# taz.de -- Weniger Ausbildungsverträge: Im Corona-Loch | |
> Durch die Coronakrise drohen mehr Ausbildungsplätze verloren zu gehen. | |
> Gewerkschaften und Bertelsmann-Stifung fordern eine Ausbildungsgarantie. | |
Bild: Hat einen Ausbildungsplatz bekommen: Die angehende Drechslerin Takayo Miu… | |
HAMBURG taz | Corona erfordert Geduld von Samira. Schon 2019 erwarb die | |
heute 17-Jährige ihren Ersten Schulabschluss (ESA). Sie liebte Kochkurse | |
und war sich sicher, später in die Gastronomie zu wollen. Nachdem sie im | |
November 2020 ein Hotelpraktikum machte, kam die Zusage für eine Ausbildung | |
zum 1. März. Doch nun sind die Hotels zu, die Ausbildung startet frühestens | |
im August. Bis Samira 18 ist, heißt das, sie muss weiter zur Schule gehen | |
und warten. | |
Die Coronakrise spürt auch Elektromeister Kai Schröder. Seine Firma mit 16 | |
Beschäftigten in Rellingen vor Hamburg nimmt jedes Jahr einen Azubi auf. | |
Üblicherweise kommen vorher vier, fünf Praktikanten, um auszuprobieren, ob | |
das Elektrikerhandwerk etwas für sie ist. „Die müssen Lust und Liebe für | |
diesen Beruf entwickeln“, sagt Schröder. „Es nützt nichts, wenn einer nur | |
kommt, weil Vater und Mutter ihn drängen“. Doch nachdem im Lockdown die | |
Praktikaphasen der Schulen ausgefallen sind, hatte er 2021 noch keinen | |
einzigen Praktikanten. Laut Handwerkskammer finden manche Betriebe derzeit | |
[1][gar keine Azubis]. | |
Fest steht für Auszubildende ebenso wie für Betriebe: Die Coronakrise | |
erschwert die Suche und Vermittlung von Ausbildungsplätzen. Von einem | |
richtigen „Corona-Loch“ in 2020 berichtet die Sprecherin der | |
Handwerkskammer Hamburg, Christiane Engelhardt. Je nach Fachkammer wurden | |
in Hamburg 13 bis 15 Prozent weniger Lehrverträge abgeschlossen als 2019. | |
Das deckt sich mit dem Bundestrend. | |
Im Jahr 2020 unterschritt die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge | |
mit 467.484 erstmals die Marke 500.000. 2019 waren es noch 525.039. | |
Besonders starke Rückgänge gab es bei Industrie und Handel, [2][wie das | |
Bundesinstitut für Berufliche Bildung (BIBB) berichtet]. Der Einbruch sei | |
vergleichbar mit dem der Finanzkrise von 2008 und 2009. Auch damals sank | |
das Angebot um rund 54.000 Plätze, die Nachfrage um rund 59.400. Nur, dass | |
damals auch die Schulabgängerzahlen zurückgingen. Anders in diesem Jahr: | |
Nach [3][Schätzung der Kultusminister] werden sie leicht steigen. | |
## Weniger Ausbildungsplätze im Jahr 2021 | |
Und damit steigt voraussichtlich auch die Zahl derer, die keinen | |
Ausbildungsplatz finden werden. Denn laut einer [4][Befragung des | |
Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB)] will 2021 | |
jeder zehnte ausbildungsberechtigte Betrieb weniger Lehrstellen besetzen. | |
Besonders häufig äußerten dies [5][Betriebe aus dem Gastgewerbe], die von | |
der Krise stark betroffen sind. | |
Oft werden die Ausbildungen im Gastrobereich von Schülern mit Erstem | |
Schulabschluss – je nach Bundesland auch Hauptschulabschluss oder | |
Berufsbildungsreife genannt – gewählt. „Wir haben Sorge, dass sie besonders | |
stark betroffen sind“, sagt Ansgar Klinger, Vorstandsmitglied der | |
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Deutschland solle deshalb | |
nach dem Vorbild Österreichs eine Ausbildungsgarantie einführen. „Wir | |
fordern eine Ausbildungsgarantie für alle jungen Menschen bis 27 Jahre“, | |
sagt auch Lars Geidel, Jugendbildungsreferent der DGB-Jugend Hamburg. | |
