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# taz.de -- Transsexualität und Politik: Ihr langer Kampf um Akzeptanz
> Im Herbst werden wohl erstmals transsexuelle Abgeordnete in den Bundestag
> ziehen. Eine von ihnen ist die Grüne Tessa Ganserer aus Nürnberg.
Bild: Für die Grünen in den Bundestag: Tessa Ganserer
Nürnberg taz | „Wie alt war Ihre Mutter, als sie mit Ihnen schwanger war?
Hat sie vorher abgetrieben?“ Tessa Ganserer beugt sich nach vorne und
schaut dem Gegenüber tief in die Augen. „Wann haben Sie sich zum ersten Mal
selbst befriedigt? Ziehen Sie doch mal Ihren Pullover aus. Wie waren Sie
denn in Deutsch? Und in Mathe? Stehen Sie auf Analsex?“ Tessa Ganserer
lehnt sich wieder zurück. Das sei nur so ein kleiner Ausschnitt aus dem
Standardrepertoire, sagt sie.
Sie meint das Standardrepertoire der Fragen, die Transsexuelle über sich
ergehen lassen müssen, wenn sie amtlich in ihrem richtigen Geschlecht
anerkannt werden möchten. Wer das in Geburtsurkunde und Ausweis
eingetragene Geschlecht ändern lassen will, muss zwei psychologische
Gutachten über sich anfertigen lassen – Kostenpunkt: bis zu 3.000 Euro –
und einen Transsexuellen-Lebenslauf schreiben. „Und dann entscheidet ein
Richter, ob der Staat Sie so akzeptiert, wie Sie sind.“
Das [1][Transsexuellengesetz von 1980] will es so. Bis vor zehn Jahren
mussten sich transsexuelle Menschen auch einer geschlechtsangleichenden
Operation unterziehen und den Nachweis der eigenen Unfruchtbarkeit
erbringen, ehe eine Personenstandsänderung möglich war. Diese Vorgaben hat
das Bundesverfassungsgericht jedoch gekippt.
Natürlich möchte auch die Grünen-Politikerin Tessa Ganserer endlich den
Namen Tessa auf ihrem Personalausweis lesen; aber sich dafür den
psychologischen Gutachten zu unterziehen kommt für sie nicht in Frage. „Das
mach’ ich nicht, und ich werd’ mich auch vor keinen Richter stellen – weil
das einfach entwürdigend ist.“
## Demütigungen im Alltag
Und so sind es diese anderen Erniedrigungen, die schon fast zu Ganserers
Alltag gehören: Ob Coronaschnelltest, Impfung oder Einchecken im Hotel –
„bei solchen Sachen mach' ich mir Tage vorher Gedanken, wie das wieder
wird. Ich kann in dem Land nicht einmal einen Mietwagen mieten, ohne dass
ich wildfremden Menschen, die das überhaupt nichts angeht, unter Umständen
im Beisein von unbeteiligten Dritten, meine Transsexualität erklären muss.
Das ist demütigend.“
Je emotionaler es wird, desto öfter verfällt Ganserer in den Dialekt. Nicht
ins Fränkische ihrer langjährigen Wahlheimat Nürnberg, sondern ins
Bairische. Geboren wurde sie 1977 in Zwiesel im Bayerischen Wald. Wieso
kann es nicht einfach so laufen wie in Dänemark, Belgien, Malta oder
Irland, fragt sich Ganserer. „Da geh' ich aufs Standesamt und erkläre:
Tschuldigung, da ist ein Fehler passiert. Man hat mich halt bei der Geburt
nicht gefragt, aber jetzt hätte ich das bitte gerne korrigiert.
Bearbeitungsgebühr: 40 Euro. Stempel drauf, bitte, danke, auf Wiedersehen,
alles gut. Wo ist das Problem?“
Das Transsexuellengesetz ist einer der Gründe, weshalb Ganserer im Alltag
immer wieder Demütigungen über sich ergehen lassen muss. Und es ist einer
der Gründe, weshalb die Nürnbergerin jetzt in den Bundestag will – und so
wie es aussieht, ab Herbst dort auch eine neue Wirkungsstätte haben wird.
Mit Ganserer und Nyke Slawik aus Nordrhein-Westfalen werden die Grünen
aller Voraussicht nach erstmals zwei offen transgeschlechtliche Menschen in
den nächsten Bundestag schicken, mit Victoria Broßart aus Oberbayern könnte
vielleicht sogar noch eine dritte dazukommen.
Bisher ist Ganserer noch Abgeordnete im bayerischen Landtag. 2013 wurde die
gelernte Försterin, die 1998 bei den Grünen eingetreten war, zum ersten Mal
ins Parlament gewählt, 2018 wiedergewählt. Erst nach der letzten
Landtagswahl outete sie sich öffentlich als transsexuell. „Der Schritt war
damals nicht mutig“, sagt sie, „sondern ich war am Ende meiner Kräfte. Ich
konnte einfach nicht mehr anders.“ Ganserer sitzt auf der Terrasse des
Cafés im Nürnberger Literaturhaus. Ein regelmäßiger Gast, man kennt sie,
begrüßt sie herzlich. Sie bestellt ein Wiener Schnitzel mit Spargel.
