# taz.de -- Lehrergewerkschafterin zum Schulstart: „Über Distanzunterricht n… | |
> Ayla Çelik ist Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW in NRW. Ein | |
> Gespräch über den Schulbeginn bei steigenden Corona-Inzidenzen und | |
> sichere Schulen. | |
Bild: Präsenzunterricht um jeden Preis? Die Gewerkschaft GEW lehnt das ab | |
taz: Frau Çelik, in Nordrhein-Westfalen sind die Sommerferien am Dienstag | |
zu Ende gegangen, und gleichzeitig explodieren im bevölkerungsreichsten | |
Bundesland die [1][Corona-Infektionszahlen]. Wie ist der Start ins neue | |
Schuljahr gelaufen? | |
Ayla Çelik: Die Kolleg:innen vor Ort tun alles, um trotz fehlender | |
Mittel auch unter Pandemiebedingungen so viel Bildung wie möglich zu | |
vermitteln. Leider hat das von FDP-Bildungsministerin Yvonne Gebauer | |
geführte NRW-Schulministerium aber nicht alles getan, um wie von der | |
Ministerin gefordert ‚so viel Normalität wie möglich‘ umsetzen zu können. | |
Was fehlt? | |
Vieles! Auch 17 Monate nach Beginn der Pandemie fehlen an nicht wenigen | |
Schulen grundlegende Dinge wie funktionierende Waschbecken. Auch die | |
Ausstattung mit Luftfiltern ist völlig unzureichend. Dabei rollt die vierte | |
Welle der Deltavariante – und trifft auf Jugendliche, von denen nur eine | |
Minderheit geschützt ist: Nach Zahlen des Robert Koch-Instituts, des RKI, | |
von Donnerstag sind erst 26,2 Prozent der 12- bis 17-Jährigen erstgeimpft. | |
Die zweite Impfung haben sogar nur 15 Prozent. | |
Aktuell liegt die Inzidenz in NRW bei 99,2 – Tendenz stark steigend. Bei | |
den 5- bis 14-Jährigen werden in großen Teilen des Landes Inzidenzen von | |
über 200 verzeichnet. [2][In Städten wie Leverkusen und Solingen sind es | |
sogar mehr als 500]. Können die Schulen damit ein sicherer Ort sein? | |
Sie sind sicherer als im vergangenen Jahr. Neben den 25 Prozent der älteren | |
Schüler:innen, die immerhin eine erste Impfung erhalten haben, sind auch 90 | |
Prozent der Lehrkräfte durchgeimpft. Das ist schon ein großer Schritt in | |
Richtung Infektionsschutz. Trotzdem sind sie nicht so sicher, wie sie sein | |
könnten. | |
Warum? | |
Nordrhein-Westfalen setzt auf Präsenzunterricht, der unabhängig von den | |
Corona-Fallzahlen offenbar fast um jeden Preis stattfinden soll. Das lehnen | |
wir ab. Wir brauchen klare Regeln, wie wir bei stärkerem | |
Infektionsgeschehen in den Schulen verfahren. Beispielsweise ab welcher | |
Inzidenz, ab welcher Belastung der Krankenhäuser, ab welcher Belegungsquote | |
der Intensivstationen wir wieder über Distanzunterricht nachdenken müssen – | |
wie es auch das RKI empfiehlt. Alles andere verunsichert Schüler:innen, | |
Eltern und Lehrkräfte. Deshalb gilt vor allem: Es muss jetzt alles dafür | |
getan werden, eine solche Situation zu vermeiden. Natürlich wollen auch wir | |
so viel Präsenzunterricht wie möglich – aber er muss sicher sein. | |
Stattdessen hat das NRW-Schulministerium die Quarantäneregeln aufgeweicht. | |
Ja, leider. In Quarantäne müssen nur noch unmittelbare Sitznachbarn von | |
Infizierten, also nur die Schüler:innen, die vor, hinter oder neben einem | |
Menschen gesessen haben, der das Virus in sich trägt. Das geht natürlich | |
völlig an der Lebensrealität in den Schulen vorbei: Kinder und Jugendliche | |
sind nun einmal sehr agil. | |
Ist das fahrlässig? | |
Die Aufweichung der Quarantäneregeln ist fahrlässig, ja. Besonders, wenn | |
wir alle sicheren Präsenzunterricht wollen und das Wohl der Kinder in den | |
Mittelpunkt stellen. | |
Was fordern Sie stattdessen? | |
Sicherer wäre, per genauem PCR-Test zu überprüfen, ob es noch weitere | |
Infizierte gibt – auch wenn das bedeutet, dass währenddessen die gesamte | |
Klasse, der gesamte Kurs drei bis vier Tage in Quarantäne muss und sich | |
dann schnell wieder für den Präsenzunterricht freitestet. | |
Ministerin Gebauer setzt dagegen auf eine schnelle Immunisierung zumindest | |
der 12- bis 17-Jährigen, die jetzt auch von der Ständigen Impfkommission, | |
der STIKO, empfohlen wird – etwa durch mobile Impfstationen direkt vor den | |
Schulen. Ist das keine Alternative? | |
Natürlich ist es richtig, gerade Jugendlichen möglichst viele möglichst | |
unkomplizierte Impfangebote zu machen. Die Frage ist aber, wie schnell das | |
