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# taz.de -- Coronakrise in Tunesien: Ein Land erstickt
> Hunderte Tote am Tag, unvorstellbares Leid in und vor den Krankenhäusern:
> Die vierte Coronawelle trifft Tunesien härter als alle zuvor.
Bild: 200 Tote am Tag: Im Krankenhaus von Beja im Norden Tunesiens
Tunis taz | Die seit drei Wochen rasant steigende Zahl an
Corona-Infektionen hat Tunesien in die größte wirtschaftliche und soziale
Krise seit der Unabhängigkeit vor 65 Jahren geführt. Nach Angaben des
Gesundheitsministeriums ist die 14-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohner am
Wochenende auf 837 gestiegen, über 200 Erkrankte sterben täglich in den
hoffnungslos überbelegten Intensivstationen der staatlichen Krankenhäuser
oder zu Hause.
Videos von Patienten, die mit Atemnot vor Kliniken vergeblich auf eine
Behandlung oder auch nur auf Sauerstoff warten, sorgen landesweit für
Empörung. Vertreter der Zivilgesellschaft wie der politische Aktivist Kerim
Kharat fordern den Rücktritt der Regierung von Premierminister Hichem
Mechichi.
Der an den Wochenenden geltende Lockdown wurde jetzt auf das am Dienstag
beginnende Opferfest ausgeweitet. Da sich während des „Eid“ traditionell
die ganze Familie trifft, rechnen viele Experten mit einer weiteren
Zuspitzung der Lage. Eine Kommission von Ärzten und Experten hatte zwar
eine Unterbrechung des öffentlichen Lebens für mindestens fünf Wochen
gefordert, um die weltweit an der Spitze liegenden Infektionen mit der
Deltavariante des Virus zu stoppen. Doch aufgrund der miserablen
wirtschaftlichen Lage sind selbst Kurzlockdowns aus Sicht der Regierung
Mechichi kaum durchsetzbar.
Eine viertägige Schließung der Märkte und Gastronomie hatte im Februar eine
Welle von Straßenprotesten ausgelöst, bei denen in zwölf Städten mehr als
2.000 meist junge Demonstranten verhaftet wurden. Tagelöhner und Studenten
waren gegen die Tatenlosigkeit der Regierung angesichts der damals tobenden
dritten Coronawelle und gegen die dramatische soziale Lage auf die Straße
gegangen. Mehr als die Hälfte der tunesischen Arbeitnehmer verfügen weder
über einen Arbeitsvertrag noch über soziale Absicherung, coronabedingte
Entschädigungen für Einkommensausfälle gibt es in Tunesien nur über
staatlich garantierte Kredite, die selbst Hotels nur selten gewährt werden.
## Totalausfall der zweiten Touristensaison
Entschlossener als die Regierung, in der völlig unterschiedliche Parteien
zusammensitzen, haben die Provinzgouverneure gehandelt. Raja Trabelsi
ordnete für den Großraum Sousse zusätzlich zu einem Lockdown verstärkte
Polizeistreifen an, die Strände und Cafés vollständig räumten. Auch in
Sfax, Kairouan, Zarzis und anderen Städten gelten 14-tägige Ein- und
Ausreiseverbote, bis auf Lebensmittelgeschäfte und Apotheken wurden alle
Gewerbe geschlossen.
Der damit verbundene Totalausfall der zweiten Touristensaison in Folge hat
zur Entlassung vieler Angestellter geführt. Seit die französische Regierung
Tunesien als Virusvariantengebiet auf die rote Liste gesetzt hat, dürfen
Franzosen nur noch aus triftigem Grund einreisen. Deutschland hat Tunesien
als Hochinzidenzgebiet eingestuft und warnt ebenfalls vor nicht notwendigen
und touristischen Reisen.
Die in der Mittelmeerbrandung badenden Familien an den Stränden der Vororte
der Hauptstadt Tunis sehen nun fast täglich in Tarnfarben lackierte
Militärmaschinen im Landeanflug auf den Flughafen. Die Lage ähnelt immer
mehr einer humanitären Katastrophe, begleitet von einem drohenden
Staatsbankrott. „Wir sind im Krieg“, titelte kürzlich die Regierungszeitung
La Presse.
Die dennoch vollen Hotels und Bars an den Stränden rund um Tunis sind
sinnbildlich für die anhaltende soziale Spaltung in dem sogenannten
Vorzeigeland des Arabischen Frühlings. Tatsächlich waren die politischen
Parteien und die Regionen nie zerstrittener als jetzt.
