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# taz.de -- Schnörkelloser Schreiben: Gekrittel am Gekrakel
> Weg mit den Schnörkeln und Bögen: Deutsche Grundschüler sollen eine neue,
> einfachere Schrift lernen. Bringt das was? Eine Bestandsaufnahme.
Bild: Sieht doch gut aus mit den Schnörkeln: Schüler beim Kreide schwingen.
BERLIN taz | Geht es um die Atomkraft? Oder den Bahnhof? Viele denken, dass
sich Grün-Rot in Baden-Württemberg bei den Großprojekten bewähren muss.
Dabei sind es die Miniaturen: Wie man ein Köpfchen-"e" flüssig hinbekommt.
Wie die Achterbahn des kleinen "k" richtig läuft. Die konservative
Kultusministerin Marion Schick wollte im kommenden Schuljahr mit der
Revolution der Schrift beginnen. An einigen Schulen wollte sie die
Schreibschrift eliminieren - und an deren Stelle eine neue Druckschrift
setzen.
Jetzt, da Schicks Regierung abgewählt wurde, hat sie den Schreibkampf noch
lange nicht verloren. Denn der Grundschulverband kämpft für dieselbe Sache
weiter. Mit mehr als 10.000 Mitgliedern will die Initiative die sogenannte
Grundschrift durchsetzen. Will einen Schlusspunkt hinter die Schnörkel
setzen. Klarheit und Bildungsgleichheit schaffen. Grün-Rot muss also
entscheiden: die Schreibschrift ins Museum - oder die Schriftkultur
bewahren?
Glaubt man Horst Bartnitzky, ist das Ganze kinderleicht. Der Autor diverser
Lehrwerke über den Schreibunterricht ist überzeugt, dass die neue
Grundschrift Schüler von einer schweren Last befreit: Bisher musste erst
die Druckschrift angeeignet - und dann nach ein bis zwei Jahren mühsam eine
Schreibschrift hinzugelernt werden, die wieder ganz anders aussieht. "Die
Kinder sollten von Anfang an mit jener Schrift das Schreiben lernen, mit
der sie das Lesen lernen", sagt Bartnitzky.
## Baumarktsystem
Hierfür hat er die neue Grundschrift mitentwickelt. Deren Buchstaben seien
für Kinder gut erkennbar - und würden schnell zu einer eigenen Handschrift
führen. Bartnitzky hat für seine Schrift ein Argument parat, das geradezu
märchenhaft klingt: Kinder lernen sie quasi von allein. "Jedes Kind kann
die Buchstabenverbindungen ausprobieren, die für seine Hand gut geeignet
sind", sagt er. Schreibenlernen nach dem Baumarktprinzip: Jeder nimmt sich,
was er braucht.
Ute Andresen wird mit so einer Methode nicht glücklich. Sie sieht sie als
Beweis dafür, dass die Einführung einer neuen Schrift verantwortungslos
ist. "Wir können es doch nicht den Kindern überlassen, sich die Handschrift
selbst beizubringen", sagt sie. "Das wäre der Verrat unserer Schriftkultur
durch Verrat des pädagogischen Auftrags."
Ute Andresen ist nicht irgendwer. In Schreibwerkstätten sitzen ihr Dutzende
Lehrer zu Füßen. Und das bei jedem Kongress. Andresen, einst Präsidentin
der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben, vertritt das Credo:
"Die Handschrift ist unersetzbar."
Sie zu beherrschen sei der fundamentale Akt des Lernens. "Schreibschrift
lernen ist mehr als das Verketten von Buchstaben zu Informationen; es
enthält motorische und ästhetische Lernvorgänge und fokussiert das Denken."
Wer sie abschaffe, riskiere Analphabetismus.
Jeder Mensch hat zu seiner Handschrift ein Verhältnis. Oft ist es ein
traumatisches, da Schönschreiben in der Schule wie zu Hause Terror bedeuten
konnte. Vielleicht wird deshalb so leidenschaftlich um die Schrift
gekämpft, seit 200 Jahren.
Es begann mit dem Streit um die Frage, was wohl deutscher ist: die Fraktur
oder die Antiqua? Adolf Hitler entschied dies 1941 noch im Alleingang. Er
erklärte die Fraktur zu "Judenlettern" - und taufte die Lateinische Antiqua
frech in "Deutsche Normschrift" um. Schrift ist auch Herrschaftsinstrument.
Hitler wollte, dass alle unterworfenen Völker seine Schrift erkennen
konnten.
## Föderativer Schriftsalat
Der Alltag der Schrift ist die Schule. In der jungen Bundesrepublik wurde
die Normschrift zur "Lateinischen Ausgangsschrift" umgeschnitten - weil die
leichter zu erlernen sei. Dann entstanden "Vereinfachte Ausgangsschrift"
(im Westen) und "Schulausgangsschrift" (im Osten) - ebenfalls weil sie die
Schreibdidaktik angeblich verbesserten.
In den Schulen wurde dadurch jedoch ein regelrechter Schriftensalat
angerichtet: Weil man Schriften im föderalen Staat nicht dekretieren kann,
unterscheidet sich der Schreibunterricht seitdem von Land zu Land, in
manchem sind zwei Schriften nebeneinander möglich. Ob die Grundschrift als
fünfte Ausgangsschrift innerhalb von siebzig Jahren dem allem abhelfen
kann?
Schon die Vereinfachte Ausgangsschrift war als große Rettung gepriesen
worden - und gescheitert. 1970 fand der Göttinger Grundschullehrer Herbert
Grünewald mithilfe eines Skriptografen heraus, dass die Lateinische
Schreibschrift Kinder oft zu Unterbrechungen im Schreibfluss zwang. Später
gab er kleinlaut zu, dass man bei seiner Vereinfachten Ausgangsschrift "im
Mittel genauso oft [an]halten" musste. Dennoch erhielten seine Buchstaben
den Segen der Kultusminister.
Die Vereinfachte Ausgangsschrift war alles andere als ein Durchbruch. Schon
damals wetterte der Erziehungswissenschaftler Wilhelm Topsch, dass es
keinerlei wissenschaftliche Belege für die angeblichen Vorteile der
Vereinfachten Ausgangsschrift gebe - außer denen, die ihr Erfinder selbst
produziert hatte. Heute ist Kritik an der Grünewaldschen Ausgangsschrift
allgegenwärtig.
## Versuch und Irrtum
Kinder müssten sich "viele der mühsam antrainierten Bewegungsabläufe bei
der Weiterentwicklung zu einer flüssig zu schreibenden persönlichen
Handschrift wieder abgewöhnen", bemängelt etwa Erika Brinkmann.
Brinkmann ist Professorin für Deutschdidaktik und Landesvorsitzende genau
des Grundschulverbandes, der die Revolution nun beginnen will. Aus der
überhastet eingeführten Ausgangsschrift zieht sie den Schluss: Es muss
wieder eine neue Schrift her - die Grundschrift. Das könnte die zweite
Einführung einer Schrift nach der Methode Versuch und Irrtum werden.
In den USA ist man einen Schritt weiter. Dort kann man beobachten, was
geschieht, wenn Studenten ihre Eingangstests nur noch auf Papier drucken -
85 Prozent schreiben durchgehend in Großbuchstaben. Und die Forscher
warnen. Ihre Untersuchungen zeigen, dass Schüler ohne eine früh erworbene
flüssige Handschrift zu simpel und zu kurz denken.
30 Apr 2011
## AUTOREN
Christian Füller
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