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# taz.de -- trans Aktivistin startet Petition: Sie möchte selbst bestimmen
> Emma Kohler ist 17 Jahre alt und trans. Mit einer Petition für ein neues
> Selbstbestimmungsgesetz übt sie Druck auf die Politik vor den Wahlen aus.
Bild: Vielseitig politisch unterwegs: Die 17-jährige Emma Kohler
Traunstein taz | Emma Kohlers neues Leben beginnt mit einer
Whatsapp-Nachricht. Den Text hat sie Wochen zuvor formuliert, an einem
Dienstag in den Sommerferien 2020 traut sie sich endlich. Um 13.04 Uhr
schickt sie die Nachricht an alle Mitschüler:innen, deren Nummer sie hat.
„Ich will mich nicht (mehr) verstellen müssen“, steht darin. In 30 Zeilen
erklärt sie, dass sie ein Mädchen ist und nie ein Junge sein wird. Es ist
ihr Coming-out als trans Jugendliche.
Den Rest der Ferien verdrängt sie die Gedanken an den ersten Schultag in
der 11. Klasse. In der letzten Nacht wälzt sie sich im Bett herum. Doch von
den Mitschüler:innen kommt kein einziger negativer Kommentar. Auch die
Lehrer:innen nennen sie nun bei ihrem selbst gewählten Namen, Emma
Kohler. „Ich habe die Entscheidung getroffen, sichtbar zu sein“, sagt sie.
Emma Kohler ist eine zierliche Jugendliche, rotgefärbte halblange Haare,
bunte Chucks und T-Shirt. Früher wollte sie Physikerin werden, heute ist
sie in vier Klimaorganisationen aktiv, betreibt einen politischen Podcast
und engagiert sich bei der Grünen Jugend. Wer sich mit ihr unterhält, kann
leicht vergessen, dass sie erst 17 Jahre alt ist. Sie formuliert ihre
Standpunkte stets, als würde sie selbst gerade an einer Bundestagsdebatte
teilnehmen.
Mehrmals in der Woche radelt sie von ihrem Zuhause aus acht Kilometer in
das Regionalbüro der Grünen im oberbayerischen Traunstein. Die Bahn hält in
ihrem 300 Einwohner großen Dorf nicht an. Seit sie mal Post von einem
wütenden Klimaleugner bekommen hat, behält sie den Namen ihres Dorfes
lieber für sich.
## Auch Greta Thunberg folgt ihr auf Twitter
Im Internet aber beginnt die Schülerin über LGBTQ-Rechte und ihre eigenen
Erfahrungen zu twittern. In ihrem [1][Account] beschreibt sie sich als
„trans“, „Klimaaktivistin“ und „in 68 Ländern illegal“. Seitdem er…
täglich hasserfüllte Nachrichten. Sie wird als Transe, Schwuchtel,
psychisch krank bezeichnet, einige stellen intime Fragen zu ihrem Körper.
Aber Kohler hat sich ein Netzwerk aufgebaut. Mehr als 10.000 Menschen
folgen ihr auf Twitter, darunter die Klimaaktivistin Greta Thunberg oder
der Grünen-Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz. Mit jedem Tag wird
sie bekannter im Netz. Wenn sie die verbalen Angriffe öffentlich macht,
zeigen sich viele solidarisch. „Ich möchte etwas verändern“, sagt sie.
Mitte Mai startet Kohler aus diesem Grund auch eine [2][Petition] auf der
Plattform change.org gegen das sogenannte „Transsexuellengesetz“ – wenige
Tage, bevor eine Mehrheit im Bundestag ein neues Selbstbestimmungsrecht für
trans Personen ablehnt.
Das Bundesverfassungsgericht hat mehrere Teile des
„[3][Transsexuellengesetzes]“ von 1981 außer Kraft gesetzt, weil sie gegen
die Menschenrechte verstießen. Doch bis heute müssen trans Personen für die
Änderung ihres Namens- und Personenstands zwei psychologische Gutachten vor
Gericht vorlegen. Viele berichten, dass ihnen [4][entwürdigende Fragen]
gestellt wurden, etwa zu ihren sexuellen Vorlieben. Zudem kostet das
Verfahren mehrere tausend Euro. FDP und Grüne wollten zuletzt [5][mit einer
jeweils eigenen Gesetzesänderung] erreichen, dass die Anträge künftig ohne
Gutachten beim Standesamt gestellt werden können. Vorgesehen war diese
Möglichkeit für Jugendliche ab 14 Jahren.
Über die rechtlichen Regelungen für trans Jugendliche wird dabei besonders
emotional diskutiert. Es geht um die Frage, inwieweit Minderjährige über
ihre Geschlechtsidentität selbst entscheiden können.
## Kontroverse Debatte im Bundestag
Im Bundestag betonte die CDU-Abgeordnete Bettina Wiesmann kurz vor der
Stimmabgabe, das Kindeswohl müsse berücksichtigt werden. „Das muss auch in
Fragen einer geschlechtlichen Transition gelten und dafür ist eine
Beratungslösung verbunden mit einer gerichtlichen Feststellung für
Minderjährige ein kluger Weg“, sagte sie. Die Gesetzesentwürfe würden weit
über das Ziel hinausgehen. Ihr Parteikollege Marc Henrichmann behauptete,
dass sich die Zahl der insbesondere jungen Frauen und Mädchen, die in den
letzten zehn Jahren eine Beratung in Anspruch genommen haben, laut
Medizinern verfünzigfacht hätte. „Der Staat hat eine Schutzfunktion“, sag…
er. Und fügte polemisch hinzu: Kinder dürften nicht Opfer „dieser
Ideologie“ werden.