flächendeckend möglich ist. Noch einmal: Aktuell sind gerade einmal 15 | |
Prozent von ihnen flächendeckend geschützt. Dazu kommt: Kinder unter 12 | |
Jahren werden Stand heute nicht geimpft. | |
Was bedeutet das? | |
Besonders für ungeimpfte Kinder bleibt die Deltavariante gefährlich. Schon | |
heute gibt es etwa in Gütersloh eine Grundschule, in der es in fünf von | |
sieben Klassen Infizierte gab, schon heute berichtet das RKI, manche | |
Gesundheitsämter seien nicht mehr in der Lage, alle Infektionswege | |
zurückzuverfolgen. Wir plädieren deshalb für mehr Vorsicht – und fordern | |
klare Leitlinien und Konzepte des NRW-Schulministeriums: Es muss klar sein, | |
was in welcher Situation, bei welchen Inzidenzen, bei welcher Belastung der | |
Krankenhäuser passiert. Aktuell fehlt den Schulen in dieser Hinsicht jede | |
Planbarkeit. Und natürlich müssen schnell wirkende Sofortmaßnahmen wie | |
Luftfilter flächendeckend eingesetzt werden. | |
Kritiker halten dagegen, auch Luftfilter böten keine absolute Sicherheit – | |
und setzen weiter auf viel Lüften der Klassenräume. Außerdem sind | |
Luftfilter teuer: Trotz Unterstützung von Bund und Land können sie Städte | |
hunderttausende Euro kosten. | |
Luftfilter können die Aerosolbelastung um bis zu 90 Prozent reduzieren – | |
und natürlich soll weiter gelüftet werden. Zur Finanzierung: Geld darf | |
keine Rolle spielen, wenn es um die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen | |
geht. Trotzdem ist der Bildungsbereich im größten Bundesland NRW seit | |
Jahren chronisch unterfinanziert. | |
Inwiefern? | |
Pro Bildungsteilnehmer:in gibt NRW pro Jahr nur 9.000 Euro aus – in | |
Hamburg sind es fast 12.000, in Bayern und Berlin mehr als 11.000 Euro. Der | |
Bundesdurchschnitt liegt bei 10.000 Euro. Zusammen mit Schleswig-Holstein | |
ist Nordrhein-Westfalen damit bei den Bildungsausgaben bundesweites | |
Schlusslicht. Die Folgen sind dramatisch: In NRW fehlen rund 4.000 | |
Lehrkräfte – davon rund 1.450 an den Grundschulen. Ein Grund hierfür: | |
Lehrer:innen an den Grundschulen werden verfassungswidrig und schlechter | |
bezahlt. Ihr Versprechen, dies zu ändern, hat die Landesregierung noch | |
nicht eingelöst. Dies gilt im Übrigen auch für viele Lehrer:innen an | |
Haupt-, Real-, Sekundar- und Gesamtschulen. | |
Immerhin gab es den vom Bund mit Milliarden unterstützten [3][Digitalpakt]. | |
Trotzdem bleibt die IT-Ausstattung oft nicht ausreichend: Noch immer haben | |
viele Schulen kein WLAN – und noch längst verfügen nicht alle | |
Schüler:innen über einen Laptop. Auch deren Wartung durch bezahlte | |
Systemadmistrator:innen ist zu selten gewährleistet. Stattdessen | |
wird oft immer noch mit Overheadprojektor unterrichtet. Gerade unter | |
Pandemiebedingungen wird so die Chancenungleichheit noch einmal verschärft: | |
Wer aus einer finanzstarken Familie kommt, ist oft einfach besser | |
ausgestattet. | |
Wieviel Geld fehlt denn? | |
Die Kreditanstalt für Wiederaufbau rechnet allein bei den Schulgebäuden | |
bundesweit mit einem Sanierungsstau von 46,54 Milliarden Euro. Allein in | |
NRW sind das 10 Milliarden – und das sehen unsere Kolleg:innen jeden | |
Tag: In Schulen, in denen der Putz von der Decke rieselt, kann ich einfach | |
keinen vernünftigen Unterricht anbieten. Außerdem fehlt Geld für die | |
Entlastung der Lehrkräfte, etwa durch Assistenzen für die | |
Schulleiter:innen oder mehr Schulsozialarbeit. | |
Aber ist es nicht unrealistisch, auf zusätzliche Milliarden zu hoffen? | |
Sehen Sie: Allein in NRW gibt es 2,5 Millionen Schüler:innen. Würde für die | |
so viel Geld ausgegeben wie im Bundesdurchschnitt, also 1.000 Euro mehr, | |
wären das 2,5 Milliarden – pro Jahr. Ein Ende der chronischen | |
Unterfinanzierung ist also nicht nur möglich, sondern längst überfällig. | |
Alles andere verringert die Bildungs- und damit die Lebenschancen von | |
Kindern und Jugendlichen, gerade aus finanziell schwächeren Familien. | |
22 Aug 2021 | |
## LINKS | |
[1] /NRW-vor-Schulstart-ueber-Bundesschnitt/!5793806 | |
[2] https://semohr.github.io/risikogebiete_deutschland/ | |
[3] /Digitalisierung-an-Schulen-stockt/!5698722 | |
## AUTOREN | |
Andreas Wyputta | |
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