| # taz.de -- Ehrenamtlich im Sonntags-Club aktiv: „Es gibt nur Unikate auf der… | |
| > Justine Wodtke betreut den Dienstagstreff für trans* Menschen. Ein | |
| > Gespräch über die Zumutungen der Pandemie, deutsche Arroganz und den | |
| > Sonntags-Club. | |
| Bild: „Warum muss dann die Welt so normiert, quadratisch, praktisch gut sein?… | |
| taz: Frau Wodtke, Sie sind 80 Jahre alt. Wie gehen Sie mit den | |
| Coronabeschränkungen um? | |
| Justine Wodtke: Ich finde, da gibt es wenig Unterschied zu jedem anderen | |
| Menschen. Es belastet schon. Jemanden nicht in den Arm nehmen zu können, | |
| die Hand geben zu können. Das ist körperlich sehr vereinsamend. Jemand | |
| kauft für mich ein, damit ich nicht in die vollen Supermärkte muss, das ist | |
| sehr lieb. Die Verantwortung liegt jetzt bei mir und dem Rest der | |
| Gesellschaft. Meine Verantwortung versuche ich zu leben, das heißt aber | |
| nicht, dass ich vieles nicht vermisse. Ins Kino gehen, ins Theater, Musik | |
| zu genießen, sich mit Freunden zu treffen, all diese Sachen vermisse ich. | |
| Einmal zurückgegriffen: Ich bin in Berlin geboren. Wir sind 1943 nach | |
| Bromberg geflohen, weil Berlin bombardiert wurde. Ich kenne diese | |
| Situation: „Lass alles stehen, nimm deinen Teddy und dann runter in den | |
| Keller, es wird gebombt.“ Ich kenne diese Situation des eingeschränkten | |
| Lebens. | |
| Ihnen hilft im Moment die Erinnerung an den Krieg? | |
| Ich kann darauf zurückgreifen, fühle mich aber trotzdem nicht wohl damit. | |
| Ich versuche einfach mein Leben anzupassen. Ich lese viel und gucke im | |
| Internet Nachrichten. Ich lese Zeitung, ich lese Spiegel und versuche | |
| meinen Kopf am Laufen zu halten, genau wie meinen Körper. Ich gehe | |
| spazieren. Das ist sehr wichtig. Wir sollten aber nicht nur uns selbst, | |
| sondern auch andere schützen und sie nicht in Schwierigkeiten bringen, | |
| indem wir etwa keine Maske tragen. Wir sollten Respekt gegenüber dem | |
| anderen haben und nicht nur für uns Respekt einfordern. Ich finde, Respekt | |
| ist in unserer Gesellschaft sehr auf dem abschüssigen Weg. | |
| Woran liegt das in Ihrer Sicht? | |
| Ich bin der Meinung, das fing 1953 mit der Bild-Zeitung für einen Groschen | |
| an. Seit damals werden Informationen in abgespeckter Form, ob fake oder | |
| nicht, weitergegeben und die Menschen haben es einfach hingenommen. Diese | |
| Verblödungsindustrie hat immense Ausmaße angenommen. Die Menschheit wird | |
| mit System verdummt und damit immer abhängiger. | |
| Was genau meinen Sie damit? | |
| Ein Beispiel: In die Kita kommt eines Tages eine trans* Person und erzählt | |
| den Kindern, was das bedeutet. Und der Butje (niederdeutsch für Junge, Anm. | |
| d. R.) kommt nach Hause und sagt: „Papa, heute war da bei uns in der Kita | |
| eine Tante, die war früher mal ein Mann!“ Dann ist es oft so, dass der | |
| erwachsene Papa ein Problem damit hat, nicht das Kind. Denn Kinder nehmen | |
| alles für wahr, und wenn man ihnen das erklärt, dann wissen sie, dass es | |
| auch trans* Personen gibt. Und wenn sie in diese Situation kommen sollten – | |
| in der Pubertät, früher oder später –, dann wissen sie, dass ihnen geholfen | |
| werden kann. Dass es Wege aus diesem Dilemma gibt. Das war mir ja damals | |
| gar nicht bewusst. | |
| Wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie eine Frau sind? | |
| 2002 … nein, ich fange anders an. Während der Berlinblockade 1948/49 war | |
| meine jüngere Schwester bei Verwandten in Westdeutschland und konnte wegen | |
| der Blockade nicht zurückkommen. Sie musste dort eingeschult werden. Meine | |
