren.“ | |
Ludwig macht das, indem sie die kleinsten Erfolge würdigt, erzählt sie. Im | |
Matheunterricht beginnt sie mit schriftlicher Addition und Subtraktion, | |
nach einem halben Jahr kommen Dreisatz und Zinsrechnung hinzu. Im | |
Deutschunterricht ist das Ziel, dass ihre Schüler*innen am Ende der | |
Ausbildung eine fehlerfreie Bewerbung schreiben können. Dafür werden zwei | |
Jahre lang Grammatik und Rechtschreibung gepaukt. | |
## „Wer dranbleibt, schafft die Prüfung“ | |
Dass sie mit den Schüler*innen teilweise auf Grundschulniveau anfangen | |
muss, macht sie fassungslos: „Wie kann ich einen Schüler nach zehn Jahren | |
aus der Schule entlassen, der die Grundrechenarten nicht beherrscht?“ An | |
der Förderschule, wo sie früher unterrichtete, sei das das Mindeste | |
gewesen. Doch ihre jetzigen Schüler*innen haben sogar hier noch | |
Nachholbedarf. Am Abschluss der Ausbildung hindert sie das nicht. „Wer | |
dranbleibt, schafft die Prüfung“, sagt Ludwig. | |
Damit das klappt, ist es mit reiner Wissensvermittlung aber nicht getan, | |
weiß Schelzke. „Wir begleiten die Schülerinnen und Schüler auch in | |
Lebensfragen, reden mit Sozialarbeitern oder Eltern“, so der Schulvorstand. | |
Die kleinen Klassen erleichterten das. „Wir haben die Zeit nachzufragen, | |
was los ist, wenn die Schüler*innen bedröppelt dreinschauen“, sagt | |
Ludwig. | |
Sie erfährt von Stress in der Beziehung oder Problemen mit dem Amt. Und | |
kann gut nachvollziehen, dass ihre Schüler*innen dann nicht einfach zur | |
Tagesordnung übergehen können. „Wir holen sie da ab, wo sie stehen, und | |
bringen sie dahin, wo sie hin sollen“, fasst Ludwig das Schulkonzept | |
zusammen. | |
Die intensive Betreuung ist bei Weitem nicht die Regel an | |
Berufsfachschulen. Um Schulabgänger*innen zur Ausbildungsreife zu | |
bringen, gibt es allerdings Unterstützung der Bundesagentur für Arbeit. | |
Dazu gehört beispielsweise die sogenannte betriebliche | |
Einstiegsqualifizierung, ein sechs- bis zwölfmonatiges Praktikum, das | |
staatlich bezuschusst wird. Jugendliche und Betrieb können sich | |
kennenlernen, die Chancen auf einen anschließenden Ausbildungsplatz steigen | |
erheblich. | |
## Jugendliche fallen durchs Netz | |
In der „assistierten Ausbildung“ werden Jugendliche von | |
Sozialpädagog*innen und mit Förderunterricht unterstützt, während die | |
Betriebe eine Ansprechperson in organisatorischen Fragen und bei Konflikten | |
mit der Nachwuchskraft zur Verfügung haben. Und im Programm „VerA“, einer | |
Initiative des Senior Experten Service, wird den Auszubildenden eine | |
pensionierte Fachkraft zur Seite gestellt, die sie durch die Ausbildung | |
begleitet. So sollen Abbrüche verhindert werden. | |
„Gerade die assistierte Ausbildung ist ein Erfolgsmodell“, sagt | |
GEW-Ausbildungsexperte Becker. „Aber dass es sie gibt, ist noch nicht in | |
allen Betrieben angekommen.“ Die Hilfen würden zu selten genutzt, zu viele | |
Jugendliche fielen durchs Netz, brächen ihre Ausbildung ab oder fänden gar | |
nicht erst den Weg zum Betrieb. Den Ausweg sieht er in einer | |
[2][Ausbildungsgarantie]. | |
In Österreich gibt es eine solche Garantie bereits. Wer dort bei der | |
Bewerbung um einen Ausbildungsplatz leer ausgeht, kann sich an den | |
sogenannten Arbeitsmarktservice wenden, der in Deutschland der | |
Bundesagentur für Arbeit entspricht. Dieser bemüht sich gemeinsam mit den | |
Jugendlichen um eine Vermittlung. | |
Wenn die nicht klappt, haben die Jugendlichen Anspruch auf einen öffentlich | |
geförderten Ausbildungsplatz, deren Abschluss der betrieblichen Ausbildung | |
gleichgestellt ist. Ziel ist dennoch, dass sie aus der öffentlich | |
geförderten in die betriebliche Ausbildung wechseln – in der Mehrheit der | |
Fälle mit Erfolg. | |
## Vorbild Österreich? | |
Berechnungen der Bertelsmann Stiftung zufolge könnten mittels einer solchen | |
Ausbildungsgarantie bis zu 20.000 zusätzliche Fachkräfte pro Jahr | |
ausgebildet werden, wenn – so wie in Österreich – 40 Prozent der | |
Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz die Garantie nutzen und zwei Drittel zu | |
einem erfolgreichen Abschluss kommen. Geht mit der höheren Qualifikation | |
der Bevölkerung auch ein höheres Bruttoinlandsprodukt einher, sollten die | |
zusätzlichen Staatseinnahmen die Ausgaben nach acht Jahren übersteigen, so | |
die Bertelsmann Stiftung. | |
„Eine Ausbildungsgarantie ist nicht zielführend“, widerspricht hingegen | |
IHK-Mann Kiss. „Es kommt darauf an, dass die Jugendlichen möglichst | |
passgenau für den Arbeitsmarkt ausgebildet werden.“ Eine | |
Ausbildungsgarantie könne dazu führen, dass die Jugendlichen an ihren | |
Wunschberufen festhalten und sich den konkreten Angeboten der Betriebe | |
verweigern. Sie blieben dann nach der Ausbildung ohne Beschäftigung. | |
Bildungsfachmann Wieland sieht das anders. Staatlich geförderte | |
Ausbildungsplätze müssten eben Fachkräftebedarfen entsprechend angeboten | |
werden. „Bei der Ausbildungsgarantie wird der Wechsel in die betriebliche | |
Ausbildung angestrebt. Sie kann daher auch eine Brückenfunktion einnehmen, | |
wo Azubi und Betrieb nicht von selbst zueinander finden“, sagt Wieland. | |
„Es ist wichtig, dass die Jugendlichen überhaupt erst mal eine Ausbildung | |
machen“, findet GEW-Mann Becker. „Denn eine Ausbildung bedeutet für sie | |
einen enormen Schritt in der Persönlichkeitsentwicklung und erhöht ihre | |
Chancen auf dem Arbeitsmarkt – unabhängig davon, ob sie letztendlich in | |
ihrem Ausbildungsberuf arbeiten.“ | |
Sorgen, ob er übernommen wird, muss Mahdi sich nicht. „Es steht schon jetzt | |
zu 99 Prozent fest, dass er seinen Koch im Praktikumsbetrieb machen wird“, | |
sagt Schulvorstand Schelzke. Nach der Ausbildung möchte Mahdi ein paar | |
Jahre arbeiten und dann ein eigenes Restaurant eröffnen. Am liebsten in | |
Berlin. „Ich würde sehr gern hier bleiben“, sagt er. „Berlin ist jetzt w… | |
meine Heimatstadt.“ | |
7 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Franziska Schindler | |
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