## Die Armee verteilt Sauerstoff und Impfstoff
Hilfe für die schlecht ausgestatteten Provinzkrankenhäuser kommt in Form
von Sauerstoffflaschen und Pumpen aus Ägypten, Mauretanien, Deutschland,
Katar, Marokko und anderen Ländern. Die tunesische Armee hat nun die Regie
über die Verteilung des dringend benötigten Sauerstoffs und die bisher
schleppend verlaufende Impfkampagne übernommen. Am Sonntag brachten
Soldaten die ersten Lieferungen in die Krankenhäuser des armen Südwestens,
dort wo auch vor 10 Jahren die tunesische Revolution gestartet war.
Investitionen hat es dort in den letzten Jahren weder in der Wirtschaft
noch im Gesundheitswesen gegeben. „Wer kann, versucht sein Glück in Tunis
zu finden“, berichtet ein Arzt im Krankenhaus von Kef, der 45.000 Einwohner
zählenden Provinzhauptstadt inmitten riesiger Weizenfelder. Dass sich auch
in der dünn besiedelten Kornkammer Tunesiens und trotz Temperaturen von bis
zu 40 Grad innerhalb weniger Tage Tausende Menschen mit der Deltavariante
infiziert haben, erstaunt auch viele Experten.
Auch in Kef wurden Patienten aller Altersgruppen mit Atemnot auf dem
Parkplatz vor der örtlichen Klinik behandelt. „Oder besser gesagt
zwischengeparkt, denn wir hatten weder genügend Beatmungsgeräte noch
Sauerstoff“, so der Arzt, der aus Angst um seinen Job anonym bleiben
möchte.
Noch dramatischer waren die Videoaufnahmen eines Arztes im Krankenhaus
Charles Nicolle in Tunis. Vor dem größten öffentlichen Krankenhaus der
Stadt spielen sich jeden Tag Dramen ab. Mit seinem Mobiltelefon
dokumentierte ein Arzt die gespenstische Stille auf der Intensivstation –
weder staatliche Medien noch die wenigen unabhängigen Medienplattformen
hatten über die an ein Kriegsgebiet erinnernden Zustände berichtet, denen
Patienten und das medizinische Personal ausgesetzt sind. Die Aufnahmen
zeigen: Auf dem Boden liegen Verstorbene neben auf Beatmung wartenden,
hustenden Patienten und an einfache Beatmungsgeräte angeschlossenen
Schwerkranken.
Auch Diplomaten berichten zunehmend frustriert über die sture und noch nach
den Regeln der französischen Kolonialzeit arbeitende Bürokratie im Land.
Einige der dringend benötigten Materialien seien erst nach mehreren Monaten
abgeholt worden oder waren vom tunesischen Zoll festgehalten worden,
berichten mehrere Beteiligte der taz.
## Frustrierte Menschen steigen in die Boote nach Italien
Für den 25. Juli haben nun mehrere Bürgerinitiativen zu einem Protest vor
dem Parlament aufgerufen. „Nehmt euch euer Land zurück“ ist das Motto. Die
Parlamentarier sind dann allerdings schon im Sommerurlaub. Und sie waren
zuletzt vor allem mit sich selbst beschäftigt. Seit die säkulare
Oppositionsführerin Abir Moussi von Islamisten der Splitterpartei Karama im
Parlament geohrfeigt und getreten wurde, erscheint sie zu den Sitzungen
medienwirksam nur noch mit Schutzweste und Motorradhelm.
Viele Menschen haben den Glauben an eine Verbesserung der desolaten Lage
aufgegeben und steigen in die Flüchtlingsboote nach Italien. Allein in der
letzten Woche kamen 418 Tunesier auf Lampedusa und Sizilien an, davon 170
Minderjährige, berichtet das Tunesische Forum für wirtschaftliche und
soziale Rechte (FTDS) – eine Rekordzahl, sagt Sprecher Romdhane Ben Amo.
Unter den Bootsflüchtlingen sind immer mehr Minderjährige. Unter-18-jährige
sind eine Garantie für mitreisende Familienangehörige, nicht abgeschoben zu
werden. Doch Schuldirektor Mehrez Tarzim aus der Hafenstadt Zarzis
berichtet der taz, dass auch immer mehr Schüler auf eigene Faust über Nacht
aufbrechen, weil sie nicht daran glauben, auf absehbare Zeit in ihrem Land
ein Auskommen zu finden. Aber er warnt: „Wenn sie nach einigen Jahren in
die Heimat zurückkehren, stehen sie vor dem Nichts.“
19 Jul 2021
## AUTOREN
Mirco Keilberth
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