| Mutter nähte dann aus Armeestoff einen Wintermantel für sie. Diesen Mantel | |
| sollte ich dann einer Frau im Haus vorführen, denn meine Mutter wollte | |
| positives Feedback haben. Ich habe mich geweigert. Weil ich als Junge | |
| keinen Mädchenmantel tragen wollte. Damals war alles ja sehr klar | |
| abgegrenzt. Was jetzt ja wieder gemacht wird: Rosa für Mädchen, Jungs in | |
| Blau, sogar bei Wasserflaschen. Diese ganze Idiotie, damals wie heute. | |
| Jedenfalls weigerte ich mich damals. Meine Mutter aber kannte keinen | |
| Widerspruch. Mein Vater ist elf Tage vor Kriegsende in Italien gefallen, | |
| meine Mutter stand dann mit drei kleinen Kindern alleine da und sie konnte | |
| sich durchsetzen. Sie sagte: „Ich mach dich so zurecht, dich erkennt | |
| keiner.“ Sie hat mir die Haare zum Pony gekämmt, mir die Kapuze aufgesetzt | |
| und den Spiegel vorgehalten. In diesem Spiegel habe ich mich damals zum | |
| ersten Mal als Mädchen gesehen und ich wusste, das bin ich. Das war der | |
| erste Spiegel. | |
| Und der nächste Spiegel? | |
| 2002 hat mir eine Anzeige im Magazin Spiegel die Augen geöffnet. Das war | |
| der zweite Spiegel. Die Anzeige lautete „Normalerweise bin ich Mann, aber | |
| einmal im Monat bin ich Frau.“ Auf dieser Homepage hab ich dann trans* | |
| Lebensläufe verschiedener Art gelesen. Da hat es bei mir Klick gemacht. Ich | |
| habe mich dann mit dem Thema intensiv beschäftigt. Ich meine, ich habe mich | |
| mein ganzes Leben damit auseinandergesetzt, dass ich lieber Frau als Mann | |
| wäre. Ich habe auch, als ich zur See gefahren bin, gehört, dass in | |
| Casablanca aus Männern Frauen gemacht werden. Aber ich konnte mir das nicht | |
| vorstellen. Ich hielt das für sehr abstrakt. | |
| Sie sind zur See gefahren? | |
| Ja, fast fünf Jahre lang. Außer in Australien war ich auf jedem Kontinent. | |
| Aber das ist eine andere Geschichte. Also, wenn ich damals jemanden gefragt | |
| hätte, wie denn das geht oder was das ist, hätte ich mich ja geoutet und | |
| das war mein Problem. Ich habe mein ganzes Leben lang versucht, die Rolle, | |
| in die ich mit der Geburt gesteckt wurde, zu spielen, beziehungsweise zu | |
| erfüllen. Nachdem ich den Wechsel gemacht hatte, sagte ein Cousin auf einer | |
| Familienfeier zu mir: „Ach so ist das. Wir dachten immer, du seist schwul.“ | |
| Also, ich hatte schon immer etwas Feminines an mir und man hat mich eben | |
| als schwul gedeutet. Das hat mir auch gezeigt, dass ich diese männliche | |
| Rolle nie hundertprozentig gespielt habe. Ich habe dann 2005 auf einer Kur | |
| entschieden, mich von meiner Frau zu trennen und meinen Weg zu gehen. | |
| Wie sind Ihre Frau und Ihre Tochter damit umgegangen? | |
| Als meine Ex und ich unsere Tochter darüber informierten, was mit mir ist, | |
| sagte diese: „Ach so ist das und ich dachte immer, alle Männer müssten so | |
| sein wie du: hilfsbereit, liebevoll, verständnisvoll. Aber ich habe nie so | |
| einen getroffen, ich glaube, jetzt muss ich mein Männerbild ändern.“ Ist | |
| das nicht ein ganz tolles Kompliment? Mit meiner Tochter habe ich sehr | |
| guten Kontakt und auch mit meiner Enkeltochter. Dafür bin ich sehr dankbar. | |
| Ich hätte wirklich Probleme damit gehabt, wenn meine Tochter da | |
| ausgestiegen wäre. Mit meiner Ex habe ich wenig Kontakt. Sie hat es anfangs | |
| tapfer versucht, mich zu begleiten, konnte es schließlich aber nicht | |
| ertragen. Deshalb war eine Trennung für uns beide, wie ich gefunden habe, | |
| der einzige Weg, weiterleben zu können. Eine Trennung ist ja auch immer die | |
| Möglichkeit für einen grundsätzlichen Neuanfang. | |