Der genderpolitische Sprecher der FDP, Jens Brandenburg, entgegnete, es
gebe kaum ein anderes Gesetz, das die persönliche Lebenssituation von
transgeschlechtlichen Jugendlichen und ihren Familien so stark beeinflusse
und beeinträchtige.
Emma Kohler gehört zu den jungen Menschen, über die in solchen Diskussionen
gesprochen wird. Nach der Abstimmung twitterte sie: „Ein schlechter Tag für
die Menschenrechte.“ Es habe sie entsetzt, wie wenig das eigentliche Thema,
die Personenstandsänderung, thematisiert wurde. „Stattdessen wurde über
Hormone geredet, obwohl es darum in dem neuen Selbstbestimmungsrecht gar
nicht geht.“ Die Debatte sei schlimm gewesen – und völlig am Thema vorbei
geführt worden.
## Mehr als 46.000 Menschen unterstützen Petition
Trotzdem will sie nicht aufgeben. Die Schülerin hofft, dass sich die
Mehrheiten nach der Bundestagswahl im September ändern. Ihre Petition läuft
währenddessen weiter, um den Druck bis zu den Koalitionsverhandlungen zu
steigern. Mehr als 46.000 Menschen haben bereits unterzeichnet, 50.000 sind
das vorläufige Ziel.
Kohler selbst konnte sich ihre Gefühle lange nicht eingestehen. In der 7.
Klasse verschlechtern sich ihre Noten rapide. Sie habe eigentlich schon
immer gespürt, dass sie ein Mädchen ist und es sei ihr zunehmend schwerer
gefallen, das zu verdrängen. Drei Jahre später landet sie auf einer
Jugendfahrt zufällig mit einem trans Jungen in einem Zimmer. Endlich kann
sie sich öffnen. Die beiden reden stundenlang. „Es ist extrem
furchteinflößend, dazu zu stehen, wer man ist, aber es führt kein Weg daran
vorbei“, sagt sie. Wer diesen Schritt wage, sei auch bereit, seinen
Geschlechtseintrag zu ändern.
## Ethikrat veröffentlichte Empfehlung
Der Deutsche Ethikrat erklärte 2020 in seiner Empfehlung zu trans Identität
bei Kindern und Jugendlichen: „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst
auch das Recht, ein Leben entsprechend der eigenen, subjektiv empfundenen
geschlechtlichen Identität zu führen und in dieser Identität anerkannt zu
werden.“
Nur in Bezug auf therapeutische Maßnahmen bei jungen Menschen argumentiert
der Ethikrat weniger eindeutig: „Eine Spannung entsteht dadurch, dass sich
einerseits Reflexions- und Entscheidungsfähigkeit im Heranwachsenden erst
entwickeln und andererseits die in der Pubertät stattfindende körperliche
Entwicklung Zeitdruck schafft. In dieser Situation können sowohl die in
Betracht gezogenen Behandlungsmöglichkeiten als auch deren Unterlassung
schwerwiegende und teils irreversible Folgen haben.“ Der Geschlechtseintrag
und eine mögliche Operation sind jedoch voneinander unabhängig. Die
Bedingungen für eine Operation sind nicht im Transsexuellengesetz geregelt,
sondern durch verschiedene Richtlinien und Urteile festgelegt.
Für Kohler ist es untragbar, dass trans Jugendliche nicht selbstbestimmt
über ihre Identität und ihren eigenen Körper entscheiden dürfen. „Ich
denke, wir sind auf gesellschaftlicher Ebene schon weiter als auf
rechtlicher“, sagt sie.
Sonntags trifft sich Kohler oft in dem Grünen-Büro in Traunstein mit ihrem
guten Freund Luca. Die beiden diskutieren dann über Politik und notieren
sich neue Ideen für Tweets auf Collegeblöcken. Mit Aktivist*innen aus
ganz Deutschland sitzt Kohler in stundenlangen Videokonferenzen. Wenn sie
eine wichtige Rede hält, hängt sie ihre Regenbogenflagge mit den
trans*Farben Hellblau, Rosa, Weiß in den Hintergrund.
Die Fahne hat sie im Internet bestellt. „So etwas gibt es in Traunstein
nicht“, sagt sie. Die Stadt wirbt auf ihrer Website mit der Nähe zu den
Chiemgauer Alpen, „Brauchtumsvereinen“ und Papst Benedikt XVI. Der
emeritierte Pontifex ist in Traunstein aufgewachsen. Für Kohler ein Grund
wegzuziehen. „Ich bleibe doch nicht an einem Ort, dessen erfolgreichster
Exportschlager ein konservativer Papst ist“, sagt sie.
Sie möchte irgendwo hingehen, wo Entscheidungen getroffen werden. Nach
Berlin oder Brüssel vielleicht. Denn Kohler will selbst in die Politik.
„Ich wünschte, das wäre nicht nötig, aber ich kann Dinge, die schieflaufen,
extrem schlecht akzeptieren“, sagt sie.
26 Aug 2021
## LINKS
[1] https://twitter.com/Emmanzipation
[2] https://www.change.org/p/selbstbestimmungjetzt-tsgabschaffen
[3] /Transsexuellengesetz/!5787697
[4] /Transsexualitaet-und-Politik/!5783177
[5] /Gruenen-Politiker-ueber-Transrechte/!5786029
## AUTOREN
Alessandra Röder
## TAGS
Schwerpunkt LGBTQIA
Trans
Diversity
Selbstbestimmung
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Bundestag
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Kolumne Unisex
Schwerpunkt Klimawandel
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Tessa Ganserer
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