| # taz.de -- Analphabeten in Deutschland: „Man muss besonders clever sein“ | |
| > Peter Hubertus vom Bundesverband Alphabetisierung über die Probleme und | |
| > Chancen von Analphabeten, sich in eine schriftbasierte Berufswelt zu | |
| > integrieren. | |
| taz: Herr Hubertus, in Deutschland leben 7,5 Millionen funktionaler | |
| Analphabeten. Was ist ein funktionaler Analphabet? | |
| Peter Hubertus: Das sind Erwachsene, die nicht gut genug lesen und | |
| schreiben können, um an unserer schriftbasierten Gesellschaft teilzuhaben. | |
| Wir haben keine primären Analphabeten – wegen der Schulpflicht. Manche | |
| bleiben jedoch auf dem Lese- und Schreibniveau eines Erst- oder | |
| Zweitklässlers stehen. | |
| Was verstehen diese Menschen nicht? | |
| Manche Betroffenen können nur buchstabieren, aber nicht lesen. Wenn Sie | |
| ihnen München vorbuchstabieren – EM-Ü-EN-CE-HA-E-EN –, wissen sie nicht, | |
| dass das „München“ heißt. Ihnen fehlt die Fähigkeit, Buchstaben und Laute | |
| zu Worten zu verknüpfen, was fürs Schreiben entscheidend ist. Die meisten | |
| funktionalen Analphabeten kommen aber mit dem Lesen und Schreiben von | |
| Wörtern oder leichten Sätzen halbwegs zurecht. So kommen sie vielleicht bis | |
| zum Berufseinstieg über die Runden, doch dann werden die Anforderungen | |
| meist zu groß, die unsere Wissensgesellschaft an sie stellt. | |
| Knapp 60 Prozent dieser funktionalen Analphabeten haben dennoch einen Job. | |
| Der Arbeitsplatz ist ja kein luftleerer Raum, die Betroffenen werden | |
| angeleitet, ihnen wird gezeigt, was sie tun sollen. Wer einen Arbeitsplatz | |
| ergattert hat, ist außerdem bereit, einige Mühen auf sich zu nehmen, um ihn | |
| zu halten. Bei Routinearbeiten lernen Analphabeten die wichtigen Wörter oft | |
| auswendig, eignen sich Muster an. So schlagen sie sich durch, ohne in | |
| Wahrheit richtig lesen zu können. | |
| Was, wenn Unerwartetes passiert? | |
| Überraschungen und Abweichungen vom Plan können für Analphabeten sehr | |
| unangenehm werden. Was tun, wenn die Maschine streikt, die man bedient, | |
| oder das Material ausbleibt, das man bearbeiten soll? Dann muss der oder | |
| die Betroffene Meldung machen, etwas aufschreiben – und das können viele | |
| nicht. Wenn sie Pech haben, fällt ihre Schwäche dann auf. | |
| Wie gehen Unternehmen mit solchen Mitarbeitern um? | |
| Es gibt einige Beispiele, in denen die Firmen den Betroffenen ohne viele | |
| Fragen entgegenkommen. Ich kenne türkische Frauen, die für ein | |
| Reinigungsunternehmen in einem Hotel sauber machen und dabei diverse Mittel | |
| für unterschiedliche Oberflächen benutzen müssen. Sie können nicht lesen, | |
| deswegen hat das Unternehmen ein Farbsystem entwickelt, an dem die Frauen | |
| das richtige Mittel erkennen können. | |
| Das klingt nicht gerade nach einer nachhaltigen Bildungsinvestition? | |
| De facto führt es aber dazu, dass diese Frauen ihren Job behalten können. | |
| Die meisten von ihnen sind um die 50 Jahre alt. In diesem Alter noch einen | |
| Alphabetisierungsprozess auf sich zu nehmen, um auf dem Arbeitsmarkt | |
| mitzuhalten, wäre sehr schmerzhaft für sie. | |
| Wie werden denn die Alphabetisierungskurse aufgenommen? | |
| Es gibt viel Unsicherheit. Ich weiß von einem Autohersteller in | |
| Deutschland, der Kurse anbietet, aber es wird nicht offen darüber | |
| gesprochen. Alphabetisierung ist schlecht fürs Image. Es herrscht immer | |
| noch das Vorurteil: Wer nicht lesen kann, ist dumm. Dabei ist es genau | |
| umgekehrt: Wer ohne ausreichende Lesekompetenz durch den Arbeitsalltag | |
| kommt, muss besonders clever sein. Die Unternehmen werden es sich in Zeiten | |
| des demografischen Wandels nicht mehr lange leisten können, dieses | |
| Leistungspotenzial zu vergeben. | |
| Der Industrie- und Handelskammertag beteiligt sich nicht am nationalen | |
| Alphabetisierungspakt von Bundesbildungsministerin Annette Schavan. | |
| Ich hoffe, dass trotzdem einige Unternehmen teilnehmen, auch wenn die | |
| Verbände sich der Herausforderung nicht stellen. Denn die Wirtschaft ist | |
| ein wichtiger Akteur. | |
| Warum das? | |
| Die Wirtschaft könnte das Klima der Tabuisierung aufbrechen. | |
| Wie? | |
| Die Unternehmen sollten einen offenen Diskurs zu dem Thema etablieren. | |
| Wichtig wären auch Lese- und Schreibangebote, die auf den jeweiligen | |
| Arbeitsplatz zugeschnitten sind. Das ist meiner Meinung nach manchmal | |
| wichtiger, als die Lernenden gleich auf die gesamte schriftbasierte | |
| Gesellschaft vorzubereiten und umfassendes Können abzufragen. | |
| Wie bewerten Sie den Alphabetisierungspakt generell? | |
| So etwas wie ein Pakt ist da für mich noch nicht erkennbar – bisher | |
| beteiligen sich nur Bund und Länder. Dabei haben wir klare Ziele | |
| formuliert: Wir brauchen in zehn Jahren 100.000 Angebote statt der heutigen | |
| 20.000 Kursplätze in Alphabetisierungskursen. | |
| Bisher umfasst der Pakt nur 20 Millionen Euro des Bundes – und eine | |
| gemeinsame Öffentlichkeitskampagne von Bund und Ländern. Kann man so Ihre | |
| Ziele erreichen? | |
| Sicherlich nicht, denn in diesen 20 Millionen Euro sind noch keine Mittel | |
| für Kursplätze drin. Dafür sind die Länder zuständig, und da zeigt sich ein | |
| sehr durchwachsenes Bild: In manchen Ländern, wie Niedersachsen, | |
| Rheinland-Pfalz oder Nordrhein-Westfalen, steht die Alphabetisierung im | |
| Weiterbildungsgesetz und ist deshalb ganz gut aufgestellt. Wo das nicht der | |
| Fall ist, gibt es viel weniger Lese- und Schreibkurse. Die Länder müssen | |
| sich für die Grundbildung als zuständig erklären. Hier warte ich auf einen | |
| Durchbruch. | |
| 1 Aug 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Karen Grass | |
| ## TAGS | |
| Literatur | |
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