| Wie stießen Sie dann auf den Sonntags-Club? | |
| 2006 bin ich zurück nach Berlin gekommen. Im Raum Bonn, wo ich vorher | |
| gewohnt habe, bin ich zu einer Selbsthilfegruppe gegangen und wollte auch | |
| hier weiter in der Community sein. Ich bin durch andere, die in der | |
| Selbsthilfegruppe von Anke Streifeneder waren, auf den Sonntags-Club | |
| gestoßen. | |
| Was macht diesen Ort zu Ihrem Ort? | |
| Ich finde, der Sonntags-Club hat etwas an sich, das in einer Westberliner | |
| Gegebenheit eben nicht vorhanden ist. Das Ostsozialisierte ist immer noch | |
| im Sonntags-Club präsent. | |
| Was meinen Sie mit ostsozialisiert? | |
| Wenn ich hingehe, fühlt es sich an, als ob ich nach Hause, in meine Familie | |
| käme. Das ist etwas, was man in Westberliner Communities selten hat. Im | |
| Sonntags-Club trifft sich die gesamte queere Szene. Nicht wie in | |
| Westberlin, wo gesagt wird: „Wir sind die Schwulen und ihr seid die | |
| anderen.“ Das ist das Wertvolle am Sonntags-Club. Denn ich finde, wir alle | |
| erfahren aus der Cis- und Heterogesellschaft irgendwie dieselbe | |
| Stigmatisierung. Wir sind die anderen. Im Sonntags-Club trifft sich alles, | |
| Lesben, Schwule, inter*, trans* Personen und auch heteronormativ lebende | |
| Menschen. Das ist wertvoll. Wir in der queeren Szene lernen: Die | |
| Hetero-cis-Gesellschaft ist ja doch offen, wenn sie hier reinkommen. Und | |
| diese wiederum lernen: Na ja, so schlimm sind die Queers nun ja auch nicht. | |
| Sie sind aber nicht nur Besucherin im Sonntags-Club, sondern dort auch | |
| ehrenamtlich aktiv. | |
| Ja. 2007 habe ich von meiner Vorgängerin aus Altersgründen den | |
| Dienstagstreff für trans* Menschen und Freund*innen übernommen. Es gibt | |
| aber auch eine zweite Gruppe für trans* Männer und eine monatliche trans* | |
| Selbsthilfegruppe. Die meisten, die kommen, sind trans* Frauen, aber auch | |
| Angehörige oder Menschen, die noch gar nicht wissen, was sie wollen und wie | |
| sie sich fühlen und wie es weitergeht. All die Jahre war ich fast jeden | |
| Dienstag im Sonntags-Club und habe diese Gruppe begleitet. Ich habe auch | |
| Themenabende, gemeinsame Wochenenden, Biografie-Workshops, Veranstaltungen | |
| zu trans* Themen und Post-OP-Treffen mitorganisiert. | |
| Post-OP-Treffen? | |
| Ja, für Menschen, die geschlechtsangleichend operiert waren. Zum Austausch | |
| von Informationen und Erfahrungen. Ich habe auch beim Projekt „Trans* in | |
| Arbeit“ und zweimal im Jahr am Runden Tisch „Trans- und | |
| Intergeschlechtlichkeit“ des Senates teilgenommen. Und ich habe den | |
| Bundesverband Trans* mitgegründet. Es gab schon zwei Gründungsanläufe | |
| vorher, und wir haben bis 2 Uhr nachts zusammengesessen und beschlossen, | |
| durchzumachen, bis wir ein Ergebnis haben. Da schon einige ins Bett | |
| gegangen waren, war die Einigung auch einfacher. | |
| Ihr Engagement geht also über den sozialen Bereich hinaus ins Politische. | |
| Was halten Sie da für zentral? | |
| Das Transsexuellengesetz ist ein ganz zentrales Thema. Wir haben seit 40 | |
| Jahren dieses Gesetz, das verlangt, dass jede trans* Person zwei | |
| psychologische Gutachten vorlegen muss. Die Vornamensänderung und der | |
| Geschlechtseintrag sind kostspielig. Ich habe damals zum Beispiel 1.600 | |
| Euro bezahlt plus Gerichtskosten et cetera. Dieses Gesetz war ursprünglich | |
| eine Hilfe, heute aber ist es ad absurdum. Argentinien hat es 2012 | |
| vorgemacht. Dort geht man aufs Standesamt und sagt: „Ab morgen heiße ich so | |
| und so und das ist mein Geschlecht“ und damit hat es sich. Malta, Dänemark | |
