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# taz.de -- AnalphabetInnen in Deutschland: Lesen wie ein Drittklässler
> Rund sechs Millionen Deutsche können nicht richtig lesen und schreiben,
> nur langsam sinkt ihre Zahl. Wie lässt sich diesen Menschen helfen?
Bild: Analphabet übt das Schreiben in einer Neuköllner Einrichtung
Berlin taz | JedeR achte Deutsche kann kürzere Texte nicht richtig lesen
oder schreiben und gilt damit als gering literalisiert. Insgesamt betrifft
das rund 6,2 Millionen Menschen, wie die LEO-Bildungsstudien zeigen.
Während einzelne Wörter und einfache Sätze für diese Menschen noch lesbar
sind, wird es bei zusammenhängenden Texten holprig. Mehr als die Hälfte von
Ihnen hat in der Kindheit Deutsch als Muttersprache gelernt.
Die gute Nachricht: Die Zahlen scheinen zumindest in Deutschland
rückläufig. Vor 10 Jahren waren es hierzulande noch über 7 Millionen.
[1][Bildungsministerin Anja Karliczek] wertet den Rückgang als Erfolg der
Bildungspolitik. Dazu beigetragen hätten geeignete Selbstlernangebote sowie
die Enttabuisierung des Themas, so die CDU-Politikerin.
Die Bildungsgewerkschaft GEW findet dagegen, dass dringend mehr gegen
Analphabetismus in Deutschland getan werden muss. Zum UNESCO World Literacy
Day am Mittwoch, 8. September sagte Ralf Becker, GEW-Vorstandsmitglied:
“Bis heute wird sich zu wenig um die Menschen gekümmert, die
Schwierigkeiten haben, beruflich und gesellschaftlich Fuß zu fassen.“ Die
Zahl von rund 6 Millionen gering literarisierten sei „beschämend für eines
der reichsten Länder der Welt“.
Ohnehin sehen die WissenschaftlerInnen der LEO-Bildungsstudien insbesondere
eine veränderte Bevölkerungsstruktur als Grund für die verringerte Zahl der
Menschen, die schlecht oder nicht lesen können: Bildungsstand und
Erwerbstätigkeit haben sich verbessert – durch den demografischen Wandel
kommen in den jungen Altersgruppen weniger gering Literalisierte hinzu.
Andere sind aus dem untersuchten Alter (18-64) einfach rausgewachsen.
## Immerhin das Tabu bröckelt
Was bedeutet es, nicht richtig lesen zu können? Wer Hilfe braucht, meldet
sich oft telefonisch bei Ralf Häder und seinen Kollegen vom Bundesverband
Alphabetisierung und Grundbildung e.V., einer Fach-, Service- und
Lobbyeinrichtung. Bundesweit gehören ihr 400 Institutionen und
Einzelpersonen an. „Die Sorgen, mit denen die Anrufer sich melden, sind
ganz unterschiedlich, aber alle verbindet ein momentaner, subjektiver
Leidensdruck“, sagt Häder. Sie wollen ihren Kindern vorlesen und merken,
dass das so nicht klappt. Oder sind durch einen Todesfall oder eine
Trennung aus einer Beziehung herausgefallen, in der ein Partner lesen kann
und der andere nicht.
Etwa 60 Prozent der gering Literalisierten sind arbeitstätig. Zum Beispiel
als Küchenhilfe, Reinigungskraft, Elektriker oder Fernfahrer. Durch
[2][geschickte Taktiken] verstecken sie ihren Mangel an Lese- und
Schreibkompetenz vor ihrer Umwelt. Sie lernen relevante Begriffe auswendig,
setzen auf mündliche Kommunikation oder füllen Formulare lieber zu Hause
aus – wo sie Hilfe haben. Sie bewegen sich ungefähr auf dem Lese- und
Schreibniveau von Drittklässlern.
Ralf Häder erzählt weiter: „Manchmal rufen Kinder für ihre Eltern an, oder
Menschen, die ihre berufliche Laufbahn ändern wollen oder müssen, zum
Beispiel weil neue und überfordernde Schriftanforderungen gestellt werden.“
Häder und seine Kollegen können dann aus einem Kursrepertoire von mehr als
1.100 Angeboten das passende herausfinden. „Aber vor allem fragen wir die
Anrufer zunächst: Wo drückt der Schuh? Wo brauchen Sie Unterstützung?“
Grundbildungskurse werden hauptsächlich von den Volkshochschulen angeboten
– allerdings meist kostenpflichtig. Im Kampf gegen den Analphabetismus
haben Bund und Länder 2016 die sogenannte AlphaDekade für Alphabetisierung
und Grundbildung ins Leben gerufen. Allein zum Alphabetisierungstag finden
deutschlandweit über 65 Aktionen statt. „Das ist mehr als noch vor ein paar
Jahren denkbar gewesen wäre, das Tabuthema bröckelt“, sagt Häder.
## Die Dekade ist zu kurz
Deutlich sei in Pandemiezeiten aber auch, dass die Bildungsschere schon bei
den Jüngsten weiter auseinanderklafft. Das Online-Lernen ist in beengten
Wohnverhältnissen bei weniger Unterstützung durch die Eltern schwieriger.
„Wenn Sie beispielsweise mit zwei weiteren Geschwistern im Zimmer wohnen,
können sie kaum an einem videobasierten Lernen teilnehmen,“ so Häder, „auf
Nachhilfe und Unterstützungsangebote greifen eher bildungsaffine Haushalte
zu.“
Eine vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Befragung
der Stiftung Lesen zur Halbzeit der AlphaDekade zeigt, wie Digitalisierung
das Problem verschärft: Wer bildungsfern ist, wird mit der fortschreitenden
Digitalisierung des Alltags zunehmend benachteiligt. Was vor kurzem noch
persönlich erledigt werden konnte, wie zum Beispiel Behördengänge,
Terminvereinbarungen oder Einkäufe, erfordert vermehrt Digitalkompetenz,
die wiederum Lese- und Schreibkompetenz voraussetzt.
Und der Zugang zu digitalen Bildungsangeboten fehlt. So sagen 31 Prozent
der Befragten mit einfacher Bildung, es falle ihnen schwer, hinsichtlich
der Coronapandemie die Information zu bekommen, die sie suchen und brauchen
– bei den höher Gebildeten sind es 15 Prozent. Problematisch sei dabei die
Länge, Fülle und Komplexität der Information, die insbesondere digital
verfügbar ist.
Die AlphaDekade ist jetzt in der Halbzeit. Fragt man Ralf Häder, ist eine
Dekade nicht weit genug gedacht. Es müsse mehr getan werden, längerfristig:
„Es muss deutlich werden, dass das Projekt 2026 nicht aufhört, sondern dass
es ein Thema ist, dass uns weiter verfolgt. Es muss in eine Regelförderung
übergehen und es muss mehr investiert werden in Lebenspraxis-orientierte,
flächendeckende und kostenfreie Beratungs- und Bildungsangebote.“
8 Sep 2021
## LINKS
[1] /Wissenschaftsministerin-Anja-Karliczek/!5567128
[2] /Analphabeten-in-Deutschland/!5087642
## AUTOREN
Hannes Vater
## TAGS
Lesen
Bildungschancen
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