| # taz.de -- Musikalischer Protest aus Tunesien: Sie spucken auf das korrupte Sy… | |
| > Tunesien kämpft zehn Jahre nach der Revolution mit hoher Armut und | |
| > Polizeiterror. Underground-Bands wie Znous protestieren mit lauter, | |
| > wütender Musik. | |
| Bild: Demonstration gegen Polizeigewalt in Tunis am 12. Juni | |
| Der Frust sitzt tief, er ist auf den Straßen von Tunis und ganz Tunesien zu | |
| spüren. Die Erwartungen nach der Revolution von 2011, die den Sturz des | |
| Diktators Ben Ali zur Folge hatte und [1][in der ganzen Region die | |
| sogenannte Arabellion auslöste], versprach die demokratische Wende, eine | |
| tiefgreifende Liberalisierung und Umwälzung der politischen Verhältnisse. | |
| In diesem Klima von Desillusionierung und steigendem sozialen Druck | |
| formierte sich im Land eine junge Generation wütender Musiker. Mit Punk, | |
| Metal und Rap begehren sie – teils anonym – gegen den schleichenden Verfall | |
| der tunesischen Gesellschaft auf. Zu den bekanntesten Künstler:innen | |
| zählt die Band Znous: Dieses Kollektiv verschmilzt in seinem Sound | |
| aggressiven Hardcore-Punk und Metal mit Elementen der tunesischen Folkstile | |
| Malouf und Salhi, dazu gibt es wütende, sozialkritische Songtexte. | |
| [2][Die Jasmin-Revolution verhieß einen liberalen, offenen und | |
| demokratischen Musterstaat]. Aber derzeit läuft er Gefahr, seine | |
| Errungenschaften aufgrund einer instabilen Politik, schleichender Armut, | |
| behördlicher Korruption und einer unbeaufsichtigten Polizei zu verlieren. | |
| Besonders der tunesische Sicherheitsapparat setzt der Bevölkerung zu. | |
| Folter, Misshandlungen und willkürliche Verhaftungen gehören laut Amnesty | |
| International zum Alltag. | |
| ## Misshandlungen durch die Polizei | |
| Zuletzt erhielt die tunesische Polizei Unterstützung durch deutsche | |
| Behörden. Laut einem Bericht von 2017 erhielten sechs tunesische | |
| Polizeiausbilder Einblick in die Ausbildung oberpfälzischer | |
| Polizist:innen und wurden hinsichtlich Vorgehen bei Personenkontrollen | |
| und Durchsuchungsmaßnahmen beraten. Tiefpunkt war die von einer Kamera | |
| aufgezeichnete Misshandlung eines 15-Jährigen im Juni am helllichten Tag in | |
| Tunis. | |
| Das Opfer, von tunesischen Medien als „Fadi“ identifiziert, wurde im | |
| Viertel Séjoumi von drei Polizist:innen in Zivil geschlagen, komplett | |
| ausgezogen und anschließend in einen Lieferwagen gezerrt. Er soll an | |
| Protesten nach dem Tod des 30-jährigen Ahmed Ben Ammar in Polizeigewahrsam | |
| beteiligt gewesen sein. | |
| Eine massive Inflation lähmt die Gesellschaft und hat die zunehmende | |
| Perspektivlosigkeit der tunesischen Jugend noch verstärkt. Seit der | |
| Revolution 2011 hat Tunesien bereits zehn Regierungen gebildet, die | |
| Armutsrate liegt aktuell bei 40 Prozent, die der Jugendarbeitslosigkeit bei | |
| 30 Prozent. Zudem ist das Standbein des Tourismus durch die Coronapandemie | |
| geschwächt. | |
| ## Metal und HipHop bei der Jugend beliebt | |
| Die politische Klasse entfremdet sich von der Bevölkerung, während Polizei | |
| und Inlandsgeheimdienst zunehmend als Staat im Staate agieren, ausgestattet | |
| mit weitreichenden Kompetenzen, vornehmlich unter der Flagge des | |
| Antiterrorkampfes. Das 2015 erlassene, umstrittene Antiterrorgesetz | |
| erlaubt es den Behörden, selbst soziale Protestbewegungen wie | |
| terroristische Gruppierungen zu behandeln und im Zweifel sogar die | |
| Todesstrafe zu verhängen. | |
| Das bedeutet aber nicht, dass Tunesien ein durch und durch autoritärer | |
| Staat wäre, dessen kultureller Entfaltung ein enges Korsett übergezogen | |
| ist. Im ganzen Land gibt es zum einen international bekannte | |
| Musikfestivals, zum anderen eine lebendige Untergrundszene. Besonders Metal | |
| und HipHop sind als Genres bei der Jugend beliebt. | |
| Dass ausgerechnet diese beiden Stile so populär sind, liegt an ihrer | |
| Repräsentationsfunktion für zwei verschiedene Lebenswelten. HipHop | |
| entwickelte sich, wie sein US-Vorbild und die Rapper:innen in | |
| Frankreich, zur Sprache der ärmeren, peripheren Viertel der Großstädte, | |
| während Metal vor allem die Jugend der urbanen Mittelschicht repräsentiert. | |
| Der Unterschied manifestiert sich im Zugang zu Equipment, Übungsräumen und | |
| Clubs und zu bildungsbürgerlichen Strukturen. Während für HipHop im akuten | |
| Fall ein Mikrofon und ein Laptop ausreichen, bedarf Metal eines | |
| Instrumentenarsenals und PA-Technik. | |
| ## „Oriental Metal“ versus „europäisch“ klingende Bands | |
| Besonders HipHop ist in den letzten Jahren in Tunesien explodiert und hat | |
| Superstars wie Balti und Samara hervorgebracht. Im Metal zeichnet sich vor | |