| und viele andere Staaten haben es nachgemacht. Nur wir Deutschen kriegen es | |
| nicht gebacken. Seehofer hat 2019 einen neuen Gesetzentwurf vorgelegt und | |
| den Betroffenen nur vier Tage Zeit gegeben, darauf zu reagieren. Das | |
| vorgelegte Gesetz war noch schlimmer als das bestehende. Darin war sogar | |
| die Zustimmung der Partner zu einer Transition vorgesehen. Ich wünschte | |
| mir, dass Deutschland einfach mal von seiner Arroganz wegkommt und sagt: | |
| „Was die anderen Länder da machen, ist gut, das übernehmen wir.“ | |
| Eine Neuregelung wird von der deutschen Arroganz verhindert? | |
| Ja, wenn wir Räder machen, dann sollen die noch runder sein als bei den | |
| anderen. Dieser Größenwahn der Deutschen. Das zeigt sich auch daran, dass | |
| andere Länder auch mehr Frauen und junge Menschen in die Politik lassen. | |
| Und wir bekommen einen Seehofer oder Merz. Diese Egomanen. Das ist meines | |
| Erachtens ein Erziehungsproblem. Ich habe die Nazi-Erziehung noch erleben | |
| müssen. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war ja die braune Soße nicht | |
| aus den Köpfen raus. Die ganzen Nazis sind ja nicht in die SPD gegangen, | |
| die haben sie ja vorher verfolgt. Sondern die sind damals alle in die CDU. | |
| Das war der Kern der CDU. | |
| Sie sind ja Antifaschistin, Frau Wodtke. | |
| Ja, denn diese Erziehung hab ich noch mitgemacht. Da hieß es in der Schule | |
| „Hände auf den Tisch!“ und mit dem Rohrstock wurde drauf geschlagen. Oder | |
| es hieß: „Ab in die Ecke, mit dem Rücken zur Klasse!“ Diese gesamte | |
| Abwertung eines Menschen, weil er etwas anders oder falsch gemacht hat. Ich | |
| habe mir vorgenommen, all das bei meinem Kind nicht mehr zu machen. Man | |
| darf Kinder nicht abwerten, sondern muss sagen: „Komm wir machen das | |
| nochmal zusammen und morgen auch nochmal und dann kannst du das.“ Kinder | |
| wollen lernen. Was in unseren Schulen kaputt gemacht wird, ist der Spaß am | |
| Lernen. Wie das in Finnland gehandhabt wird, das könnten wir übernehmen: | |
| Vier Stunden Schule, keine Hausaufgaben, aber wenn du wissen willst, wie | |
| das geht, dann musst du nach dem Wissen buddeln. Dann haben Kinder auch | |
| Freude am Lernen. Die überkommenen Erziehungstechniken haben mich in allem | |
| beeinflusst. Wie sie publiziert, wie sie projiziert und wie sie angewendet | |
| wurden. Wenn wir wirklich die Gesellschaft auf ein respektvolles | |
| Miteinander bringen wollen, dann müssen wir zuerst bei uns selbst und dann | |
| bei den Kindern anfangen, um ihnen den Weg in eine gemeinsame und | |
| gleichberechtigte Zukunft zu ermöglichen. | |
| Apropos Zukunft: Was wünschen Sie sich für die Zukunft? | |
| Ich hoffe, der Sonntags-Club bleibt noch lange erhalten. Ich hoffe, nach | |
| der Coronakrise wird es den Runden Tisch wieder geben. Denn unsere | |
| Gesellschaft ist zwar offener geworden gegenüber trans* und | |
| intergeschlechtlichen Menschen. Aber es muss noch eine ganze Menge getan | |
| werden, vor allem weil die braune Szene immer stärker wird. Das macht mir | |
| wahnsinnig Angst. Denn Menschen wie ich würden mit als erste wieder | |
| deportiert werden. Ich finde, jeder Mensch hat das Anrecht, so zu leben, | |
| wie er das möchte, solange respektvoll miteinander umgangen wird. Und nicht | |
| wie die Nachbarn, die Familie oder sonst wer es vorgeben. Es gibt nur | |
| Unikate auf dieser Welt. Warum muss dann die Welt so normiert, quadratisch, | |
| praktisch gut sein? | |
| 13 Dec 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Hunglinger | |
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