Dafür macht sich auch die Bertelsmann-Stiftung stark. Eine Umfrage der | |
Stiftung unter 1.700 Jugendlichen ergab, dass sich Abiturienten viel | |
weniger um einen Studienplatz sorgen als Schulabgänger um eine Ausbildung. | |
Wer Abitur hat, habe in Deutschland eine weitgehende Studiengarantie, sagt | |
Vorstand Jörg Dräger. Da sei eine „Ausbildungsgarantie“ als ebenbürtige | |
Sicherheit geboten. | |
78.000 Schulabgänger fanden allein 2020 keinen Platz und landeten in | |
Übergangsmaßnahmen, sagt Bertelsmann-Experte Frank Frick. Von insgesamt | |
260.000 jungen Menschen in „Warteschleifen“ sei die Hälfte nach zwei Jahren | |
immer noch ohne Ausbildungsplatz. Jeder sechste der 25- bis 35-Jährigen sei | |
ungelernt. Hinzu komme: Die jetzt verlorenen Ausbildungsplätze kämen nicht | |
wieder. „Wir haben eine Strukturkrise, auf die müssen wir anders reagieren. | |
Es gibt ein Marktversagen. Punkt.“ | |
## Von Österreich lernen | |
Österreich hingegen, so Frick, garantiere jedem jungen Menschen bis 25 | |
Jahre eine Ausbildung. Die jungen Leute besuchen einen zehnwöchigen | |
Vorbereitungskurs und schließen einen Ausbildungsvertrag mit einem Träger | |
ab. In der Regel wechseln sie nach einem Jahr aus der Überbetrieblichen | |
Ausbildung (ÜBA) in einen Betrieb. Wird partout keiner gefunden, findet die | |
Ausbildung überbetrieblich statt. | |
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag lehnt den Vorstoß ab. Eine | |
Ausbildungsgarantie sei weder sinnvoll noch zeitgemäß, kommentierte | |
Vize-Geschäftsführer Achim Dercks im Sommer diese Pläne. „Das sieht die | |
Wirtschaft in Österreich ganz anders“, kontert Frick. „Die unterstützt die | |
Ausbildungsgarantie, hat sie sogar mitentwickelt.“ Und es blieben kaum noch | |
Jugendliche auf der Strecke. So wechselten zwei von drei ÜBAs zügig in | |
einen Betrieb. Zudem werde die Auswahl der Berufe mit der lokalen | |
Wirtschaft abgestimmt. | |
[6][Schritte in Richtung einer Ausbildungsgarantie] unternimmt die | |
Hamburger Politik. Zunächst wird durch die „Jugendberufsagentur“ verfolgt, | |
wo die Schulabgänger bleiben. Die Statistik für 2020 war besorgniserregend. | |
51 Prozent der Schüler, die nach der 10. Klasse abgingen, landeten in der | |
sogenannten „Ausbildungsvorbereitung Dual“ (AV-Dual). | |
Dort erfüllen die Jugendlichen ihre Schulpflicht, gehen in der Regel zwei | |
Tage pro Woche zur Schule und drei Tage in ein Praktikum. Zwar gilt nach | |
einem Jahr meist die Hälfte der AVler als versorgt, jedoch zählt dazu auch, | |
wer eine Beschäftigung ohne Ausbildung begonnen hat. | |
## Ausbildungsgarantie auf dem Papier | |
Auf dem Papier gibt es in der Hansestadt zwar bereits eine | |
Ausbildungsgarantie. Schlicht „Berufsqualifizierung“, also „BQ“, heißt… | |
Modell, das jenen, die keine Lehre finden, wie in Österreich schon ab dem | |
ersten Tag eine Ausbildung bietet. | |
Wegen der Pandemie hat Hamburg das zunächst auf bestimmte Berufe begrenzte | |
Programm für alle Berufe geöffnet und 439 Teilnehmer aufgenommen, wie Maik | |
Wantikow vom Hamburger Institut für berufliche Bildung (HIBB) berichtet. | |
Allerdings müssen sich die jungen Leute für die Ausbildung bei der Stadt | |
bewerben und nachweisen, dass sie sich auf dem Markt bemüht haben. Nicht | |
jeder wird genommen. | |
Der 17-jährige Kamil hatte Glück. Über das BQ ergatterte er eine Lehrstelle | |
als „Fachlagerist“. Kamil kam mit 14 aus Polen nach Hamburg und machte im | |
Sommer seinen ESA. Das erste halbe Jahr BQ ist schon vorbei, in anderthalb | |