| allem die Band Myrath als Flaggschiff der lokalen Szene aus, obwohl sie für | |
| ihr orientalistisches und exotistisches Auftreten auch scharf kritisiert | |
| wird. Das Subgenre „Oriental Metal“ erfreut sich dennoch großer Beliebtheit | |
| und wird von Bands wie Carthagods, Saracens und Fusam ausgiebig bedient. | |
| Im Umkehrschluss bedeutet das für „europäisch“ klingende Bands, dass der | |
| fehlende orientalistische Rahmen bereits ein politisches Statement | |
| darstellt: Die Abkehr von der orientalischen Wahrnehmung und der Wunsch | |
| nach international anerkanntem Sound stellen einen bewussten Bruch mit den | |
| Spielregeln des offen auftretenden Teils der Musikszene dar. | |
| Der nicht öffentlich auftretende Teil der Szene hat dafür gute Gründe. | |
| Offene Kritik an polizeilicher Willkür, Korruption und politischem | |
| Missmanagement gilt als gefährlich für die physische und psychische | |
| Integrität der Künstler:innen und ihrer Angehörigen. Anonymität in der | |
| Öffentlichkeit ist der entscheidende Marker für die Brisanz der Botschaft. | |
| Bands wie Znous, die unumwunden die Missstände in Tunesien anprangern, | |
| sehen sich dadurch zu einem indirekten Auftrittsverbot und einem | |
| künstlerischen Leben in Konspiration gezwungen. | |
| ## Je anonymer ein Künstler, desto radikaler | |
| Sein Gesicht zu zeigen oder nicht, macht den Unterschied deutlich zwischen | |
| radikal und ungefährlich. Je anonymer ein Künstler oder eine Band, desto | |
| radikaler und kritischer ist die Botschaft und dementsprechend gefährlicher | |
| für die Behörden. | |
| „Schau auf die Straße, wenn du noch sehen kannst / Sieh mit deinem eigenen | |
| Auge, wie dein Land gefickt wird / Sie schieben die Schuld auf uns / Ein | |
| Land, in dem die Cops Schläger sind, würde dich für einen einfachen Blick | |
| entführen“ heißt es im Song „Tfuuh/Spit!“ von Znous. Ihr Sound erinnert… | |
| die extremeren metallischen Crossover-Stars wie Sepultura (Brasilien) und | |
| Slipknot (USA). | |
| Aber es gibt auch Zwischentöne, pointierte Texte, die den Eindruck von | |
| Kritik erwecken könnten und damit eine gewisse Freiheit in der Kritik | |
| erlauben. Zumindest so lang, bis diese revolutionär erscheint. Exemplarisch | |
| dafür ist der Song „7orreia“ (Freiheit) von Joe Lociano, der kritisiert, | |
| ohne den Gegenstand genau zu benennen. Allein die stete Wiederholung des | |
| Wortes “„Freiheit“ erscheint in der tunesischen Gegenwart als | |
| trotzig-revolutionärer Akt, ohne eine solche Revolution einzufordern. | |
| ## Kritische Stimmen unterdrücken zum Machterhalt | |
| Musik war schon bei den Umwälzungen 2011 treibende Kraft und kann es | |
| jederzeit wieder sein. Kritische Stimmen zu unterdrücken ist damit auch im | |
| demokratischen Tunesien ein autoritäres Instrument des Machterhalts: „Wir | |
| spucken auf das korrupte Justizsystem, das die Straffreiheit von Politikern | |
| und Polizisten fördert. Wir prangern korrupte Geschäftsleute, Medien und | |
| auch die Gesellschaft selbst in ihrer hässlichen, unsicheren und | |
| rückschrittlichen Seite an. Es sieht also nicht so aus, als würden wir uns | |
| hier Freunde machen in einem Land, das einen Polizeistaat im Staat selbst | |
| hat und in dem die Mehrheitspartei Ennahda mit starken Verbindungen zum | |
| Terrorismus und mit finanzieller Hilfe aus dem Ausland regiert“, sagt Adnan | |
| von Znous. | |
| Für viele Künstler:innen ist aus dem Schlüsselmoment der | |
| Jasmin-Revolution und der Post-Ben-Ali-Ära nur eine weitere historische | |
| Fußnote geworden, die nichts an der Perspektive geändert hat. Steter | |
| Demokratieabbau und autoritäre Tendenzen mobilisieren die Massen regelmäßig | |
| zu Protesten, die dafür sorgen, dass die Luft für autokratische und | |
| islamistische Kräfte dünner wird. | |
| Die Enttäuschung der Jugend wird in den Songs hörbar, gibt aber selten eine | |
| konstruktive Perspektive: „Wir verstehen, dass Tunesien im Westen als ein | |
| demokratisches Erfolgsland in der Region vermarktet wurde. Dieses | |
| oberflächliche Narrativ hat nichts mit unserer Realität zu tun, die derzeit | |
| einen totalen Verfall erlebt“, schätzt Adnan die Situation ein. | |
| Auch aus europäischer Warte sieht es nicht so aus, als würden sich in | |
| absehbarer Zeit die Hoffnungen auf eine umfassende Demokratisierung | |
| Tunesiens erfüllen. Dennoch arbeiten die Bands weiter und erreichen dank | |
| sozialer Medien auch ein internationales Publikum. Dies verleiht ihrem Zorn | |
| Gehör. | |
| 11 Jul 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tobias Grießbach | |
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