## „Ich habe mich viele Jahre für das geschämt, was ich bin“
„Das letzte Jahr vor der Landtagswahl war das schlimmste meines Lebens“,
sagt sie. Sie erzählt von einem jahrelangen Prozess eines inneren
Coming-outs, einem Erweckungserlebnis, als sie irgendwann plötzlich einem
Impuls gefolgt ist, sich Frauenkleider angezogen und sich geschminkt habe,
aber auch von der eigenen erschrockenen Reaktion, von der Schwierigkeit,
sich selbst zu akzeptieren. „Ich habe mich viele, viele Jahre so sehr für
das geschämt, was ich bin.“
Lange Zeit kann sich Ganserer nicht einmal ihrer Partnerin anvertrauen. Sie
heiraten, bekommen zwei Kinder. Irgendwann öffnet sich Ganserer ihr
gegenüber. Ihre Frau akzeptiert, dass der Mensch, den sie geheiratet hat,
nicht der Mann ist, für den sie ihn hielt. Die beiden Frauen bleiben
zusammen, doch für die Umwelt bleibt Ganserer ein Mann. Zuletzt wagt sie
sich das eine oder andere Mal im Frauenoutfit nach draußen, geht heimlich
in Nürnberg shoppen. Lange blonde Haare statt Glatze, glatte Wangen statt
Vollbart.
Ganserer fragt den Kellner nach einem Aschenbecher, dreht sich eine
Zigarette.
Im November 2018 dann also – die Landtagswahl ist gerade mal drei Wochen
her – das öffentliche Coming-out. Ganserer hat Angst. Sie weiß, dass jetzt
etwas Großes auf sie zukommt. Sie weiß noch nicht, was. Der erste Schritt
in die Öffentlichkeit ist zunächst noch ein zögerlicher. Ein Zugeständnis
vielleicht an den vermuteten Erwartungsdruck der Gesellschaft, dem sie sich
ohnehin schon so lange gebeugt hat. Tessa Ganserer kündigt an, ihrer
Abgeordnetentätigkeit weiterhin als Mann nachgehen, in zwei Geschlechtern
leben zu wollen.
Die Süddeutsche Zeitung, die sie für den Schritt in die Öffentlichkeit
gewählt hat, schreibt damals noch: „Er ist gerne Mann, aber eben auch gerne
Frau.“ Ein paar Wochen später, nach Weihnachten, räumt sie damit auf. Nein,
sie ist Tessa. Nur Tessa.
## „Andere haben schwule Söhne, und du bist halt a Frau“
Die Reaktionen sind positiv. Nicht nur bei den Grünen. „Auch andere
Kollegen haben mir gesagt, wenn mir aus ihrer Fraktion irgendjemand blöd
käme, solle ich mich bei ihnen melden, sie würden dann sofort
intervenieren. Das hat mir sehr gut getan.“ Nur einzelne Abgeordnete der
AfD fallen aus dem Rahmen. „Auf den Fluren grüßen die mich anständig, aber
dann verbreiten sie im Netz Häme und Spott.“
Umso schöner etwa die entspannte Reaktion des eigenen Vaters: „Er meinte:
Ja, das kommt vor. Andere haben schwule Söhne, und du bist halt a Frau.“
Das Coming-out war ein Befreiungsschlag für Tessa Ganserer, aber doch einer
mit heftigen Begleiterscheinungen. Es sind vor allem die sogenannten
Sozialen Medien, in denen ihr „wirklich enthemmter Hass“ entgegenschlägt,
aber auch auf der Straße erfährt sie immer wieder Anfeindungen und
Ausgrenzung. Leute, die mit dem Finger auf sie zeigen, über sie lachen, ihr
„Scheiß-Transe“ hinterherrufen. Was sie besonders getroffen hat: Einmal hat
sich eine Frau im Vorbeigehen bekreuzigt.
Daneben gibt es noch diese vermeintlichen Kleinigkeiten, die oft noch nicht
einmal Absicht sind und doch verletzen: wenn jemand beispielsweise sagt,
sie sei als Mann geboren oder dass sie sich entschieden habe, eine Frau zu
werden. oder auch schlicht die Nennung ihres früheren Vornamens. „Ich habe
so sehr unter dieser falschen Rolle gelitten, dass es mich aufwühlt ohne
Ende, wenn ich ständig meinen Deadname hören muss.“
## Politik und Biografie greifen stark ineinander
Und natürlich ist man dann ganz schnell bei der Frage: Wann ist eine Frau
eine Frau? „Das Wissen, welches Geschlecht Sie oder ich haben, das finden
Sie nicht in Ihrer Hose oder unter meinem Rock“, sagt Tessa Ganserer. Die
Wissenschaft habe längst erkannt, dass sich Geschlechtlichkeit nicht allein
an Körpermerkmalen festmachen lasse.
