| # taz.de -- Transsexuellengesetz: „Deutschland ist kein Vorbild“ | |
| > Intimste Fragen hätten nichts in der Bürokratie zu suchen, sagt Kalle | |
| > Hümpfner vom Trans*-Verband. Der nächste Bundestag solle das TSG | |
| > abschaffen. | |
| Bild: Die CSD-Paraden gingen in diesem Jahr auch gegen das TSG auf die Straße.… | |
| taz: Kalle Hümpfner, der grüne Bundestagsabgeordnete Sven Lehmann spricht | |
| von Würdelosigkeit, Doris Achelwilm von der Linken fordert eine | |
| Entschädigung für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Die Rede ist | |
| vom Transsexuellengesetz, kurz TSG. Was hat es damit auf sich? | |
| Kalle Hümpfner: Das TSG regelt seit Anfang der Achtziger, wie trans* | |
| Personen ihren Vornamen und Geschlechtseintrag ändern können. Es greift | |
| massiv in ihr Leben ein und stand deshalb mehrfach vor dem | |
| Bundesverfassungsgericht. Bis 2011 mussten sich trans* Personen | |
| sterilisieren lassen, wenn sie einen Geschlechtseintrag ändern wollten; bis | |
| 2008 war es notwendig, sich scheiden zu lassen. | |
| Heute müssen trans* Personen noch immer zwei Gutachten einreichen, für | |
| welche sie private Details über ihre geschlechtliche Entwicklung offenlegen | |
| und [1][intimste Fragen über sexuelle Vorlieben beantworten] müssen. Diese | |
| Übergriffigkeit hat nichts in einem bürokratischen Verfahren wie der | |
| Änderung des Geschlechtseintrags zu suchen. | |
| Immer wieder wird Kritik laut, dass durch das TSG | |
| Trans*geschlechtlichkeit mit einer psychischen Krankheit gleichgesetzt | |
| wird. | |
| Richtig. Schon vor Jahren wurde durch die Weltgesundheitsversammlung | |
| festgestellt, dass es falsch war, trans* als psychische Störung zu | |
| klassifizieren. Eine allgemeine Pathologisierung aufgrund der | |
| geschlechtlichen Identität, wie sie durch die TSG-Gutachten stattfindet, | |
| ist eine starke Stigmatisierung. | |
| Klar, es gibt trans* Personen, die Depressionen oder Angststörungen haben – | |
| allerdings oft in Folge von Diskriminierungen, Ausgrenzungen und Gewalt. | |
| Durch die Pathologisierung herrscht trans* Personen gegenüber Skepsis; | |
| ihnen wird schnell unterstellt, sie würden sich Vorteile erschleichen oder | |
| Verbrechen begehen wollen – beispielsweise auch durch die Änderung des | |
| Geschlechtseintrags. | |
| Warum nicht den Geschlechtseintrag komplett abschaffen? | |
| Das ist eine spannende Frage, die 2017 im Zuge der Beratungen um die | |
| sogenannte dritte Option diskutiert wurde. Die Gesetzgebung entschied sich | |
| mit der Einführung des Eintrags ‚divers‘ für einen anderen Weg. | |
| Nun gibt es Stellenausschreibungen mit dem Kürzel m/w/d, und uns erreichen | |
| Anfragen, in denen sich Personen nach der sprachlichen Umsetzung einer | |
| geschlechtergerechten Anrede erkundigen. All diese Gespräche würden nicht | |
| geführt, wäre der Geschlechtseintrag abgeschafft und ein Vorschlag zu einem | |
| Selbstbestimmungsgesetz nicht debattiert worden. | |
| Geschlechtliche Selbstbestimmung trifft Bürokratie – kann das gut gehen? | |
| Letztlich soll es bei geschlechtlicher Selbstbestimmung darum gehen, dass | |
| Menschen dem Standesamt erklären können, was ihr passender | |
| Geschlechtseintrag ist. Es bräuchte keine Gutachten, Atteste oder sonstige | |
| Hürden. Aktuell ist im TSG ein Amtsgerichtverfahren verankert, das | |
| zeitaufwendig und sehr kostspielig ist. | |
| All das könnte durch einen simplen Verwaltungsakt ersetzt werden. | |
