# taz.de -- Politikversagen in der Pandemie: Tunesien ist überall | |
> Das tunesische Gesundheitssystem ist durch Corona praktisch kollabiert. | |
> Die Proteste im Land legen die geballte Unfähigkeit der Politik offen. | |
Bild: Die Pandemie als Brennglas: Polizei drängt Unterstützer von Tunesiens P… | |
Tunesiens neue politische Krise ist hausgemacht, das erwartbare Ergebnis | |
ungelöster Dauermachtkämpfe zwischen politischen Akteuren, die seit dem | |
Arabischen Frühling 2011 und dem Ende der Diktatur vor allem mit sich | |
selbst beschäftigt sind. Die spektakulären Protestszenen in Tunis jetzt | |
illustrieren das Unvermögen der politischen Klasse des Landes, etwas für | |
die Menschen zu tun, deren soziale Lage mit jedem Jahr verzweifelter wird. | |
Der Zeitpunkt allerdings ist kein Zufall. [1][Tunesien ist einer der | |
globalen Brennpunkte der Covid-19-Pandemie geworden], mit der mittlerweile | |
zweithöchsten Coronasterblichkeit in Relation zur Bevölkerungszahl | |
weltweit, gleich hinter Namibia. Das Gesundheitssystem ist praktisch | |
zusammengebrochen, wirtschaftliche Einschränkungen drücken immer mehr | |
Menschen unter das Existenzminimum. Das Mindeste, was die Menschen in einer | |
solchen Lage erwarten, ist ein handlungsfähiger Staat – und den hat | |
Tunesien nicht. | |
Corona erweist sich in Tunesien, wie auch in anderen Ländern, als | |
politischer Brandbeschleuniger. Die Pandemie erzeugt unmittelbaren | |
Handlungsdruck, sie legt die Schwächen der Politik schonungslos offen, sie | |
führt die Mächtigen in all ihrer geballten Unfähigkeit vor und offenbart | |
auch die gnadenlose Ungleichheit der Welt, in der lebensrettende Impfungen | |
eben doch nur einer kleinen Minderheit zur Verfügung stehen. Was Leute | |
ansonsten vielleicht zähneknirschend hinnehmen, provoziert jetzt Wut. Und | |
diese Wut sucht sich ein Ventil. | |
In Südafrika, wo die Pandemie Millionen ins größte Elend seit der Apartheid | |
gestürzt hat, führten [2][Protestaufrufe von Anhängern eines wegen | |
Korruption inhaftierten Expräsidenten in diesem Monat zu verbreiteten | |
Unruhen und Plünderungen mit 337 Toten]. In Tunesien hat sich die | |
Unzufriedenheit über das schlechte Pandemiemanagement in dem Wunsch | |
entladen, die aus der Revolution von 2011 hervorgegangenen Institutionen | |
hinwegzufegen, und der Staatspräsident hat sich an die Spitze davon | |
gestellt. | |
Was daraus wird, ist völlig offen. Geordnete Verhältnisse sind erst einmal | |
nicht in Sicht. Eine militärische Eskalation in Form eines Putsches ist | |
ebenso denkbar wie ein langanhaltendes Chaos und völlige Lähmung des | |
Staatsapparates. Aber eines ist sicher, über Tunesien hinaus: Je länger die | |
Pandemie dauert, desto weniger Geduld haben die Menschen und desto leichter | |
zerbricht politische Legitimität. Heute ist es Tunesien, morgen kann es | |
überall sein. Von Iran über Nigeria bis [3][Brasilien] zittern die | |
Mächtigen, sobald die Pandemie außer Kontrolle gerät. Anfangs tötete das | |
Virus vor allem alte Menschen. Jetzt zermalmt es die alte Politik. | |
27 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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