Natürlich verunsichere das viele Menschen, erschüttere ihr Weltbild. „Aber
ein Penis ist nun mal nicht per se ein männliches Genital. Es gibt halt
auch Frauen, die einen Penis haben. Und es gibt Männer, die können ein Kind
gebären. Und das ist unser gutes Recht. Ein Recht, das uns die Politik
jahrzehntelang verwehrt hat, das uns aber das höchste Gericht in diesem
Land längst zugesprochen hat.“
Mit ihrer Erscheinung hat sich auch der politische Schwerpunkt Ganserers
verändert. Sie ist inzwischen queerpolitische Sprecherin ihrer Fraktion,
Politik und Biografie greifen stark ineinander – was die Sache nicht immer
leichter macht. „Das ist emotionale Schwerstarbeit. Es gibt Tage, da hab’
ich einfach genug. Und dann möchte ich mich nicht mehr mit dem Thema
beschäftigen.“
Schließlich hat sie privat schon genug mit ihrer Transition, also dem
Übergang zum Leben als Frau, zu tun. Die Politikerin hadert mit ihrem
Aussehen, ihrer Stimme. „Meinen transgeschlechtlichen Hintergrund schaut
man mir an der Nasenspitze an. Ich mach’ mir da nichts vor“, sagt sie.
„Aber das macht’s halt auch wahnsinnig schwer, weil die gesellschaftliche
Akzeptanz so dermaßen vom Aussehen abhängig ist.“
Ein trans Mann mit einem Rauschebart oder das 23-jährige Model, das bei
Heidi Klum abräumt, die hätten es da schon einfacher. „Dann fällt es der
Gesellschaft leicht, diesen Menschen in seiner Geschlechtlichkeit
anzunehmen. Wenn aber jemand wie ich 40 Jahre lang einen krankhaft hohen
Testosteronwert hatte, so dass auch eine gegengeschlechtliche
Hormontherapie den angerichteten Schaden nicht mehr beheben kann, ist man
ständig irgendwelchen irritierten, gaffenden Blicken ausgesetzt.“
## „Wir werden um Platz eins streiten“
Ganserer trägt ein dunkelgemustertes Sommerkleid, das reichlich Bein zeigt,
darüber eine dünne Lederjacke, und Sneakers von Converse. Die Fingernägel
sind hellblau lackiert. Und immer wieder fragt sie sich: Für wen mach’ ich
das? Der Haarersatz, die Bartepilation, eine eventuelle Stimmband-Operation
oder mögliche „gesichtsfeminisierende Maßnahmen“?
Ganserer ist bei vielen Entscheidungen noch immer hin- und hergerissen, hat
wenig Lust, sich auf den OP-Tisch zu legen. „Ich wäge da tausendmal ab.
Brauch’ ich das für mich? Oder nur, um es dieser Gesellschaft leichter zu
machen?“ Sehr private Fragen. Und doch im Falle von Tessa Ganserer immer
auch gleich die große Politik. Der „transgeschlechtliche Hintergrund“ ist
längst in den Vordergrund getreten, Ganserer ist zu einer Galionsfigur des
[2][Kampfs der transsexuellen Menschen in Deutschland] geworden. Eines
Kampfs um gleiche Rechte, aber auch um gesellschaftliche Akzeptanz.
Da aber über Themen wie das Transsexuellengesetz nicht der Landtag, sondern
der Bundestag entscheidet, steht relativ bald nach dem Coming-out die Frage
im Raum, ob in Berlin nicht der geeignetere Arbeitsplatz für Ganserer wäre.
Erst sind es andere, die sie an Ganserer herantragen, irgendwann findet sie
selbst Gefallen an der Idee. 2020, im ersten Lockdown, schließlich fällt
die Entscheidung.
Jetzt will Ganserer die erste Grüne seit Petra Kelly werden, die aus
Nürnberg in den Bundestag zieht. Und dass sie es wird, daran besteht kaum
ein Zweifel, die bayerischen Grünen haben sie auf Platz 13 aufgestellt.
Aber das genügt Ganserer nicht, sie will dem CSU-Abgeordneten Sebastian
Brehm das Direktmandat abluchsen: „Wir werden um Platz eins streiten, nicht
nur um Zweitstimmen kämpfen.“
Dass auch dieses Unterfangen nicht aussichtslos ist, verdankt sie nicht
zuletzt Armin Laschet. Hätte der in der K-Frage klein beigegeben, hätte sie
in ihrem Wahlkreis vermutlich einen ungleich stärkeren Gegner gehabt:
CSU-Chef Markus Söder.
So hofft sie nun, dass genügend Nürnberger ihr Kreuz bei ihrem Namen
machen. Ob der allerdings in korrekter Form auf dem Stimmzettel stehen
darf, darüber muss die Kandidatin gerade noch mit dem Landeswahlleiter
verhandeln.
26 Jul 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Dominik Baur
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