| Verschiedene EU-Mitgliedstaaten haben das umgesetzt und gute Erfahrungen | |
| gemacht: Die Regelung hat einen positiven Effekt auf trans* Personen, | |
| fördert gesellschaftliche Teilhabe und empowert die Community. | |
| Im Gegensatz dazu sind die Vorlagen zur TSG-Abschaffung und zur Einführung | |
| eines Selbstbestimmungsgesetzes im Mai dieses Jahres gescheitert. | |
| Innerhalb der EU ist Deutschland in Sachen Trans*-Rechte kein Vorbild. Die | |
| Abschaffung des TSG wird seit mehreren Legislaturperioden verschleppt. Es | |
| scheint, in Deutschland herrsche eine Politik in Reaktion auf Beschlüsse | |
| durch das Bundesverfassungsgericht – [2][welche wiederum auf Klagen von | |
| Inter*- und Trans*aktivist:innen zurückgehen]. | |
| Die Regierung ergreift selbst keine Initiative. Es ist gut, dass es die | |
| Entwürfe der Grünen und der FDP für ein Selbstbestimmungsgesetz gab. Das | |
| Thema wurde im Bundestag besprochen und öffentliches Interesse geweckt. | |
| Allerdings waren es Vorschläge aus der Opposition, die aufgrund | |
| parteipolitischer Logik kaum eine Chance hatten, beschlossen zu werden. | |
| Die SPD hisst zum Internationalen Tag gegen Homo-, Bi- und | |
| Trans*-Feindlichkeit die Regenbogenflagge und stimmt zwei Tage später gegen | |
| die Vorschläge. Wie kommt das? | |
| Zum Zeitpunkt der Abstimmung gab es einen Koalitionsvertrag, der die | |
| SPD-Bundestagsfraktion stark gebunden hat. Wir sehen das als Problem der | |
| Großen Koalition: Es ist unter Schwarz-Rot sehr schwierig, bei queeren | |
| Themen eine progressive Einigung zu erreichen. | |
| Wäre das bei Schwarz-Grün anders? | |
| Unsere Hoffnung ist, dass durch die Bildung einer neuen Regierung das Thema | |
| TSG nach oben auf die politische Agenda rückt. Bei Schwarz-Grün wird es | |
| davon abhängen, ob seitens der Grünen Druck aufgebaut wird, ein | |
| Selbstbestimmungsgesetz einzuführen, das diesen Namen auch verdient. | |
| Mittlerweile haben Abgeordnete aller demokratischen Parteien anerkannt, | |
| dass es ein neues Gesetz braucht. Ich befürchte dennoch, dass nach den | |
| Wahlen weiterhin die starken Widerstände innerhalb der Union gegen ein | |
| Selbstbestimmungsgesetz fortbestehen. | |
| Nicht nur in AfD und Union ist die Rede von vermeintlichen | |
| Gender-Ideologien. Der Diskurs um Identitätspolitik suggeriert, dass queere | |
| Politik im Interesse einer akademisierten Elite, nicht aber der | |
| Arbeiter*innenklasse sei. | |
| Es stimmt uns besorgt, dass es diese Diskussion in vielen Parteien gibt, | |
| sobald es um LGBTIQA+-Rechte geht. In der Debatte um [3][Wolfgang Thierse | |
| in der SPD] oder um [4][Sahra Wagenknecht in der Linken] werden ähnliche | |
| Diskurse wie auf rechter Seite bedient. Es ist sehr problematisch, dass | |
| hier keine Distanzierung von rechtspopulistischen Begriffen und Annahmen | |
| stattfindet. | |
| Es ist ebenfalls erschreckend, wie salonfähig Aussagen sind, dass es sich | |
| bei Antidiskriminierungsmaßnahmen um Anliegen einer Elite handle oder sich | |
| Minderheiten diktatorisch einmischten. Es ist wichtig, verschiedene | |
| Diskriminierungsverhältnisse zusammenzudenken. Kämpfe gegen Rassismus, | |
| Queer-Feindlichkeit, Klassismus, Sexismus und viele weitere | |
| Diskriminierungsverhältnisse in unserer Gesellschaft sind miteinander | |
| verbunden. Queerpolitik kann daher nicht unabhängig von Sozialpolitik | |
| gedacht werden. | |
| 2 Aug 2021 | |
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