Jahren kann er fertig sein. Knüpft er ein drittes Jahr dran, kann er | |
„Fachkraft für Lagerlogistik“ werden und somit nicht nur Waren managen, | |
sondern auch Touren planen. Ein wichtiger Beruf in der Hafenstadt. | |
Hätte Kamil keinen Lehrbetrieb gefunden, hätte die „Hamburger | |
Ausbildungsgarantie“ gegriffen und der 17-Jährige überbetrieblich weiter | |
lernen können. Aber bisher habe es nur sehr wenige solcher Fälle gegeben, | |
sagt Wantikow. Und das sei gut so. „Akteure in Hamburg sind sich einig, | |
dass die Ausbildung in einem realen Betrieb durch nichts zu ersetzen ist“. | |
## 50 Bewerbungen, keine Antwort | |
„Das BQ ist für,marktbenachteiligte' Jugendliche, die Pech im | |
Bewerbungsprozess hatten“, so Wantikow. Wie zum Beispiel der Abiturient | |
Hussein Sammo Derbala. Vor fünf Jahren kam er aus Syrien nach Deutschland. | |
Letzten Sommer suchte er eine Zahntechnikerlehre. „Ich habe mich über 50 | |
Mal beworben und bekam keine Antwort“, sagt er. Dann begann er ein BQ. | |
Mithilfe von Ausbildungsbegleiterin Margitta Foelster erhielt er zügig | |
einen Ausbildungsplatz. „Das hat geklappt, weil ich dem Betrieb das BQ | |
erklären konnte“ sagt Foelster. Sie habe mittlerweile ein Netzwerk. „Es | |
hilft, dass ich mit den Leuten spreche.“ | |
Ursprünglich waren in dem 2009 entwickelten Hamburger Modell 1.000 | |
staatlich geförderte Ausbildungsplätze vorgesehen. Der Berufsschulexperte | |
und Linken-Politiker Kay Beiderwieden begleitet die Reform seit Jahren | |
kritisch. Denn es würden zu wenige Bewerber in die BQ gelassen und zu viele | |
abgelehnt, sagt Beiderwieden. So standen etwa 2013 533 Bewerber nur 198 | |
Teilnehmern gegenüber. „Die Hürden sind zu hoch.“ Hamburg müsse das BQ | |
dringend bedarfsgerecht ausdehnen. | |
Bertelsmann will nicht locker lassen und bald eine Berechnung | |
veröffentlichen, was eine echte Ausbildungsgarantie für Deutschland kostet. | |
Frühere Berechnungen gingen von 1,5 Milliarden Euro pro Jahr aus, so Frick. | |
Das sei angesichts der 500 Milliarden Euro Schulden, die Deutschland zur | |
Pandemiebewältigung aufnimmt, vertretbar. Dass ein Sechstel der jungen | |
Menschen ohne Ausbildung bleibt, „dürfen wir uns als Fachkräftegesellschaft | |
nicht weiter leisten.“ | |
Wenigstens kleine Schritte gibt es: Im Aufruf „Ausbildung trotz(t) Corona“ | |
fordern die Handwerkskammer und 18 weitere Kammern und Verbände die | |
Betriebe auf, freie Plätze mindestens in bisheriger Zahl anzubieten, um | |
einen „verlorenen Coronajahrgang“ zu vermeiden. | |
Und dann sind da die engagierten Ausbilder wie Hörgeräteakustiker Per | |
Zacho. Er hat einen zusätzlichen Azubi genommen. Für das Online-Lernen an | |
der Berufsschule stellt Zacho seinen Azubis Laptops zur Verfügung. Und | |
Friseur Björn Hauto darf in seinem 80-Quadratmeter-Salon zwar statt acht | |
nur vier Kunden gleichzeitig bedienen. Doch damit seine Auszubildenden | |
trotzdem an Modellen üben können, bleibt er noch nach Ladenschluss. | |
31 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Azubimangel-im-Bau/!5702828 | |
[2] https://www.bibb.de/dokumente/pdf/ab11_beitrag_ausbildungsmarkt-2020.pdf | |
[3] https://www.kmk.org/dokumentation-statistik/statistik/schulstatistik/voraus… | |
[4] https://www.iab-forum.de/jeder-zehnte-ausbildungsberechtigte-betrieb-koennt… | |
[5] /Gastgewerbe-in-der-Pandemie/!5759426 | |
[6] /Institutsleiterin-ueber-Azubis/!5723493 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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